Der sexuelle Missbrauch und seine gut eingeübte Vertuschung haben das moralische Fundament der katholischen Kirche erschüttert. Doch während sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf Priester und minderjährige Opfer richtete, blieb ein anderes Kapitel weitgehend unbeachtet: Der sexuelle Missbrauch an Ordensfrauen. Was jahrzehntelang hinter deutschen Klostermauern geschah, wird nun durch eine neue Studie von Barbara Haslbeck erstmals systematisch untersucht – und offenbart eine erschütternde Mischung aus spiritueller Manipulation, Machtmissbrauch und religiöser Doppelmoral.
Sexuellen Missbrauch an christlichen Ordensfrauen gibt es wahrscheinlich so lange, wie es Klöster gibt, aber erst seit mehreren Jahrzehnten liegen detaillierte Berichte vor, welche sexuelle Gewalt Frauen hinter Klostermauern durch Priester und andere Kleriker erfahren haben. Im aufgeklärteren Diskursklima der 1990er Jahre drangen in den USA die ersten schockierenden Berichte und empirischen Untersuchungen an die Öffentlichkeit, die belegten, dass 30 Prozent von 600 befragten Ordensfrauen sexuelle Gewalt erlebt hatten. Betroffene Frauen wurden diskriminiert und stigmatisiert, um die christliche Moralfassade zu wahren. Das Schweigen darüber war Teil des Systems. Ordensfrauen wurden zur Abtreibung gezwungen oder nach der heimlichen Geburt aus dem Kloster gejagt.

In Deutschland, wo der politische Einfluss der Kirchenvertreter groß ist, dauerte es bis ins Jahr 2010, bis der sexuelle Missbrauch in der Kirche öffentlich thematisiert wurde. Im Fokus standen zuerst die ungeheuren Vorfälle am Canisius-Kolleg und anderen Klosterschulen.
Doch während über den Missbrauch an Schülern und Schülerinnen gesprochen wurde, blieb der Missbrauch an Nonnen, die ihr Leben Gott geweiht haben, im Schatten – vergraben unter Scham, Angst und kirchlicher Loyalität. Erst 2019 nahm sich die Arte-Dokumentation "Gottes missbrauchte Dienerinnen" diesem Tabuthema an. Papst Franziskus sprach damals von einem "weltweiten Problem" – ein Eingeständnis, dem keine Taten folgten.
Es fehlte in Deutschland aber eine Analyse, die von den Erfahrungen der betroffenen Frauen berichtet und diese wissenschaftlich einordnet – eine Lücke, die nun die von Barbara Haslbeck herausgegebene Studie "Sexueller Missbrauch an Ordensfrauen im deutschsprachigen Raum" füllt. Der Untertitel: "Ein unterschätztes Phänomen und seine systemischen Bedingungen" deutet den Schwerpunkt an.
Spirituelle Gewalt – Wenn Gott zum Vorwand wird
Barbara Haslbeck, die an der Universität Regensburg Mitglied einer Forschungsgruppe zu "Missbrauch an Frauen in der katholischen Kirche" ist, hat mit 15 betroffenen Ordensfrauen aus 15 verschiedenen religiösen Gemeinschaften ausführlich gesprochen und deren Aussagen katalogisiert und wissenschaftlich ausgewertet. Haslbeck berichtet von der Dramaturgie des Missbrauchs, dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses während der Anfangsphase der Zugehörigkeit zu ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft und der langsamen körperlichen Annäherung, die zu sexueller Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt führte.
Andere Aspekte wie die Ausbeutung von Arbeitskraft lässt sie außen vor. Die von ihren Herkunftsfamilien isolierten Frauen waren diesen Übergriffen meist schutzlos ausgeliefert, "spirituelle Ideale" wie Gehorsam und Hingabe begünstigten die Taten ebenso wie hierarchische Strukturen und die Tabuisierung von Sexualität. Betroffene erzählten, dass die Täter ihre sexuellen Handlungen als Liebe Gottes deklarierten: "Und dann hat er gesagt, dadurch will Gott mir eine besondere Gnade schenken. Gott will mir dann helfen. Er will mich dadurch heilen. Und nur mit Liebe kann man geheilt werden.”
Der Missbrauch erfolgte nicht nur durch den Beichtvater, sondern auch durch andere Ordensfrauen, meist durch die Oberin. Es gab Mitwisser und Helfer, die direkt oder indirekt an den sexuellen Übergriffen beteiligt waren – die Täter und Täterinnen wurden nur selten zur Rechenschaft gezogen. Begünstigt wurden die Straftaten durch abgeschottete Gemeinschaften, deren Mitglieder keinen Zugang zu Zeitungen und anderen Informationsquellen hatten. Eine Interviewpartnerin berichtete von "Gehirnwäsche": "Eine Art systematische, schrittweise Entpersonalisierung. Ein Prozess, in dem ich gelernt habe, mich immer unterzuordnen, nichts zu wollen, nichts zu dürfen." Eine erhellende Studie.
Die Wurzel des Problems: Die katholische Sexualmoral
Die Theologin Haslbeck vertritt die Meinung, dass das Thema in der Kirche "angekommen" sei. Doch angekommen heißt nicht aufgearbeitet. Eine Aufarbeitung ist bis heute nur ein leeres Versprechen, denn die Ursache liegt tiefer – in der strukturellen Verquickung von Macht, Unterwürfigkeit und Sexualtabu, die das katholische System prägen. Eine Kirche, die Sexualität verteufelt, schafft den Nährboden für deren perverse Verzerrung. Die erzwungene Enthaltsamkeit, die Unterordnung unter Autoritäten und das Ideal der "reinen Hingabe an Gott" bilden nicht nur im Kloster ein Klima, in dem Missbrauch gedeihen kann – und in dem Opfer kaum eine Sprache finden.
Solange die katholische Kirche ihre eigene Sexualmoral nicht kritisch hinterfragt, wird sie weiter Täter hervorbringen und Opfer zum Schweigen bringen. Selbstverständlich sind die klerikalen Einzeltäter schuldig und müssen zur Rechenschaft gezogen werden, ebenso wie die schweigenden Mitwisser – aber das Dogma, das Sexualität als Schande und Macht als göttliche Ordnung verklärt, ist der Nährboden, auf dem solche Straftaten gedeihen können.
Barbara Haslbeck, Sexueller Missbrauch an Ordensfrauen im deutschsprachigen Raum, Herder Verlag 2025, 378 Seiten, 58 Euro (als PDF kostenfrei), ISBN 978-3-451-02426-9






