Interview

"Die Nichtmutter wirkt wie ein Wackelkontakt in der gesellschaftlichen Ordnung"

Nadine Pungs ist studierte Historikerin und Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Weltreisende und Theaterfrau. Und sie ist keine Mutter. Über das "Nichtmuttersein" und seine politische Dimension hat sie nun ein Buch geschrieben. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg hat mit Nadine Pungs über ihr neues Buch gesprochen.   

hpd: "Was haben Sie gegen Kinder, Frau Pungs?" – Hören Sie diese Frage oft?

Nadine Pungs: Schon das eine oder andere Mal, ja. Mein Lieblingsspruch ist aber: "Du musst nur den Richtigen finden" – hier verbinden sich gleich zwei Rollenklischees miteinander; Mann und Kind als Lebenssinn der Frau. Als hinge mein Nichtkinderwunsch vom Mann ab. Zum Glück werden solche Sprüche immer weniger, umso älter ich werde. Und nach meinem Buch traut sich hoffentlich niemand mehr, mich mit so einem Schwachsinn zu behelligen.

Und was antworten Sie, wenn man Ihnen trotzdem noch diese Frage stellt?

Früher habe ich versucht, mich zu erklären, habe die Vorteile der gewollten Kinderlosigkeit aufgezählt, musste mich rechtfertigen. Doch mir sind derlei Diskussionen zu müßig geworden. Wenn mir heute wieder jemand die Frage stellt: "Warum haben Sie keine Kinder?", antworte ich: "Meine Katze ist allergisch."

Sie haben sich bewusst dazu entschieden, nicht Mutter zu werden. Wann wurde Ihnen klar, dass Sie keine Kinder haben möchten?

Als ich drei Jahre alt war bekam ich, wie so viele kleine Mädchen, eine Babypuppe geschenkt. Letztlich zeigt so ein Spielzeug ja, welchen Platz das Mädchen später in der Gesellschaft einnehmen soll. Und auch schon damals überfiel mich Unbehagen. Die Babypuppe hatte keine Haare, dafür Speckröllchen aus Kunststoff. Sowie man sie auf den Kopf stellte, weinte sie, und sie starrte mich aus ihren großen Glasaugen vorwurfsvoll an. Ich fand sie hässlich, geradezu unverschämt in ihrer Forderung, mich um sie kümmern zu müssen, obwohl ich das nicht wollte. Ich legte das Baby in meine Spielzeugkiste und schloss den Deckel. Trotzdem dachte ich noch viele Jahre lang, irgendwann Mutter werden zu wollen. Weil das die Norm war und ist. Und weil ich Angst hatte, ein Nichtmuttersein zu bedauern. Denn so lautet ja das Mantra: Du wirst es bereuen! Es brauchte einige Zeit, bis ich meiner Überzeugung wirklich trauen konnte. Und nein, ich bereue nichts!

Es gibt ja eine ganze Menge möglicher Gründe, warum Menschen sich gegen Kinder entscheiden. Es gibt grundsätzliche philosophische Erwägungen, warum es besser ist, keine Kinder zu haben – es sei hier der Antinatalismus genannt. Es gibt auch Überlegungen, ob angesichts des Klimawandels und schwindender Ressourcen ein Verzicht auf Kinder ökologisch sinnvoll sein könnte. Es gibt aber auch einfach die Unlust, Kinder aufzuziehen und die damit einhergehenden Einschränkungen in Kauf nehmen zu müssen. Was waren bei Ihrem persönlichen Entschluss die entscheidenden Gedanken?

Ich bin kein Antinatalist. Antinatalismus kann zwar ein individueller Entschluss sein, er darf jedoch nie zur Forderung erhoben werden. Wir erinnern uns an die Ein-Kind-Politik in China. So wird nämlich aus der persönlichen Entscheidung, ein Kind zu bekommen (oder nicht), eine moralische, gar eine ideologische. Nein, jeder Mensch sollte das frei entscheiden können, aber ich wünsche mir, dass sich jeder und jede mit einem etwaigen Kinderwunsch kritisch auseinandersetzt. Will ich wirklich Kinder, oder will ich Kinder wollen? Möchte ich Mutter/Vater werden, weil meine Freunde Eltern sind? Weil ich nicht alleine sein kann? Weil ich jemanden haben will, der mich liebt?

Ein Kind hat das Recht, um seiner selbst Willen gewollt zu sein. Es ist kein Lückenbüßer, sondern ein Lebewesen, das mitunter achtzig Jahre auf diesem Planeten verbringen wird und ein menschenwürdiges Leben führen soll. Für mich waren das durchaus relevante Punkte, mich für ein Nichtmuttersein zu entscheiden. Aber der eigentliche Grund ist, dass in mir rein gar nichts nach Mutterschaft gedrängt hat. Wenn ich Babys sehe, schießt mir weder die Milch ein noch rückt meine Stimme eine Oktave höher. Ebenso vehement weigere ich mich übrigens auch, die "coole Tante" zu mimen; ein Kompromiss, der kinderlosen Frauen da hin und wieder angetragen wird. Aber ich will keine Tante sein, ich will derlei Zuweisung nicht, nur damit ich doch wieder über Kinder definiert werde. Es kann für Frauen Wichtigeres geben.

"Jeder Mensch sollte das frei entscheiden können, aber ich wünsche mir, dass sich jeder und jede mit einem etwaigen Kinderwunsch kritisch auseinandersetzt."

Nun sind Sie ja nicht einfach nur ein Mensch, der sich gegen das Kinderhaben entschieden hat, sondern Sie sind ein weiblicher Mensch. Geht die Gesellschaft anders um mit Frauen, die keine Kinder haben (wollen), als mit Männern, die keine Kinder haben (wollen)? Oder anders gefragt: Unterscheidet sich Nichtmuttersein von Nichtvatersein?

Ich denke schon, ja. Dass Vaterschaft ein zwingendes Element des Mannseins sei, hört man zwar mitunter, doch weniger nachdrücklich. Männer sind dafür einem anderen Druck ausgesetzt. Sie müssen als "Beschützer" herhalten, müssen potent sein, berufliche Leistung erbringen. Großes Thema, das mehr Beachtung verdient. Aber sie werden weniger mit Kindern oder deren Aufzucht assoziiert. Die Wörter "Vaterglück", "Rabenvater" oder "Vatertier" gibt es nicht. Von den 2,5 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland sind 83 Prozent Frauen. Offenbar gehören Kinder automatisch zur Mutter.  Oder erinnern wir uns an die Lockdowns während der Coronakrise. Wer musste einen Großteil der Sorgearbeit übernehmen und sich um Homeschooling und Kitas kümmern? Es waren hauptsächlich Frauen. Sie sind angeblich für die Brutpflege verantwortlich.

Als Annalena Baerbock, Mutter von zwei Töchtern, im Jahr 2021 als Kanzlerkandidatin der Grünen antrat, ereiferte sich sogleich ein Teil der Republik und der Medien, ob sich Kanzlerschaft und Mutterschaft überhaupt vereinbaren ließen. Frauen werden Fragen gestellt, die Männern nie gestellt würden. Wer hat sich eigentlich jahrzehntelang um die Kinder von Friedrich Merz gekümmert? Und wenn sich dann eine Frau gegen ihre angeblich "natürliche" Bestimmung richtet und sich gegen Reproduktion entscheidet, erregt sie Misstrauen. Immer noch.

Warum, denken Sie, ist das so?

In der Regel sind wir alle ja aus einer Frau herausgekommen, und deshalb wird seit Jahrtausenden die weibliche Sexualität kontrolliert. Die Frau galt ja als Ackerland, aus dem die Sprösslinge erwuchsen. So konzipierte es schon Aristoteles in seiner Geschlechterlehre. Der Mann zeugte, die Frau empfing. Noch heute heißt es: "Sie ist schwanger mit seinem Kind." Oder: "Er hat ihr ein Baby gemacht". Die Frau jedoch "macht" keine Kinder, sie "schenkt" sie bloß. Nur gab es damals ein Problem, quasi einen Fehler im System, nämlich die Möglichkeit, dass der Mann ein Kuckucksei ins Nest gelegt bekam. "Mater semper certa est", besagte das römische Recht: Die Mutterschaft ist stets gesichert. Die Vaterschaft hingegen nicht, weshalb ein verheirateter Mann nolens volens der Vater aller Kinder seiner Ehefrau zu sein hatte. Es ist die Angst vor der Potenz der Frau. Vor ihrer produktiven Kraft. Die Unsicherheit der Paternität könnte also die Eizelle des Patriarchats gewesen sein. Und so bleibt die Reproduktionsungerechtigkeit das Kernproblem weiblicher Selbstbestimmung. Bis heute. Weibliche Körper müssen weiterhin reglementiert werden. Dafür reicht ein Blick in unsere Gesetzgebung mit Paragraf 218 StGB, der Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert. Was kaum jemand weiß: Verfassungsrechtlich besteht in Deutschland grundsätzlich eine "Rechtspflicht zum Austragen". Ja, Pflicht! Das hat das Bundesverfassungsgericht 1993 klargestellt. Ich darf nur Sex haben, wenn ich bereit bin, jeden Embryo auszutragen, der dadurch entstehen könnte. Ich frage mich oft, wie unsere Gesetzgebung aussehen würde, könnten auch Männer schwanger werden.

Eigentlich ist es doch erstaunlich, dass Nichtmuttersein gesellschaftlich als etwas so Außergewöhnliches gilt. Denn es haben doch recht viele Frauen keine Kinder.

2018 war jede fünfte Frau in Deutschland im Alter von 45 bis 49 kinderlos, gewollt oder ungewollt. Im Westen mehr als im Osten, in der Stadt häufiger als auf dem Land. Auf eine Frau kommen im Schnitt bloß eineinhalb Kinder. Ihre Frage ist deshalb absolut richtig: Warum werden Frauen also immer noch mit Kindern verknüpft, wo doch ein Fünftel von ihnen in Deutschland kinderlos bleibt, viele sogar gewollt? Vielleicht weil zwischen Entscheidungsfreiheit und Erwartungshaltung eine Kluft liegt, die der zivilisatorische Fortschritt bisher nicht zu überbrücken vermochte. Und da in der Bundesrepublik trotzdem noch vier von fünf Frauen im Laufe ihres Lebens mindestens ein Kind bekommen, wirkt die Nichtmutter wie ein Wackelkontakt in der gesellschaftlichen Ordnung. Laut einer Umfrage des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2020 halten 63 Prozent der ungewollt Kinderlosen Mutterschaft für ein notwendiges Element des Frauseins. Fortschritt hin oder her.

"Die Unsicherheit der Paternität könnte (...) die Eizelle des Patriarchats gewesen sein. Und so bleibt die Reproduktionsungerechtigkeit das Kernproblem weiblicher Selbstbestimmung. Bis heute."

Übrigens muss ich beim Thema "Mutter/Nicht-Mutter" immer wieder darüber schmunzeln, dass über Jahrzehnte die bekanntesten und prägendsten Mutterrollen im deutschsprachigen Fernsehen von Nicht-Müttern gespielt wurden: Inge Meysel in "Die Unverbesserlichen", Marie-Luise Marjan als Mutter Beimer in der "Lindenstraße" oder Thekla Carola Wied in "Ich heirate eine Familie". Kann es sein, dass unser kollektives Bild von Müttern und Mutterschaft eher ins Reich der Fiktion als in das der Realität gehört?

Ebenso Renée Zellweger, glücklich kinderfrei. Ihre Leinwandfigur Bridget Jones allerdings wird im letzten Teil "Bridget Jones' Baby" (2016) schwanger und heiratet. Endlich ist sie erwachsen geworden und trinkt nicht mehr alleine Rotwein vor dem Fernseher. Diese Art der medialen Darstellung haben wir viel häufiger als das Modell der unbemannten, unbekinderten und deshalb glücklichen Frau. Auch der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde oft ihre Kinderlosigkeit vorgeworfen. Und trotzdem nannten viele Deutsche sie bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft halb spöttisch "Mutti" und verwiesen dadurch eine erfolgreiche Politikerin auf den Platz, den sie einer Frau einzuräumen bereit waren. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird hingegen niemals als "Vati" bezeichnet, obwohl er eine Tochter hat. Oder schauen Sie sich Instagram an. Zwar lese ich rundumher von "Empowerment", trotzdem promoten weibliche Stars und Mamafluencer die stinklangweiligen Rollenbilder von anno dazumal, weil sie durch ihre Mutterschaft angeblich froher und tiefgründiger werden. In den Siebzigern und Achtzigern versteckten sie noch ihre Babykugeln, heute gehören sie zum Image, man wird erschlagen mit Bäuchen. Eine bizarre Retraditionalisierung vollzieht sich da. Zwar hat das Mutterbild in den letzten Jahrzehnten einige Updates erfahren, aber es zeigt sich weniger progressiv, als ich erhofft habe. "Kinder, Küche, Kirche" wurde abgelöst durch "Kinder, Karriere, Körper". Die passenden Pflegeöle, Lippenstifte und Massagebürsten gibt es gleich dazu. Das Mutterbild wird also weiterhin glorifiziert, das reale Mutterdasein immer noch diskreditiert. Mental Load und Altersarmut inklusive. Was für ein Druck!

Mich ärgert außerdem, dass so wenig alternative Lebensentwürfe aufgezeigt werden. Es gibt kaum prominente und sichtbare Vorbilder für das Nichtmutterglück. Dabei sind da durchaus Frauen, die nicht wollen. Wie Oprah Winfrey, Ashley Judd, Sarah Silverman, Hella von Sinnen, eben Renée Zellweger, Kim Cattrall, Helen Mirren, Dita von Teese, Anastacia, Ruth Moschner, Alexandra Kamp, Ellen DeGeneres. Sie alle bekennen sich öffentlich zu ihrer glücklichen Nichtmutterschaft. Bitte mehr davon!

Kommen wir zur politischen Dimension des Themas. Wir leben im 21. Jahrhundert. Insbesondere von männlichen Kommentatoren in den Sozialen Medien ist immer wieder zu lesen, dass Frauen in der Gesellschaft doch längst mit Männern gleichberechtigt wären. Doch nicht nur beim Kinderkriegen und den damit verbundenen beruflichen Nachteilen hört die Gleichberechtigung definitiv auf, sondern auch beim Nicht-Kinderkriegen. Weder bei Schwangerschaftsabbrüchen noch bei Sterilisationen wird Frauen offensichtlich genug geistige Reife zugetraut, über ihren eigenen Körper entscheiden zu dürfen.

Richtig. Ich habe ja eben bereits über unsere Gesetzgebung gesprochen. Ja, bei uns wurde endlich der unsägliche Paragraf 219a StGB abgeschafft, der Ärzten verbot, "Werbung" für Schwangerschaftsabbrüche zu machen, was bedeutete, dass selbst sachliche Information unter Strafe stand. Die Rechtslage ändert sich für Frauen, die abtreiben wollen, jedoch nicht. Sie werden weiterhin kriminalisiert und stigmatisiert. Laut heutigem 218a StGB bleibt die Abtreibung nur straflos, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist, sie vergewaltigt wurde oder wenn sie sich von einer staatlich anerkannten Beratungsstelle hat beraten lassen, drei Tage Bedenkzeit vergangen sind und der Schwangerschaftsabbruch innerhalb eines bestimmten Zeitraums vorgenommen wird. Rechtswidrig bleibt die letzte Beratungsvariante trotzdem. Und was würde passieren, sollte unsere Bundesregierung in ein paar Jahren nach rechts rutschen? Was geschieht dann? Das macht mir Sorge.

"Warum werden Frauen also immer noch mit Kindern verknüpft (...)? Vielleicht weil zwischen Entscheidungsfreiheit und Erwartungshaltung eine Kluft liegt, die der zivilisatorische Fortschritt bisher nicht zu überbrücken vermochte."

"Vergesst nicht", hatte bereits Simone de Beauvoir vorausgesagt, "es genügt eine politische, ökonomische oder religiöse Krise – und schon werden die Rechte der Frauen wieder infrage gestellt. Diese Rechte sind niemals gesichert." Ein Blick in die USA bestätigt Beauvoirs These. Dort hat der Supreme Court vor Kurzem das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche gekippt, das seit 1973 bestand. Es gibt kein grundsätzliches Recht mehr abzutreiben. Wir müssen aufpassen, dass uns so etwas nicht ebenfalls blüht, deshalb bin ich für die ersatzlose Streichung der Paragrafen 218 und 219 aus dem Strafgesetzbuch. Deutschland sollte Vorbild sein, erst recht, wenn andere Länder wieder Rückschritte machen.

Dann das Thema weibliche Sterilisation; finden Sie mal einen Arzt, der Frauen unter dreißig Jahren sterilisiert, obwohl sie ab achtzehn dürften. "Sie werden es bereuen", kommt dann als Erklärung, als wären wir zu blöd, selbst entscheiden zu können.

Die Frage, die ich mir immer wieder stelle, ist, wie es sein kann, dass wir Frauen uns in den vergangenen Jahrzehnten politisch und gesellschaftlich so viel erkämpft haben, dass wir aber – wie sich an solchen Dingen zeigt – irgendwie noch immer nicht als wirklich vollwertige Menschen wahrgenommen werden. Unsere Körper sollen noch immer staatlich überwacht werden, um es mal überspitzt auszudrücken. Ich habe auf diese Frage bis jetzt keine Antwort gefunden. Haben Sie eine?

Das ist eine verdammt schwierige Frage. Und es stimmt ja. Die Handlungsspielräume der Frauen haben sich in den letzten Jahrzehnten massiv ausgedehnt. Die der Männer nicht im gleichen Maße. Zugespitzt formuliert: Eine Frau im Anzug ist mittlerweile normal, ein Mann im Ballkleid nicht. Ich glaube, es hängt nach wie vor größtenteils mit unserer Fähigkeit zur Reproduktion zusammen, warum wir nicht vollends gleichberechtigt sind. Ohne unseren Leib kein neues Leben. Doch wenn wir Kinder haben, droht uns Altersarmut. Die Schriftstellerin Rachel Cusk drückte es so aus: "Geburt und Mutterschaft sind der Amboss, auf dem die Ungleichheit der Geschlechter geschmiedet wurde." Ich denke, da liegt sehr viel Wahrheit drin.

Sie sprachen ja eben schon von dem Backlash, den es in einigen Ländern des Westens wie den USA oder auch Polen gegeben hat, wo Frauen Schwangerschaftsabbrüche inzwischen komplett unmöglich gemacht werden sollen. Was schätzen Sie, wie sich die Situation von Frauen und ihren reproduktiven Rechten zukünftig entwickeln wird?

Vielleicht sind das die üblichen Rückzugsgefechte, die mit Wachstumsschmerzen einhergehen. "Die Reizbarkeit des Verlierers nimmt mit jeder Verbesserung zu, die er bei anderen bemerkt", sagte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Und es gibt ja immer beides: Fortschritt und gleichzeitig Rückschritt. Die Frage ist, was davon ist stärker? Landen wir in einer Dystopie wie in Margaret Atwoods "Report der Magd" oder geht es vorwärts? Ich glaube und hoffe, dass es gesamtgesellschaftlich vorwärts geht. Wir gehören zu jener Generation, die den höchsten Freiheits- und Lebensstandard der Menschheitsgeschichte erleben darf. Viele Türen, die jahrhundertelang verschlossen waren, stehen nun sperrangelweit offen. Aber wir müssen aufpassen, dürfen nicht nachgeben und somit den Rückwärtsgewandten das Feld überlassen. Wie Beauvoir sagte: unsere Rechte sind niemals gesichert.

Apropos Zukunft: Menschen, die Kinder haben, erhoffen sich ja, dass sie im Alter von ihren Kindern gepflegt werden, oder dass sich die Kinder wenigstens um all die Dinge kümmern, mit denen man selbst als alter Mensch vielleicht nicht mehr so gut zurechtkommt. Wie stellen Sie sich Ihr Alter vor?

Ja, das ist ein sehr seltsamer und egoistischer Wunsch, den ich nie verstanden habe. Ich glaube außerdem nicht, dass all die 731.000 Menschen, die in deutschen Altersheimen hocken – viele davon überaus einsam –, tatsächlich keine Kinder haben. Vielmehr sind sie mutterseelenallein, weil ihre Kinder keine Zeit, kein Interesse oder keine Kraft für sie aufbringen können.

Was mich betrifft: Ich habe Angst, dass ich im Alter meine Eigenständigkeit verliere. Aber ich habe keine Angst, im Alter einsam zu sein. Wer in Würde vergreisen will, sollte Vorkehrungen treffen, auch finanziell, und darf sich eben nicht auf seine Sippe oder den Staat verlassen. Hier schließt sich übrigens der Kreis: wir sprachen heute ganz viel über körperliche Selbstbestimmung. Die wünsche ich mir auch, wenn es um mein Ende geht. Sollte es nötig sein, so möchte ich selbst entscheiden können, ob, wann und wie ich diese Welt verlasse. My body, my choice. Bis zum Schluss.

Leider mussten wir die Kommentarfunktion zu diesem Interview vorzeitig sperren, da die Kommentare mit Sex- und Dating-Angeboten überschwemmt wurden. Das Foto einer Frau zusammen mit dem Stichwort "Mutter" scheint entsprechende Spam-Bots stark anzuziehen. – Die hpd-Redaktion, 15.08.2022

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