Lale Akgün im Gespräch mit dem hpd

Islam in Deutschland und IS – Was tun?

Anfang September haben Vertreter der Standorte für Islamisch-Theologische Studien in Deutschland in einer Erklärung den ISIS-Terror verurteilt und Deutungen des Islam abgelehnt, “die ihn zu einer archaischen Ideologie des Hasses und der Gewalt pervertieren.” Sie plädieren für eine Islam-Inter­pretation, “aus der sich Humanität, Gewalt­freiheit, Wert­schätzung der Plurali­tät und Respekt für Menschen unge­achtet ihrer Zugehörig­keiten schöpfen lassen.” Und sie betonen, dass die “Deutungs­hoheit über den Islam nicht Extremisten und Gewal­tätern” über­lassen bleiben dürfe. Die Erklärung ist mittler­weile von etwa 90 islamischen Geistlichen und Professoren unter­schrieben worden. Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach diese Stellung­nahme für die muslimische Community in Deutschland?

Ich finde die Stellungnahme prima und bin schon lange der Meinung, dass die Deutungs­hoheit des Islam nicht den Extremisten und Gewalt­tätern über­lassen werden darf, aber auch nicht allein den Ver­bänden des Koordinations­rates der Muslime in Deutschland. Bei den Extremisten und Gewalt­tätern haben wir schnell Konsens, sie sind für alle gleicher­maßen indis­kutabel.

Aber auch der Koordinations­rat darf nicht den Islam in Deutschland dominieren. Wenn er jede Ent­wicklung als eine Nivellierung des Glaubens, als eine Art “Islam light” – wie die Vertreter des Koordinations­rats gerne sagen – kritisiert, wird er zum Toten­gräber des Islam. Ich dagegen bin der Meinung, - und diese Meinung teile ich mit vielen liberalen Muslimen - die Muslime - und nicht nur der Koordinations­rat – müssen das Recht haben, den Islam weiter­zuent­wickeln. Dabei stelle ich nicht die Prinzipien meiner Religion in Frage, aber sehr wohl das Verharren im 7. Jahrhundert. Ich frage mich nicht, was hat der Prophet damals gemacht, ich frage mich, was hätte der Prophet heute gemacht? Das Wort “Verstand” kommt im Koran 49 Mal vor, 49 Mal fordert er uns auf, unseren Verstand einzu­setzen. Und einer der berühmtesten Aus­sprüche des Propheten lautet: “Der Glaube eines Menschen geht so weit wie sein Verstand; der keinen Verstand hat, kann auch keinen Glauben haben”. Dem muss man ja nichts mehr hinzu­fügen, oder?

 

Lale Akün bei der 2. Kritischen Islamkonferenz, Foto: © Frank Nicolai
Lale Akün bei der 2. Kritischen Islamkonferenz, Foto: © Frank Nicolai

Medienberichten zufolge sollen sich rund 400 junge Muslime aus Deutschland im Nahen Osten der Terror­gruppe IS ange­schlossen haben. Sie werden in den Medien - auch seitens der Geheim­dienste - als “Looser” beschrieben: ganz über­wiegend Schul- und Aus­bildungs­abbrecher, extrem niedriger Bildungs­stand, ohne “bürgerliche” Perspektive und viele wohl auch mit einer Drogen- oder Kriminal­karriere. Was tun?

Nebenbei gesagt: Es soll ja auch eine ganze Reihe von gebildeten Muslimen darunter sein. Aber ganz ehrlich: Als Psychologin denke ich, dass man für die, die sich bereits in dieser grauen­vollen Welt befinden, nicht mehr viel tun kann, außer ihre Traumata zu bear­beiten, wenn sie wieder­kommen. Die rest­liche Arbeit kommt der Polizei und dem Verfassungs­schutz zu. Aber wir können einiges dafür tun, dass es keinen weiteren Nach­wuchs in dieser Richtung gibt. Durch Aufklärung, Kontakt­aufnahme und Bildung. Das braucht Zeit und Geld und ist eine Investition in die Zukunft unseres Landes.

 

Bisweilen wird von einer spezifischen Form des Jugend­protestes gesprochen – was halten Sie von einer der­artigen Ein­schätzung?

Nein, das ist völlig falsch und bagatellisiert die Fakten. Jugend­protest heißt, dass die Jugendlichen sich auf­lehnen gegen die Lebens­form ihrer Eltern­generation. Sie wollen anders leben. Für Jugend­proteste stehen Idealismus und romantische Vor­stellungen. Nehmen Sie die vegane Lebens­weise als Beitrag zum Erhalt unseres Planeten oder das Infrage­stellen der Leistungs­gesell­schaft. Derartige Protest­bewegungen ent­wickeln sich aus dem Zeit­geist. Bei den gewalt­bereiten muslimischen Jugend­lichen haben wir es mit einer verführten Gruppe zu tun. Sie werden von Erwachsenen ange­leitet, die ihr Denken in bestimmte ideologische Bahnen lenken und sie zur Gewalt­verherr­lichung verführen.

 

Ist dabei zwischen männlichen und weiblichen Salafisten/Dschihadisten zu unterscheiden?

Ja natürlich, diese Rollen­vor­bilder werden doch vor­gegeben und durch entsprechende Islam-Inter­pretationen gerecht­fertigt.

 

Die Deutsch Türkischen Nachrichten (DTN) haben vor kurzem gemeldet, dass britische Dschihadis­tinnen tausende jezidischer Mädchen und Frauen aus dem Irak zur Prostitution in Bordellen zwingen, Kunden sollen die männlichen ISIS-Kämpfer sein. DTN bezeichnet dies als “perverses Vorgehen” gegen Jeziden.

Das ist natürlich ein wider­licher Vorgang, kann aber sozial­psychologisch erklärt werden.

Diese Frauen, die aus ihrem Leben ausge­brochen sind und sich freiwillig einer völlig frauen­feindlichen Ideologie unter­worfen haben, haben natürlich auch das Frauen­bild dieser Ideologie über­nommen. Das heißt: diese Musliminnen, oft Konvertitinnen, sehen die Welt mit den Augen der ISIS-Männer und behandeln Frauen so, wie diese Männer sie behandeln würden, eigent­lich noch schlimmer.

Religionswechsel ist für die Psyche eines Menschen kein einfacher Schritt. Konvertiten meinen oft, sie müssten sich mit jedem Atem­zug verge­wissern, dass ihre Ent­scheidung richtig war. Deswegen sind sie oft von der neuen Religion über­zeugter als die­jenigen, die in die Religion hinein­geboren sind. Und wenn sie dann – wie im Falle dieser Frauen – zu so einem fanatischen Haufen kommen, müssen sie sogar die noch toppen, um zu beweisen, dass sie wirklich zur Truppe gehören. Und genau das machen diese Frauen.

 

Salafisten haben in der letzten Zeit auch in Deutschland mediale Aufmerk­samkeit durch spektakuläre Aktionen erlangt – zu nennen wäre beispiels­weise das Auftreten der “Sharia-Police” in Wuppertal, auch im Rhein­land soll es ähnliches geben, Aufkleber mit der Aufschrift “Sharia controlled Zone” sind dort in der Umgebung von Moscheen ge­funden worden. Für wie erheb­lich schätzen Sie die Gefahren für die deutsche Gesellschaft ein, die von Salafisten ausgeht?

Ich schätze die Gefahr für die nicht-muslimische Gesellschaft als geringer ein als für die muslimische. Ich denke nicht, das die “Scharia-Polizei” von Nicht-Muslimen ernst genommen wird und auch nicht, dass die Jungs von der “Scharia-Polizei” Druck auf Nicht-Muslime ausüben wollen bzw. damit Erfolg haben.

Meine Sorge ist, dass der konservative Islam in den nächsten Jahr­zehnten den muslimischen Teil der Gesellschaft immer mehr unter Druck setzen und einen Islam nach seinen Vor­stellungen etablieren will. Das würde eine Absonderung von Teilen der Muslime fördern, und damit würde ein Keil in die Gesellschaft getrieben, so dass die Muslime dann immer mehr auseinander driften würden. Aber letzten Endes wären auch gewalt­tätige Aus­einander­setzungen zu befürchten. Die fanatischen Muslime würden zuerst den liberalen Muslimen das Leben zur Hölle machen und dann den Nicht-Muslimen.

 

Könnten zum Dschihadismus tendierende junge Muslime und Musliminnen durch besonders konservative Religions­ange­bote davon abgehalten werden, sich an dem Mord­treiben von ISIS zu beteiligen?

Wieso das denn? Denken Sie, dass besonders konservative Religions­angebote dem radikalen Verständ­nis dieser Gruppe am nächsten kommen? Welche Angebote sollen die Moschee­vereine den jungen Leuten denn machen, wenn sie sich über­haupt nicht mit der Ideologie, die hinter der Gewalt steckt, aus­einander­setzen bzw. aus­einander­setzen wollen, aus­einander­setzen können? Denn bevor Islam­verbände den Weg gehen, der aus der Gewalt heraus­führt, müssten sie sich wohl erst mal den Weg an­schauen, der in die Gewalt hinein­führt! Das aber findet kaum statt. Man begnügt sich mit dem Slogan: Das ist un­islamisch oder: Das hat mit dem Islam nichts zu tun.

Wie sieht denn dieser Weg in die Gewalt aus? Es wird in den Moscheen viel­fach ein Islam propagiert, der mit Angst operiert, mit blindem Gehor­sam und Bestrafung, wenn man nicht folgt. Dazu zählen auch allseits beliebte Vor­stellungen von Sünde. Sie müssten sich mal die Sünden­kataloge der Imame an­schauen. Im Prinzip ist zumeist alles Sünde, was nicht direkt mit dem Glauben zu tun hat. Ganz besonders für Frauen, vom lauten Lachen über kurze Haare bis zu einem Essen bei “Deutschen”. Aber wer stellt diese Kataloge auf? Und vor allem: wie sieht die Bestrafung aus? Da sind wir dann ganz schnell bei der Gewalt!

 

Der Islamismusexperte Admad Mansour aus Berlin, der mit Projekten gegen Radi­kali­sierung von jungen Muslim­Innen befasst ist, vertritt die Aufvfassung, dass Auf­klärung erforder­lich sei und Eltern­arbeit. Er fordert, dass die “Verbände und die Moscheen Verant­wortung und die Inhalte, die von Radikalen instrumentalisiert werden in Frage stellen und ernsthaft diskutieren. Damit meine ich die Angst­pädagogik, Geschlechter­trennung, Tabuisierung der Sexualität und Exklusivitäts­ansprüche.”

Dem stimme ich zu, wie ich ja eben schon angedeutet habe. Das heißt konkret: Die Moschee­vereine und ihre Imame müssen ihr erz­konservatives Islam­verständnis und ihre rückwärts­gewandten Inhalte auf den Prüf­stand stellen. Und sich mit den von ihnen bislang tabuisierten Themen aus­einander­setzen, das betrifft Gleich­berechtigung von Mann und Frau, Umgang mit der Sexualität, Umgang mit Anders­gläubigen, und mit anderen Lebens­formen. Und sie müssen Wege finden, damit zeit­gemäß umzugehen. Glauben Sie mir, danach würde sich die Frage, ob der Islam eine gewalt­tätige Religion sei, ganz schnell erübrigen. Im Klartext: Statt permanent zu wieder­holen, der Islam sei keine gewalt­tätige Religion, müssten die Verant­wortlichen der Islam­verbände mal theologisch nach vorne schauen. Vor allem müssen sich die Islam­verbände und Moschee­vereine mit den universalen Menschen­rechten aus­einander­setzen. Menschen­rechte sind unteilbar. Und es gibt auch keine anderen, durch die Religion relativierten, Menschen­rechte für Muslime – mit anderen Worten: Islamische Menschen­rechts­erklärungen mit Scharia-Vor­behalt sind wertlos.

 

In Niedersachsen plant die Landesregierung Maßnahmen zur Salafismus-Prävention. Sind da ausgerechnet DITIB und SCHURA die richtigen Ansprech­partner?

Ja, wenn man den Bock zum Gärtner machen will, dann sollte man den konservativen Verbänden Steuer­gelder zur Ver­fügung stellen, damit sie Salafismus­prävention machen können. Entschuldigen Sie, aber das kann unter den heutigen Bedingungen doch niemand ernst­haft in Erwägung ziehen, oder?

 

Sie haben in der Vergangenheit wiederholt für einen liberalen Islam plädiert und darauf verwiesen, dass die Mehr­heit der in Deutsch­land lebenden Muslime deutlich weniger traditionell und religiös konservativ einge­stellt seien, als es das öffentliche Erscheinungs­bild der Islam­verbände vermuten lasse. Ist dies auch heute noch Ihre Auf­fassung?

Ja, immer noch. Obwohl die Zahl der religiös-konservativen Muslime in den letzten Jahren zuge­nommen hat, auch durch die politischen Prozesse in der Türkei. Die meisten Muslime in Deutsch­land kommen ja aus der Türkei, und da vor allem aus den länd­lichen Gegenden. Das sind die Menschen, die früher einen All­tags­islam gelebt haben. Durch die Islami­sierung des gesellschaft­lichen Lebens hat sich auch ihre Einstellung zur Religion gewandelt. Trotzdem dürfen wir nicht ver­gessen, dass nur knapp 14 Prozent aller Muslime einem islamischen Verband in Deutschland angehören. Interessant ist auch, dass sich diese Zahlen seit Jahren nicht verändern. Trotz Erdogan und seiner Politik.

Wenn also Politiker mit den Verbands­vertretern sprechen, sollten sie immer im Kopf be­halten, dass diese NICHT für DIE Muslime reden, sondern nur für ihre Community, oder - wie im Falle von DITIB – für die türkische Politik, die dahinter steht!

 

Medial beherrschen die orthodox-konservativen Verbände die Szene und zeigen nicht gerade ein liberales Islam­verständnis. Aber diese Verbände wollen bestimmen - über islamischen Religions­unterricht und dessen Inhalte, über die Aus­bildung und Ein­stellung islamischer Religions­lehrerInnen. Die Politik macht da weit­gehend mit. Stellt diese Entwicklung nicht einen (unzulässigen) Eingriff in die Religions­freiheit von MuslimInnen in Deutschland dar, wenn nur bestimmte (orthodox-konservative) Islam-Vorstellungen in Schulen und Hoch­schulen vertreten werden sollen?

Die orthodoxen Verbände haben sich in der Politik breit gemacht, und mit der Waffe der Idschaza (Lehr­erlaubnis für den islamischen Religions­unterricht) halten sie jetzt die Hoch­schulen und die Schul­ministerien in Schach. Die Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Hoch­schullehrer haben Angst, den Verbänden zu wider­sprechen, weil sie dann die Idschaza verlieren und, wenn sie nur einen zeitlich befristeten Vertrag haben sollten, entlassen werden könnten.

An deutschen Schulen und Universitäten wird heute zumeist ein orthodoxer Islam gelehrt. Denken Sie, was Prof. Khorchide alles wider­fahren ist, nur weil er einiges gesagt hat, was den Verbands­muslimen nicht passte – so etwa, dass auch Nicht-Muslime ins Paradies kommen können. Übrigens, theologisch ein alter Hut, aber für diese ultra­orthodoxen Verbände ein No-Go. Khorchide musste Abbitte leisten, sprach von “Miss­verständnissen”, damit er seinen Posten behalten konnte. Das ist eine sehr traurige Entwicklung.

Wenn der Staat dieser Entwicklung – dass nämlich die konservativen Verbände und nur sie die islamische Aus­bildung von Schülern und Studenten kontrollieren - taten­los zuschaut, dann werden zukünftige Generationen von ewig gestrigen Muslimen an deutschen Schulen und Universitäten staatlich aus­gebildet werden. In wenigen Jahren wird sich diese Entwicklung verselb­ständigt haben – und dann wollen die Verbände von Salafismus­prävention reden? Da lache ich aber laut. Dann heißt es nur noch: “Gute Nacht, Deutschland!”

 

Zum Schluss: Sie werden im Jahr 2013 mit der Bemerkung zitiert: “Es kann auch einen anderen Islam geben; einen auf­geklärten, der den Verstand als Voraus­setzung für den Glauben sieht. Damit dieser Islam sich weltweit etablieren kann, braucht es mehr muslimische Protestanten, die sich gegen den vor­herrschenden konser­vativen Main­stream stellen.” Wo sind in der aktuellen Situation diese “muslimischen Protestanten”? Wo kann man ihre Stimmen hören?

Na, hier. Sie hören ja meine Stimme ganz laut und deutlich.

 

Frau Dr. Akgün, vielen Dank für das Interview.

 

Das Interview führte Walter Otte für den hpd.

 


Mehr von Lale Akgün: u.a. Aufstand der Kopftuch­mädchen. Deutsche Musliminnen wehren sich gegen den Islamismus. Piper, München u. a. 2011 mit einer Besprechung in der ZEIT