BERLIN. (hpd) Einen Tag vor der Abstimmung im Deutschen Bundestages über die Sterbehilfe konnte der Humanistische Pressedienst mit Ludwig A. Minelli, dem Gründer von Dignitas, ein Interview führen.
hpd: Herr Minelli, ihr Name wird vor allen mit der Schweiz verbunden und damit, dass Menschen den Tod suchen, weil sie nicht mehr leben wollen oder können. Ist das schwierig für Sie?
Ludwig A. Minelli: Nein. Der Tod gehört zum Leben, genauso wie die Geburt. Wenn Menschen ihr Ende aus vernünftigen Überlegungen vorziehen wollen, dann habe ich dafür Verständnis und es ist ihr gutes Recht.
Die Aufgabe von Dignitas ist eine doppelte. Erstens ist zu klären, wie dringlich dieser Wunsch tatsächlich ist. Ist es der freie Wille dieses Menschen? Ist es eine vorübergehende Erscheinung, oder ist es geradezu Symptom einer Krankheit?
Und die andere Aufgabe, die Dignitas hat, wenn es zur Freitod-Begleitung kommt, ist, dafür besorgt zu sein, dass das Ziel, auf das dieser Mensch zustrebt, sicher und ohne Risiken, in würdiger und legaler Weise erreicht werden kann, so, dass Familienangehörige und Freunde dabei sein können.
Es gibt Gegner der Aufgabe, derer Sie sich angenommen haben und die Sie als notwendig ansehen.
Ich orte die Gegner im medizin-pharmazeutisch-klerikalen Komplex. In Deutschland befinden sich 1/3 sämtlicher Krankenhäuser- und Pflegeeinrichtungsbetten in den Händen der beiden Großkirchen. Das Suizidgeschehen in Deutschland wird nur zum kleinsten Teil wahrgenommen. Es wird nur gerade noch so knapp wahrgenommen, dass in Deutschland 2013 sich – amtlich festgestellt – 10.276 Suizide ereignet haben.
Aber niemand fragt danach, wie viele Suizidversuche gibt es, wie viele Suizidversuche scheitern und mit welchen Folgen –, und was das alles die Volkswirtschaft kostet.
Eine solche Berechnung gibt es in der Schweiz. 2001 erfolgte eine parlamentarische Anfrage an die Schweizer Bundesregierung. Aus der dazu geäusserten Antwort vom 9. Januar 2002 ergaben sich amtliche Angaben zu den Größenordnungen von Suizidversuchen.
Die Antwort der Bundesregierung hält fest, es habe in der Schweiz damals jährlich etwa 1.350 Suizide gegeben. In der Wissenschaft werde davon gesprochen, die Zahl der Suizidversuche sei 10 bis 20 mal so groß. Es lägen sogar Forschungsergebnisse des "National Institute for Mental Health" in Washington DC vor, in denen davon gesprochen wird, das in Industriestaaten die Zahl der Suizid-Versuche ermittelt werden müsse, indem die Zahl der festgestellten Suizide mit dem Faktor 50 multipliziert wird. Das bedeutet, dass von 50 Suizidversuchen einer gelingt aber 49 scheitern! Es sind die gescheiterten Suizidversuche, die oft mit schweren Schädigungen des Suizidenten enden und die, wie auch die vollendeten Suizide, häufig auch mit Auswirkungen auf Dritte einhergehen. Man müsste somit vor allem darauf abzielen, die Zahl der Suizidversuche zu verringern.
Die Schweizerische Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO) hat in der Folge einem hervorragenden und investigativ arbeitenden Journalisten, Peter Holenstein, den Auftrag erteilt, zu ermitteln, was die Schweiz das Suizidgeschehen pro Jahr insgesamt kostet.
Holenstein hat dazu alle denkbaren Stellen befragt, die über Daten verfügen. Er kommt in seiner Studie mit dem Titel "Der Preis der Verzweiflung" zu Kosten von mindestens 2,4 Milliarden Schweizer Franken in einem Jahr. Das sind etwa 5 Prozent der gesamten Gesundheitskosten der Schweiz. Vor allem schlagen dabei die Kosten der Suizidversuche zu Buche.
Dazu kann man sich ein Beispiel vorstellen: ein 20-Jähriger will sich erschießen, weil er seine Freundin verloren hat, und er schießt sich in den Kopf, aber er schießt sich "nur" zum Hirngeschädigten, und nun muss er 60 Jahre lang in einer Institution betreut werden. Das gibt enorme Kosten.
Nach einem misslungenen Suizidversuch aufgefundene Menschen werden in aller Regel einige Wochen oder Monate in Psychiatrien versorgt.
Ich erinnere mich an einen Anruf eines 21-jährigen aus Niedersachsen. Er sei drei Monate in einer Anstalt wegen Suizidalität eingesperrt gewesen, jetzt habe man ihn entlassen, und er sagte mir am Telefon, er wolle sofort sterben!
Ich fragte: "Jaaaa, und weswegen?" Er habe das Abitur gefälscht. Man habe es nicht bemerkt. Das Diplom sei nun für ihn wertlos; er versage bei einer Berufsausbildung als Speditionskaufmann; er verstehe die Geschäftsvorfälle nicht, die er zu bearbeiten habe; auch an allen anderen Dingen habe er jegliches Interesse verloren. Am besten wäre es, er könnte sofort sterben, teilte er mir mit.
"Ja", habe ich ihm dann gesagt: "wenn Sie Zeit haben, trampen Sie mal hier her, dann reden wir drüber”". Um es abzukürzen: Er war damals fünf Tage mein Gast. Er lebt. Ich habe ihn kürzlich besucht.
Dass die Frage der gescheiterten Suizidversuche überhaupt nicht angefasst wird, ist Absicht. Wir haben die Schweizer Zahlen auf Deutschland umgerechnet. Im Jahr 2013 wurden 10.276 Suizide verzeichnet. Wenn wir diese nun nach der amerikanischen Studie mit 50 multiplizieren, liegt die Anzahl der Suizidversuche in Deutschland bei über einer halben Million. Das bedeutet, dass jedes Jahr bis etwa 490.000 Suizidversuche in Deutschland scheitern. Genauer weiß man es leider nicht. Die Weltgesundheitsorganisation geht von einer niedrigeren Zahl von über 20 Mal mehr Suizidversuche als statistisch erfassten Suiziden aus. Aber auch dann sind es noch immer über 200.000 Suizidversuche, von denen rund 190.000 scheitern.
Doch was sagt Frank Ulrich Montgomery, der Präsident der Bundesärztekammer?
Professor Montgomery behauptet mathematisch genau, es seien 'nur' 100.000, und damit hat es sich. Ob es nun 100.000 sind oder 500.000 sind – jeder einzelne Suizidversuch ist einer zuviel. Doch niemand fragt, wie deren Zahl zu verringern wäre. Wohl werden für viele Millionen Euro Netze an Brücken und Zäune entlang Bahnlinien gebaut – das gesellschaftliche Problem der hohen Zahl von Suizidversuchen ist damit aber nicht an der Wurzel angepackt.
Doch wenn ich das noch zu Ende führen darf…
wir haben auch den Kostenaspekt des Suizid-Geschehens der Schweiz auf Deutschland umgerechnet und festgestellt, dass das Suizid-Geschehen Deutschland im Jahr ungefähr 78 Milliarden Euro kostet. Das sind aber auf der anderen Seite eben auch 78 Milliarden Euro Einnahmen. Für wen? Ärzte, Malteser, Transporte, Psychiatrische und andere Pflegeheime, die Pharma-Industrie; Menschen werden nach einem Suizidversuch in den Kliniken mit Pharmaka behandelt. Kürzlich habe ich in der Schweiz das wieder in einem konkreten Fall erlebt. Ein Mann wird eingeliefert, er hat versucht, sein Haus anzünden, und ohne dass eine medizinische Diagnose gestellt worden wäre, werden ihm Psychopharmaka verabreicht. Das geschieht in Deutschland nicht anders.
Es sind diese Kreise, die Kirche, die im Krankenhausbereich enorm viel Geld verdient, und alle anderen Einrichtungen, die da teilhaben, insbesondere die Pharma-Industrie: die haben ein natürliches Interesse daran, dass diese Umsätze nicht reduziert werden.
Solche Überlegungen sind es auch, wenn Sterbehilfe im Sinne begleiteter Suizide abgelehnt werden: Gäbe es in Deutschland denselben Prozentsatz begleiteter Suizide wie in der Schweiz – nämlich ungefähr 1 % der Sterbefälle – macht eine solche Reduzierung bereits einen Umsatz-Rückgang von 300 Millionen Euro aus, wenn man nur annimmt, dadurch würde die Liegedauer bei jedem dieser Patienten in einem Krankenhaus um nur einen Monat verringert. Diese Einnahmen möchten sich die vorgenannten Kreise aber erhalten. Genauso wird das Suizid-Geschehen nicht angesprochen und nicht diskutiert.
Mir macht man den Vorwurf, ich brächte Zahlen, die in keiner Weise erhärtet wären. Wenn die staatlichen statistischen Ämter nicht bereit sind, diese Zahlen zu eruieren, dann muss die Gesellschaft hinnehmen, dass Private nach bestem Wissen und Gewissen auf sich nehmen, die Zahlen einigermassen zu erforschen, um sich ein wirkliches Bild von der Situation machen zu können. Man hätte die Zahlen von Holenstein verifizieren oder aber widerlegen können. Beides ist nicht geschehen: Nur nicht dran rühren!
Ihre Schilderung, Herr Minelli, ist für mich erst einmal verblüffend. Sie gründeten vor 17 Jahren in der Schweiz „Dignitas“, einen Verein, der nicht vom Gedanken der Verhinderung von Suiziden ausgeht, sondern für Sterbehilfe steht, um Menschen mit Suizidgedanken unter bestimmten Bedingungen zu helfen, ihr Leben zu beenden.
Der zweite Teil des Gesprächs wird in der kommenden Woche im hpd erscheinen.
1 Kommentar
Kommentare
Frank Spade am Permanenter Link
Es ist unbefriedigend ein Interview als Fortsetzunggeschichte vorgesetzt zu bekommen und wirklich ungeschickt diesen Teil mit einer Frage enden zu lassen. Man muss mich nicht ködern den Rest lesen zu wollen.