Europawahl 2014

Warum ist Europa wichtig? (11)

Viele Themen sind hier heute aus humanistischer Sicht relevant. Während der vergangenen Jahre und vor allem in den letzten Monaten gab es auf der europäischen Ebene wiederholt Angriffe auf Grundrechte, wie ich eben schon kurz anführte. Sie rühren daher, dass die vorhandenen Krisen politisch und religiös extremistischen und ebenfalls populistischen Strömungen überall neuen Auftrieb verliehen haben. Wir sehen das ja auch in Deutschland. Nationalistische und fremdenfeindliche Haltungen haben sich wieder in ganz Europa verbreitet. Demokratische Verhältnisse, Frauen- und Minderheitenrechte, Gleichbehandlungsgesetze oder auch die Forschungsfreiheit gehören zu ihren Zielen. Hier müssen wir auch in Zukunft zusammenstehen.

 

Gibt es denn für eine solche humanistische Europapolitik überhaupt schon institutionelle Voraussetzungen?

Wenn wir uns unvoreingenommen ansehen, was in dieser Hinsicht bereits in den Verträgen verankert ist, werden wir positiv überrascht: Auch wenn die Europäische Kommission bisher diese Instrumente einseitig im Sinne einer Bevorzugung der christlichen Kirchen genutzt hat, gibt es grundsätzlich Instrumente für einen kontinuierlichen Dialog der europäischen Institutionen mit den Weltanschauungsgemeinschaften in Europa. Hier geht es vor allem darum, durch beharrliche Arbeit durchzusetzen, dass diese Instrumente im Sinne einer völligen, diskriminierungsfreien Gleichbehandlung aller Weltanschauungsgemeinschaften angewendet werden, die auf dem Boden der modernen Menschen- und Bürgerrechte stehen.

Gerade als Vertreter des organisierten Humanismus dürfen wir nicht vergessen, dass mit dem Europarat ein wichtiges, in der deutschen Öffentlichkeit unterschätztes Instrument zur Durchsetzung einer umfassenden Politik zur Verfügung steht, das tatsächlich gesamteuropäisch zu wirken in der Lage ist. Angesichts der gegenwärtigen Gefahren einer erneuten Aufspaltung des europäischen Kontinents in nicht mehr miteinander kommunizierende Blöcke ist dies eine wertvolle Ressource, die im Sinne einer humanistischen Politik in Europa unbedingt weiter genutzt und gestärkt werden muss.

 

Engagieren sich Deutschlands Humanisten, Atheisten, Freidenker usw. zu wenig auf europäischer Ebene?

Darin unterscheiden sie sich leider nicht von den allermeisten Deutschen, die von der gegenwärtigen Bundesregierung ja auch in der Illusion bestärkt werden, dass alles Wichtige in Deutschland geschieht und die europäische Politik keine eigenständige Bedeutung hat. Das ist aber ganz offensichtlich falsch, auch wenn es wiederum Kanzlerin Angela Merkel ist, die als durchsetzungsstarke europäische Politikerin den Umgang mit der Finanzkrise oder mit den gegenwärtigen Krisenprozessen zwischen Nord- und Süd-Europa oder im Verhältnis zu Russland managt. Wer glaubt, dass dies vom deutschen Bundestag wirksam kontrolliert wird, der kann genauso gut auch noch an den Osterhasen und den Weihnachtsmann glauben!

Ganz wesentliche Zukunftsfragen – beispielsweise die gesamte Netzpolitik oder die Handelspolitik – werden längst auch offiziell auf der europäischen Ebene verhandelt und entschieden. Als Demokraten müssten sich gerade die Humanisten und Humanistinnen große Sorgen machen darüber, dass auch in der Europapolitik wirkliche demokratische Beteiligung zu Stande kommt. Dass kann nicht allein durch die Regierungen im Ministerrat und die von einer europäischen Minderheit gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments geleistet werden. Gerade die deutschen Humanistinnen und Humanisten sollten am Aufbau einer europäischen Zivilgesellschaft mitwirken, die auf Dauer – als Ergänzung der repräsentativdemokratischen Formen – allein die Qualität der demokratischen Mitwirkung an der europäischen Politik gewährleisten kann.

Allerdings gehören diese Dinge zu den großen Herausforderungen, von deren Komplexität sich die Bürgerinnen und Bürger im Alltag schnell erdrückt fühlen können. Sich auf die europäische Ebene zu begeben, kann aber schon im Kleinen beginnen: Indem man sich klarmacht, in welchem politischen und kulturellen Rahmen man sich als Person mit humanistischen und konfessionsfreien Überzeugungen befindet, und dass die hier geteilten Ideen und Positionen eine wertvolle Besonderheit darstellen.

In so gut wie allen EU-Staaten hat sich in den letzten Jahren gezeigt, wie fragil das humanistische Projekt Europa unter dem Druck der multiplen und voraussichtlich noch länger andauernden Krisenlagen geworden ist. Die europäische Ebene zu betreten, hieße wohl nicht nur, von der Notwendigkeit und vom Wert der vorhandenen Zusammenarbeit zu wissen, sondern auch eine Haltung einzunehmen: sich nicht als isoliertes Individuum zu sehen, sondern eben als Europäer und als verantwortlicher Angehöriger einer großen, länderübergreifenden und vielfältigen Kulturgemeinschaft. Und das ist doch immer möglich.

Das Interview führte Corinna Gekeler

In der hiermit abgeschlossenen Interview-Serie zur Europawahl erschienen:

Sophie in ´t Veld: Europa-Abgeordnete der niederländischen linksliberalen D66 und Vorsitzende der Europäischen Plattform für Säkularismus in der Politik (EPPSP)

Dr. Margret Steffen: Gewerkschaftssekretärin für Gesundheitspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung und Expertin für gewerkschaftliche Europapolitik

Werner Hager: Sprecher der Säkularen Grünen NRW, der sich insbesondere mit Europapolitik befasst

Elfriede Harth: Katholische Feministin, die sich für sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung engagiert

Conny Reuter: Generalsekretär von SOLIDAR, Co-Präsident der Liasion-Gruppe der europäischen Netzwerke beim Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss  und bis 2013 Präsident der Europäischen Sozialplattform.

Rob Buitenweg:  Vorstandsvorsitzender des Nederlands Humanistisch Verbond und im Vorstand der European Humanist Federation (EHF).

Karin Heisecke: Aktivistin zu sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung, insbesondere auf europäischer Ebene.

Dr. Klaus Sühl: Leiter des Brüssel-Büros der Rosa Luxemburg Stiftung und ehemaliger Vorsitzender vom Humanistischen Verband Deutschland

Ulrike Lunacek: Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament und deren Spitzenkandidatin für die Europawahl sowie Vizepräsidentin und außenpolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament. Und Ko-Präsidentin der Intergroup on LGBT Rights

Andreas Kyriacou: Präsident der Freidenker-Vereinigung Schweiz (FVS)

 

Illustration: © Evelin Frerk