Vor knapp zwei Wochen starb die 22-jährige Iranerin Mahsa Amini, mutmaßlich durch die Hand der iranischen Sittenpolizei (der hpd berichtete). Ihr Verbrechen: den Hijab in der Öffentlichkeit nicht richtig getragen zu haben. Sie ist eines von zahlreichen Opfern des bestialischen iranischen Überwachungsapparats, dem das Regime erst kürzlich ein Update mit chinesischer Soft- und Hardware spendierte. Dieser digitale Despotismus muss uns als dringende Mahnung gelten, warum Medien nichts in den Händen des Staates verloren haben.
Ende letzten Jahres berichtete die Zeitschrift technologyreview über eine höchst seltsame Geschäftspartnerschaft: Die iranische Revolutionsgarde soll Software und Kameras zur Gesichtserkennung von der chinesischen Firma Tiandy gekauft haben. Der Bericht geht auf eine Recherche der US-amerikanischen Forschungsgruppe IPVM zurück, die 2020 gewisse Bekanntheit erlangte, nachdem sie in Zusammenarbeit mit der Washington Post enthüllte, dass die Firma Huawei Gesichtserkennungssoftware zur Identifizierung uigurischer Menschen entwickelt.
Während Huawei noch immer jeden Einsatz der eigenen Technologie in Xinjiang leugnet, sind sich Expert*innen jedoch ziemlich sicher, dass die – weitestgehend als fehlerbehaftet bezeichnete – Soft- und Hardware der Firma Tiandy tatsächlich zur Unterdrückung der uigurischen Bevölkerung genutzt wird. Nun hat das iranische "Moralministerium", dessen vollständiger Name "Ministerium zur Förderung der Tugend und Vermeidung des Lasters" lautet, eine 119-seitige Broschüre veröffentlicht, die ausführt, wie der Bevölkerung mit überwachungstechnologischen Mitteln ein neues Verständnis für islamische Moralphilosophie eingehaucht werden soll.
Crackdown, Crackdown, alles muss versteckt sein
Während das digitalpolitisch schläfrige Deutschland wieder einmal versucht, sich die Vorratsdatenspeicherung europarechtskonform zu träumen, macht uns der Iran vor, welch dystopisches Potential Soziale Netzwerke und Gesichtserkennung bergen. Wie die Exil-Journalist*innen von Iranwire erklären, ist die neue Moralverordnung durchsättigt von Misogynie und einem rückwärts gerichteten Geschichtsverständnis. So sind unter anderem Haftstrafen für alle Personen vorgesehen, die die Hijab-Pflicht online auch nur ansatzweise infrage stellen.
Weiterhin führt das Dokument explizit aus, dass Überwachungs- und Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt werden soll, um "unzüchtige Frauen" zu identifizieren, zu überwachen und im Zweifelsfall an eine "Beratungsstelle" zu verweisen. Wie diese Form der Beratung wohl aussieht, könnte man Mahsa Amini fragen, wäre sie nicht vorher in Polizeigewahrsam gestorben.
Du bist nicht paranoid, wenn sie an jeder Ecke Kameras aufstellen
Besondere Aufmerksamkeit allerdings verdient die Argumentation der iranischen Revolutionsgarde hinsichtlich der Frage, wie man dieser regelrechten Flut an gesellschaftszersetzendem Säkularismus beikommt. Das Dokument enthält ein "Pathologie" genanntes Kapitel, das sich mit der Frage beschäftigt, warum die Mehrheit der iranischen Frauen eigentlich gegen die Hijab-Pflicht ist und sich etwa drei Viertel der gesamten iranischen Bevölkerung eine "globalistischere" Politik wünschen – und zieht daraus wahrlich hanebüchene Schlüsse.
So kommt das "Moralministerium" in seinem Papier zu dem Ergebnis, dass die steigende Ablehnung rigoroser religiöser Regeln primär ein Produkt ihrer mangelhaften Durchsetzung ist. Die Sittengesetze hätten ihre "abschreckende Wirkung" verloren, moniert das Moralministerium, und klagt darüber, dass Gefängnisstrafen und Auspeitschungen ausblieben.
Es ist stellenweise beinahe peinlich, mit welch kindischer Unreflektiertheit das "Moralministerium" sich als Opfer von Sabotage aus den eigenen Reihen betrachtet. Es wird geschimpft über lokale Verwaltungen, die die Kleidungsvorschriften als sekundär betrachten würden und sich zu einer "oppositionellen Kraft" entwickelt hätten. Es werden Anweisungen erlassen, doch bitte darauf zu achten, dass auch humanitäre Akteure wie Unicef oder die WHO sich den Sittenrichtlinien zu unterwerfen hätten. Auf eine beinahe groteske Weise wird klar, wie weit dem iranischen Regime die Hoheit über die öffentliche Meinung bereits aus den Händen geglitten ist.
Aus genau diesem Grund kommt es nun erneut zu hartem Durchgreifen und Massenverhaftungen. Aus genau diesem Grund werden Millionen investiert, um den öffentlichen Raum mit Kameras zuzupflastern und jede Bewegung der Bürger*innen in den Sozialen Netzwerken zu verfolgen: Es ist die ultima ratio eines scheiternden Staats, der seine zunehmend schwindende Autorität nur noch durch die Eskalation von Gewalt sichern kann. Und genau diese Unberechenbarkeit ist der Grund, warum Medien nicht in staatliche Hand gehören.
Die USA sind das aktuellste Beispiel dafür, dass Demokratien eine per Definition labile Angelegenheit sind. Eine jede tolerante Gesellschaft kann, in der Theorie, von Intoleranz unterwandert und umgedreht werden, wenn sie keine Mechanismen dagegen entwickelt. Das ist, was wir unter einer "wehrhaften Demokratie" verstehen: Eine, die Grenzen setzt. Eine, die sagt: "Bis hierhin, aber nicht weiter."
Doch diese Dinge muss man sagen können. Es bedarf eines Sprachrohrs, und diese sind im 21. Jahrhundert häufig digital. Eine jede freie Gesellschaft, die sich ihrer Feinde zu erwehren gedenkt, muss also zuallererst sicherstellen, dass niemand den medialen Apparat missbrauchen und steuern kann – keine privaten Firmen, keine dubiosen Einzelpersonen und erst recht keine Regierungen.
6 Kommentare
Kommentare
Roland Weber am Permanenter Link
Wie kann man auf die Idee kommen, dass der Iran ein sterbender Staat sei? - Nach Sinn und Bedeutung?
Dass jeder religiös geprägte Staat aus sich heraus ein gefährlicher Staat ist, dürfte sich von selbst verstehen. Aber ein Staat stirbt nicht und ist auch nicht sterbend! Er geht vielleicht unter, in dem er von einem anderen erobert wird, aber selbst bei einer Revolution stirbt der Staat als solcher nicht (Frankreich 1789 oder Russland 1917) sind auch nicht „gestorben“. Auch Deutschland mit dem verlorenen 2.Weltkrieg nicht.
Dass gegenwärtig gewaltige Unruhen entbrannt sind, wird berichtet, aber damit kann man gerade aufgrund der immer noch bindenden religiösen Wurzeln gewiss noch nicht von „(Ab-)Sterben“ sprechen.
Ich hätte auch so meine Zweifel, ob man sich wünschen sollte, dass irgendein Staat im Nahen Osten „stirbt“ bzw. sich auflöst. Dort, wo Staatlichkeit weitgehend durch ausländische Mächte destabilisiert oder ausgeschaltet wurden, wurden die Freiräume nie mit etwas Besserem gefüllt - siehe Afghanistan oder ganz Nordafrika.
A.S. am Permanenter Link
Ich halte den Begriff "sterbender Staat" für unglücklich. "Sterbendes Regime" wäre m.E. treffender.
Klassisch der Fall, wenn die Obrigkeit sich allzuviel herausnimmt (Korruption, Privilegien, Unterdrückung).
Roland Weber am Permanenter Link
Egal, ob Staat oder Regime ... Wichtiger wäre es allemal, dass sich die Feministinnen einmal gegen den Islam überhaupt positionieren! Da wird sich angepasst und gar bei GElegenheit dann ein Kopftuch getragen!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Der Iran ist kein Staat sondern ein einziges Gefängnis mit den Bürgern als Häftlingen.
A.S. am Permanenter Link
Zitat: "...dass niemand den medialen Apparat missbrauchen und steuern kann – keine privaten Firmen, keine dubiosen Einzelpersonen und erst recht keine Regierungen."
Stimmt. Aber auch keine ÖRR-Apparatschiks, die ihre Jobs im Medienapparat missbrauchen, um ihre persönlichen Ansichten zu verbreiten.
Der Staat hat zwei große Apparate, um das Volk zu indoktrinieren: Die Schulen und die öffentlichen Medien.
Nimmt man die Religionen (im Sinne des Pakts von Thron und Altar) hinzu, sind es sogar drei Kanäle, über die Propaganda und Volksindoktrination erfolgen können.
Diese drei Kanäle müssen einerseits unabhängig von der Regierung oder anderen mächtigen Organisationen gehalten werden, andererseits dürfen sie auch kein antidemokratisches Eigenleben entwickeln.
Das antidemokratische Eigenleben darf bei den Religionen als der Normalfall gelten.
Wenn sich die öffentlich-rechtlichen Medien einen moralischen Volkserziehungsauftrag anmaßen, liegt auch hier ein antidemokratisches Eigenleben vor. So zumindest meine Meinung.
wolfgang am Permanenter Link
Warum diese Aufregungn? Haben wir doch alles schon selbst gehabt und es wird auch in einigen Ländern so bleiben, Aufklärung zwecklos, wenn die Angst der Männer vor Frauen