Im Juli dieses Jahres wollte Martin Sellner, der führende Kopf der rechtsextremen sogenannten Identitären Bewegung (IB), in Marburg auf Einladung einer Burschenschaft einen Vortrag halten. Es gab es zwei gut besuchte Demonstrationen gegen seinen Auftritt; dieser fand dann in einem – allerdings kleinen – Nachbarort (Gladenbach) hinter verschlossenen Türen statt. Die Berichterstattung betonte zwar, dass Sellner von anständigen Bürgern abgelehnt wird, aber was genau er eigentlich sagt beziehungsweise schreibt, konnte man nicht erfahren.
Daher lieh ich mir von der Universitätsbibliothek sein Buch "Identitär! – Geschichte eines Aufbruchs" (2017; vergriffen) aus. So konnte ich – aus einer liberalen Grundhaltung heraus, die keine Abstriche an unserer demokratischen Grundordnung wünscht – unmittelbar entscheiden, was von seinen Ideen zu halten ist.
Vorbemerkungen
Das Dilemma bei einem Autor wie Sellner ist, ob man ihm bei dem, was er schreibt und sagt, in allem folgen mag oder von vorneherein vermutet, dass nicht alles so gemeint sei, wie es da steht oder gesagt wird. Bei mir ergab sich der Eindruck, dass Sellner weitgehend schreibt, was er denkt. Wichtig ist allerdings, zu bilanzieren, worüber vom Autor nichts gesagt wird. So kommen zum Beispiel hinsichtlich des Flüchtlingsthemas relevante Begriffe wie Unterdrückung, Folter und Hunger und Namen wie Baschar al-Assad im Buch nicht vor. Was Fakten-Aussagen angeht, so wird dem kritischen Leser gegebenenfalls zugemutet, selber nachzuforschen, da das Buch keinerlei Literaturhinweise enthält oder andere Quellen angibt. Ein Beispiel: Seine glorifizierende Schilderung einer Aktion in der Serviten-Kirche in Wien (welche seit Wochen von Flüchtlingen ohne Bleiberecht besetzt war), mit der die Identitäre Bewegung Österreichs (IBÖ) 2013 auf sich aufmerksam machte. Es war recht mühsam, herauszufinden, dass die nachfolgende Behauptung (S. 43) so nicht zutrifft: "Die von den Medien zu modernen 'Christussen' stilisierten Asylanten entpuppten sich wenig später als gewerbsmäßige Schlepper und Kriminelle." Bei mindestens einem weiteren Punkt ist die Darstellung unzutreffend.
Im Folgenden will ich das Buch etwas charakterisieren, allerdings ohne auf das Thema "Remigration" genauer einzugehen. Man kann versuchen, sich dazu im Schnellverfahren eine Meinung zu bilden, indem man sich neben dem, was Internetrecherchen auf Anhieb erbringen, auch mal anschaut, was die AfD darüber sagt (die uns auf ihren Webseiten über die "Remigrationslüge" belehrt). Wer sich für die originale Darstellung seitens der Identitären Bewegung Deutschland (IBD) interessiert, findet diese online.
Die Anfänge der IB
Nachdem Sellner schon einige Zeit mit ähnlich Gesinnten viel über das diskutiert hatte, was von manchen als "Überfremdung" durch Migranten bezeichnet wird, löste 2012 bei ihm und seinen Freunden ein Besuch in Poitiers bei französischen Aktivisten – der Génération Identitaire – große Begeisterung aus. Diese jungen Franzosen hatten eine Baustelle für eine Moschee besetzt. Es ging damals nicht darum, eine Moschee zu verbieten, weil in ihr – wie in der Blauen Moschee in Hamburg – Botschaften verkündet wurden, die gegen Grundsätze einer demokratischen Gesellschaftsordnung verstoßen. Vielmehr hatten diese Aktivisten wie Sellner und ja auch manch andere Leute das Gefühl, dass Moscheen einfach "nicht hierher gehören". Seit damals ist er sozusagen von der Berufung erfüllt, zu verhindern, dass im Laufe weniger Jahrzehnte in Österreich und Deutschland (wohl auch in der Schweiz, die er insgesamt jedoch weniger im Blick hat), eine überwältigende Mehrheit von Muslimen das Leben aller BürgerInnen dominieren werde (was der Autor das ganze Buch hindurch immer wieder beschwört).
Welche intellektuellen Grundlagen reklamiert die IB für sich?
Sellner, Jahrgang 1989, hatte schon einige Jahre vor Abfassung seines ersten Buches ausgiebige Diskussionen in studentischen Kreisen geführt, die sich für "die Neue Rechte" interessierten. "Eine Faszination für die Werke von Alain de Benoist und Guillaume Faye, von Nietzsche, Spengler und Jünger vereinte uns. Die Idee einer 'Kulturrevolution von rechts' war unsere große Vision." Sein ganzes Buch ist großzügig mit bekannten Namen wie Hannah Arendt, Georges Bernanos, Martin Heidegger, Immanuel Kant, Wladimir Iljitsch Lenin, Herbert Marcuse, Friedrich Nietzsche, Peter Sloterdijk garniert. Oft werden allerdings nur Einzelsätze formelhaft zitiert wie zum Beispiel "Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild" (S. 216; von M. Heidegger). Genaueres erfährt man meistens nur zu einigen rechts-intellektuellen Autoren, die als maßgeblich für die Entwicklungen der eigenen Ideen und ihre Umsetzung angesehen werden (wie z.B. A. de Benoist). Aber auch von Kommunisten wie Lenin oder Antonio Gramsci holt man sich Anregungen. So inspiriert gelangt Sellner zu seiner geistig-politischen "Analyse" der gesellschaftlichen Situation und zur Festlegung der Ziele, um die es gehen müsse, sowie der Methoden, die zu ihrer Verwirklichung führen sollen.
Um welche "Probleme" geht es?
Als "Konservative" und "Patrioten" stellten sich Sellner und sein Kreis die Frage "Was war der geistige Hintergrund von Multikulti, Masseneinwanderung und Islamisierung? Welche Ideologie bestimmte das Handeln der Eliten?" und antworteten: "Als wahren Gegner orteten wir die Ideologien des Egalitarismus und des Universalismus, die Gleichmacherei der Globalisierung, die Dampfwalze, die im Namen von 'Fortschritt, Menschheit und Weltfrieden' alle Völker und Kulturen, Grenzen und Differenzen planierte, um eine Einheitswelt zu hinterlassen" (S.9). Nachdem hier also so manches, was getrennt zu beurteilen wäre, in einem Topf verrührt worden ist, hören wir sozusagen das Evangelium, das über dieses Buch (und weitere) verbreitet werden soll: "Dagegen stellten wir eine neue Idee: den Ethnopluralismus. Wir wollten einen Planeten der tausend Völker, Kulturen ..., der Raum für viele Wahrheiten, Identitäten und Geschichten bieten sollte" (S.9). Um das zu erreichen, müssten nur "Multikulti", "Masseneinwanderung" und "Islamisierung" wieder beseitigt werden...
Zentrale Positionen
Mit der "alten Rechten" wollte man sich nicht verbünden, denn hier störten "das Fehlen jeder echten Strategie, das Missverständnis über das Wesen der politischen Macht, der Hang zur Gewalt und zum Militarismus…" (S.11). Kritisiert werden zum Beispiel auch "der Haß auf Staat und Polizei"; "das Fehlen jeder echten Selbstkritik". Und: "Wir sahen in Nationalsozialismus und Faschismus einen Teil der Probleme der Moderne und keine gescheiterte Lösung" (S. 11). Man merkt: Neben einiger Plumpheit der Sprache findet man in diesem Buch gelegentlich auch raffinierte Formulierungen, die mehr auf Klang als auf Inhalt angelegt sind.
Nachdem dann endlich "Identitär" als neues, rechtes Alleinstellungsmerkmal aus der Taufe gehoben worden ist, geht es weiter in Richtung Aktionen. Zuvor aber noch ein Hinweis: Sellner und Freunde trafen im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Frankreichbesuch den unter anderem als Pegida-Redner bekannten Götz Kubitschek (übrigens Leiter des Verlages Antaios, in dem "Identitär!" erschien). Ihm gilt Sellners ganze Bewunderung. Ich vermute, dass dieser Verweis auf Kubitschek (sowie einige Gleichgesinnte) auch dazu dient, sich im Buch zu vielen Themen der heutigen rechtsextremen Szene einfach bedeckt zu halten.
Der Weg zum Erfolg
Durch sehr genau durchdachte und mühevoll einstudierte Aktionen soll das "Problembewusstsein" in der breiten "Masse" gestärkt und eine "De-Legitimierung" von gängigen politischen Leitlinien vor allem in der Flüchtlingspolitik gefördert werden. Dazu dienen auch gezielte Störungen von Aktivitäten der "Linken" (ein im Buch sehr, sehr weit gefasster Begriff...) und von öffentlichen Veranstaltungen (z.B. einer Theatervorstellung). Bei den äußerst sorgfältigen Vorbereitungen brauche man allerdings einen sehr langen Atem. Nötig sei ein strenges Führer- und Gefolgschaft-System. Ohne eiserne Disziplin der Beteiligten, aber auch immer wieder einzulegende Erholungspausen der Aktivisten werde es nicht gehen. Wie ein Mantra wird zudem immer wieder – und auch glaubhaft – betont, dass man sich mit "offenem Visier" zeigen und auf jede Gewalt verzichten müsse. Ausdrücklich und ausführlich beruft man sich dabei zum Beispiel auf Gandhi. So werde es auch gelingen, in einem guten Lichte zu stehen und einen pointierten Kontrast zu jenen Linksradikalen zu bieten, die immer wieder vermummt und gewalttätig "antifaschistisch" agierten und – so Sellner – von den Medien viel zu nachsichtig behandelt würden.
"Metapolitik"
Nun muss noch einiges ergänzt werden zur identitären "Wahrnehmung" unserer Gesellschaft. Sellner hat sich eine Theorie zurechtgelegt, die unter "Metapolitik" (ein Begriff, der z.B. bei A. de Benoist zu finden ist) firmiert: Egal ob in Österreich oder Deutschland, – die traditionellen politischen Eliten, die höheren Hierarchien der Verwaltung und der Justiz sowie "die" Presse seien durchtränkt von einer "linken" Sichtweise, die diesen oft kaum bewusst sei. Das führe letztlich auch zu dem ganzen Unheil, das es aufzuhalten gelte. Statt hier in die Einzelheiten zu gehen, dürfte es nützlicher sein, darauf hinzuweisen, dass vor allem Viktor Orbán als jemand gepriesen wird, der dies erkannt habe und angetreten sei, hier umzusteuern. Bei uns gebe es jedoch noch immer eine alles durchdringende linke "Hegemonie", unter der unsere Länder noch immer ächzten: "Sie hat einen unwürdigen Zustand erzeugt, der meiner Ansicht nach nicht mehr demokratisch genannt werden kann. Der Begriff 'sanfter Totalitarismus' ist meiner Ansicht nach die beste Beschreibung dafür" (S. 132). Zu dessen Bekämpfung müsse natürlich auch das Internet mit geeigneten Inhalten von Social Media genutzt werden.
Visionen
Bisher wurde nur auf das eingegangen, was mir für die politische Beurteilung von Sellner und den "Identitären" besonders relevant erscheint, aber dies macht nicht den größten Teil des Buches aus. Viele Seiten sind zum Beispiel dem Problem gewidmet, wie man hinreichend viele Aktivisten (die -Innen kommen kaum vor) bei der Stange halten kann (s.o.). Ferner malt sich Sellner für 2040 ein Szenario aus, in dem der sogenannte "Große Austausch" nahezu beendet ist: Muslime seien nun in der Überzahl und bestimmten darüber, wie sich "indigene Europäer" zu verhalten haben (seine kleine Tochter müsse nun ein Kopftuch tragen...). Gegen Ende dürfen wir dann aber den ersten Tag nach der "Reconquista" (dem endgültigen Sieg der extremen Rechten; man hofft: schon im Jahr 2032...) miterleben: Sellner erfreut sich an der Schlagzeile einer Tageszeitung: "Remigration nach Eritrea – letzte Illegale verlassen Europa" (S. 258). Die veröffentlichte Meinung habe sich über Jahre hinweg immer mehr der öffentlichen (d.h. der Meinung der lange Zeit schweigenden Mehrheit) angepasst dank alternativer Medien, die den bisherigen Journalismus etc. an die Wand drückten... "Breitbart, Tichys Einblick, PI-News, Compact und viele andere bildeten ein Konsortium, das alle Versuche der Zensur oder des Werbeboykotts abblockte und sich am freien Markt durchsetzte".
Und: "Die Mitte-Rechts-Regierungen, die in fast ganz Europa an die Macht gekommen waren, hatten es Orbán nach gemacht" (S. 259). Nicht nur das – es wird sogar neue Feiertage geben, vermutlich mindestens einen in Österreich zum Gedenken an die Schlacht gegen die Türken am Kahlenberg bei Wien (23.09.1683), die von Sellner (S. 167) als das Verdienst einer von der Regierung im Stich gelassenen, mit letzten Reserven gegen eine Übermacht kämpfenden Gruppe glorifiziert wird. Eine Parallele von historischer Bedeutung sei heute die Hingabe einer aktiven Minderheit "im Einsatz für unsere ethnokulturelle Identität, im Kampf gegen Multikulti".
Soweit dieses Zukunfts-Kasperle-Theater. Als Bilanz ergibt sich, dass die "Vision" solch einer Zukunft auf eine autoritär regierte, illiberale und von allem, was Leute wie Sellner stört, gereinigte Gesellschaft hinausläuft. Der Weg ins Verderben, aus dem wir wieder herauskommen sollten, habe mit Angela Merkels "Wir schaffen das" begonnen. Unsere Gegenwart wird übrigens als eine gänzlich traurige ausgemalt: Es werden lauter Probleme aufgelistet, die unsere Staaten und Gesellschaften belasten, vom Klimawandel bis zur Zunahme der Dickleibigkeit von Jugendlichen – wobei diese Themen sich nach der "Reconquista" dann anscheinend irgendwie regeln werden...
Praktische und moralische Defizite der Identitären Bewegung
Mitglieder und Anhänger der IB wollen nicht zugeben, dass unsere Gesellschaft in den verschiedensten Bereichen – im Handwerk, bei Dienstleistungen etc. etc. – auf leistungsbereite Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen ist und dass hierbei auch nicht auf das Potenzial der als Flüchtlinge zu uns Gekommenen verzichtet werden kann. Weitgehend schwammig und unverbindlich bleiben die Antworten der Identitären zu wirtschaftlicher Fragen. Bei der Bewältigung von Problemen, zu der die große Zahl der bei uns aufgenommenen Flüchtlinge geführt haben, will man sich konzeptionell erst gar nicht beteiligen. Stattdessen träumen die Identitären rückwärts von einer ethnisch und kulturell homogenen Gesellschaft und teilen die Menschen ein in solche, die hierher gehören, und die anderen. Moralisch nicht hinnehmbar ist die Absage an jeglichen universellen Rechts- und Moralanspruch und die damit einhergehende Abwendung von den bisherigen Grundprinzipien der liberalen, pluralistischen Demokratie.
Ausblick
Nach Lektüre dieses Buches stellt sich natürlich die Frage nach dem Stellenwert von Sellner und dessen Anhängern für den Aufstieg der extremen Rechten in Deutschland. Angesichts der großen gegenwärtigen Probleme wie der Terroranschläge in unserem Land, des Ukraine-Kriegs und des Eskalationsrisikos im Nahostkonflikt sowie des bedenklichen Schwächelns unserer Wirtschaft hat die Propaganda von Herrn Sellner heute wohl keine überragende Bedeutung, auch wenn er einige Wortkonstrukte geliefert hat, derer sich die extreme Rechte immer mal wieder bedient. Um die diversen Motive der AfD-Wählerschaft zu verstehen, benötigen wir sorgfältige Analysen. Für wichtige allgemeine wie aktuelle Informationen zu Rechtsextremismus sei abschließend auf die Webseite endstation-rechts.de verwiesen.