Ein boomender Markt zwischen Glaube und Geschäft

Indien im Bann des spirituellen Tourismus

Pilgerreisen sind weltweit ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Orte wie Santiago de Compostela, Rom, Mekka oder Kathmandu ziehen jährlich Millionen Gläubige an – religiöse Mobilität sorgt für ökonomische Impulse. Besonders Indien erlebt derzeit einen massiven Boom im Bereich des sogenannten "spirituellen Tourismus". Städte wie Varanasi, Rishikesh, Ayodhya oder Prayagraj verzeichnen einen stetig wachsenden Zustrom von Besuchern – ein Wandel, der Teil einer nationalen Identitätsbildung und ökonomischen Strategie ist, aber in Europa kaum wahrgenommen wird.

Im Zentrum dieser Entwicklung steht das Kumbh Mela ("Fest des Kruges"), das als größtes religiöses Fest der Welt gilt. Zuletzt fand es Anfang 2025 in Prayagraj statt. Laut einer offiziellen Erklärung des Informationsministeriums nahmen rund 400 Millionen Menschen daran teil – eine Zahl, die selbst im Hinblick auf indische Maßstäbe spektakulär erscheint. Die hinduistischen Rituale werden rotierend an vier heiligen Orten durchgeführt – neben Prayagraj auch in Haridwar, Nashik und Ujjain. Das Ereignis zieht Millionen von Anhängern, Asketen und spirituellen Führern an, die im Ganges oder in anderen heiligen Flüssen wie Godavari oder Shipra ein rituelles Bad nehmen, da sie glauben, dadurch von Sünden gereinigt und vom Kreislauf von Leben und Tod befreit zu werden.

Investitionen in das Seelenheil

Indiens Regierung investiert gezielt in diesen Sektor. Der spirituelle Tourismus soll Wachstumstreiber für Infrastruktur, Gastgewerbe und Immobilienmärkte sein. "Das Maha Kumbh ist ein bedeutender Motor für den religiösen Tourismus und zog einen beispiellosen Zustrom nationaler wie internationaler Besucher an. Das schiere Ausmaß der Veranstaltung unterstreicht Indiens Position als globales Zentrum für religiösen und kulturellen Tourismus", heißt es in einer Erklärung des Wirtschaftsministeriums. Das erklärte Vorhaben: Indien als weltweit führende Destination für Pilgerreisen zu etablieren – wo Glaube und wirtschaftlicher Aufschwung Hand in Hand gehen und gleichzeitig die nationale Identifikation gestärkt wird.

Pilgerorte wie Varanasi, Ayodhya, Rishikesh, Amritsar, Dwarka und Prayagraj ziehen Investoren an, ebenso wie in- und ausländische Touristinnen und Touristen. Die Nachfrage nach Hotels, Resorts, Meditationszentren, Wellness-Einrichtungen und Yoga-Retreats ist enorm. Neue Gastgewerbebetriebe entstehen, um den Zustrom zu bewältigen. Dank der verbesserten Infrastruktur und der zunehmenden globalen Sichtbarkeit verwandeln sich diese Städte in ganzjährige Reiseziele. Die Mischung aus traditionellem Ritual und modernem Komfort formt ein "spirituelles Gesamterlebnis", das besonders jüngere Generationen anspricht.

Es sind gewaltige Summen im Spiel: So wurden in Ayodhya zehn Milliarden US-Dollar investiert, um den von Premierminister Narendra Modi am 22. Januar 2024 eingeweihten Ram-Mandir-Tempel zu einem neuen spirituellen Zentrum samt neuem Flughafen, erweitertem Bahnhof und touristischer Infrastruktur auszubauen. Allein dieses Beispiel verdeutlicht das Potenzial der heiligen Städte Indiens und die großen Auswirkungen auf Gastronomie und Immobilienpreise. Seriöse Wirtschaftsprognosen gehen davon aus, dass bis 2030 rund 100 Millionen befristete und unbefristete Arbeitsplätze in Indiens spirituellem Tourismussektor geschaffen werden.

Wellness, Wirtschaft – und Widersprüche

Was einst als Reise älterer Gläubiger galt, spricht heute auch junge Inderinnen und Inder sowie westliche Sinnsuchende an. Zwischen Askese und Ayurveda, Fasten und Fitness verschwimmt die Grenze zwischen Religion, Erholung und Esoterik. Der spirituelle Tourismus macht inzwischen rund 60 Prozent der Inlandsreisen in Indien aus – eine markante Verschiebung im Reiseverhalten.

Doch dieser Boom hat auch Schattenseiten: Die massive Kommerzialisierung heiliger Stätten führt vielerorts zur Verdrängung der lokalen Bevölkerung, zu steigenden Immobilienpreisen und einem Verlust kultureller Authentizität. Was als spirituelle Erfahrung vermarktet wird, gerät zunehmend zum religiösen Eventbetrieb mit VIP-Zonen für die Elite und religiösem Merchandise. Die enge Verbindung von Glauben, Politik und Tourismus wirft kritische Fragen auf. Großprojekte wie der Ram-Mandir-Tempel in Ayodhya dienen nicht nur der Infrastrukturentwicklung, sondern auch der nationalistischen Selbstinszenierung der Regierung – insbesondere in Bezug auf den Hinduismus als identifikationsstiftendes Narrativ.

Auffällig ist, wie wenig diese tiefgreifende religiöse Dynamik außerhalb Indiens – insbesondere in Europa – Beachtung findet. Während sich Indien zunehmend als globales Zentrum spiritueller Erneuerung positioniert, bleibt der westliche Blick meist auf ökonomische, geopolitische oder technologische Entwicklungen fixiert. Die religiöse Dimension des gesellschaftlichen Wandels – und ihr konkreter Einfluss auf Politik, Infrastruktur und kollektive Orientierung – bleibt weitgehend ausgeblendet, obwohl der Glaube im bevölkerungsreichsten Land der Welt längst zu einem strukturierenden Prinzip staatlichen Handelns und einem zentralen Machtfaktor geworden ist.„"

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