Lale Akgün im Gespräch mit dem hpd

Islam in Deutschland und IS – Was tun?

BERLIN. (hpd) Kaum ein Thema sorgt seit Wochen für eine derartige Auf­merksamkeit in den Medien wie der spekta­kuläre Vor­marsch des IS im Nahen Osten. Der Welt­öffent­lichkeit zeigt sich eine brutale Gruppe, die alle Anders­denkenden rigoros verfolgt, barbarisch tötet, und vor religiösen und ethnischen “Säuberungen” und Völker­mord nicht zurück­schreckt. Menschen, die nicht ihrer Ideologie folgen, sind vogel­frei, werden geköpft, gekreuzigt, gehängt, gesteinigt, erschossen. Da, wo der IS die Macht hat, gelten die Menschen­rechte nicht mehr – Barbarei ist all­tägliche Realität in den von IS eroberten Gebieten.

Sie handeln im “Namen des Islam”, sie berufen sich auf den Koran und halten sich für die einzig wahren Muslime. Und sie haben Zulauf, auch von jungen MuslimInnen aus Europa, aus Deutschland, darunter vielen Konver­titInnen. Es ist Konsens unter dem Main­stream der Muslime in Deutschland, dass die IS nicht für den Islam steht. Hilflos steht man aller­dings vor der Frage, ob bzw. wie man die jungen Muslime davon ab­halten kann, nach Syrien oder in den Irak zu reisen, um sich dieser Terror­bande anzu­schließen, oder aber etwa hier­zulande Terror­aktionen zu verüben. Welche Rolle können islamische Organisationen spielen, um gegen Islamismus, Salafismus und Terrorismus anzugehen? Über diese Fragen und über Handlungs­vorschläge, die der­zeit diskutiert werden, hat der hpd mit Lale Akgün gesprochen.

Lale Akgün, in Istanbul geboren, Päda­gogin und Psycho­login, von 2002 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundes­tages und Islam-Beauftragte der SPD-Bundes­tags­fraktion, plädiert seit Jahren für einen liberalen Islam und kritisiert die Politik der orthodox-konservativen Islam­verbände. Diese repräsentierten nur eine Minder­heit unter den Muslimen in Deutschland und wären keines­wegs berechtigt, für “die” Muslime sprechen, die in ihrer großen Mehrheit liberal einge­stellt seien. Lale Akgün sieht große Probleme auf die säkulare deutsche Gesellschaft zu kommen, wenn es den Islam­verbänden auf Dauer gelingen sollte, die Deutungs­hoheit über den Islam zu er­halten, der dann ein aus­schließlich konservativer Islam wäre. Sie sagt: “Es wird in vielen Moscheen ein Islam propagiert, der mit Angst operiert, mit blindem Gehorsam und Straf­androhung bzw. Bestrafung, wenn man nicht folgt.” Sie setzt auf Veränderungen. Das geht aber nur mit den MuslimInnen. Und der Staat darf nicht weiter­hin den konser­vativ –funda­menta­listischen Islam in Deutschland fördern. Sie war zudem Teil­nehmerin der 2. Kritischen Islam­konferenz im Jahr 2013.

 

hpd: Frau Dr. Akgün, die Terroristen der ISIS verüben in Irak und Syrien unsägliche Gräuel­taten im Namen des Islam. Miss­brauchen diese Leute den Islam oder können sie sich auf den Koran und islamische Traditionen berufen?

Natürlich kann man jede Religion miss­brauchen, denn jede Religion bietet den ideologischen Unter­bau zu Handlungen, die man selbst schwer recht­fertigen könnte. Aber wenn man Gott als Kron­zeugen anführt, sieht die Sache schon anders aus. Dann hat man für alles eine über­geordnete Recht­fertigungs­ebene.

Auf der anderen Seite sehe ich, wie Imame predigen und Dinge mit dem Koran ver­teidigen, was vielen Muslimen absurd vor­kommt. Zum Beispiel, dass es nach dem Koran erlaubt sei, dass gefangen genommene Frauen den Männern als Sex­sklavinnen dienen. Und dass ein Mann tausend von ihnen haben darf. Dass es Islam­gelehrte gibt, die das so auslegen, ist leider eine Tatsache.

Das sagt nicht nur ein einzelner Imam, das sagen einige, auf Türkisch, auch mitten in Istanbul. In sozialen Medien ist dies für jeder­mann einseh­bar. Da das so ist, kann man dann sagen, dass diese Imame den Islam miss­brauchen? Es ist ihre Inter­pretation des Islam, auch wenn es mir persönlich absurd erscheint. Ich kann keines­falls sagen, sie miss­brauchen den Islam. Auch diese absurde Art von Frauen­feind­lichkeit ist Terror, Terror gegen Frauen.

 

Sie haben vor kurzem formuliert: “Wenn eine Gruppe im Namen des Islam Menschen umbringt und ganze Land­striche terrorisiert, wie soll man das dann bezeichnen, wenn nicht als islamischen Terror?”

Ob es den Otto Normal­muslimen wie mir gefällt oder nicht: dieser Terror wird argumentativ aus dem Koran abge­leitet, so wie diese Gruppen den Koran ver­stehen. Deshalb nenne ich es “islamischen Terror”.

 

Mittlerweile haben in einigen Ländern Europas und des Nahen Ostens – nach anfäng­lichem Zögern – zahlreiche islamische Geistliche ISIS verurteilt, den ausge­übten Terror als un­islamisch bezeichnet. Auch Fatwen [islamische Gutachten] gegen ISIS sind erlassen worden. Können derartige Erklärungen etwas bewirken und Menschen davon abhalten, sich ISIS anzuschließen oder deren Taten zu befür­worten? Wird man gewalt­bereite Fanatiker damit theologisch beein­flussen können?

Man sollte nicht vergessen, dass jahre­lang häufig in die andere, in die fanatische Richtung gepredigt worden ist. Diejenigen, die die theo­logischen Grund­lagen des fanatischen, ideo­logischen Islam gelegt haben, tragen eine ebenso große Schuld wie die­jenigen, deren Hand das Schwert hält. Sie haben die Saat des Bösen gesät und wundern sich jetzt über das Ausmaß der Gewalt. Sie haben diese einfachen Menschen fanatisiert. Sie haben ihnen weis­gemacht, dass der fanatische Islam der wahre Islam sei. Je fanatischer die Handlung, desto stärker der Glaube. Das heißt dann für viele: jeder Schritt zurück in die Mäßigung ist auch ein Schritt zurück im Glauben.

Das Problem bei Fanatismus ist ja gerade, dass es nie genug ist, dann muss es auch permanent eine Steigerung geben. Deswegen sind auch die ISIS-Leute noch fanatischer als die Taliban. In ihren eigenen Augen sind sie damit die noch besseren Muslime.

Diese Gefahr ist von denen, die lange mit dem Feuer gezündelt haben, geflissentlich übersehen worden. Sie wollten “ein bisschen” Fanatismus, aber das gibt es nicht. Die Stich­wort­geber haben es nicht mehr in der Hand, wenn der Fanatismus, den sie verbal propagiert haben, in Gewalt­ver­brechen umkippt. Die Geister, die man ruft, wird man nie mehr los.

 

Die führenden Geist­lichen Saudi-Arabiens sind bislang nicht als Hüter von Humanität und Menschen­rechten aufge­fallen, sondern befür­worten und fordern drako­nische Strafen nicht nur bei Ver­brechen, sondern auch beim Abfall vom Glauben. Was ist es wert, wenn etwa der saudische Großmufti, Scheich Abdel Asis bin Abdullah, ISIS entgegen­hält, extremistische und militante Ideen seien nicht Teil des Islam, sondern sein größter Feind.

Wie bitte? Ist denn das, was in Saudi Arabien praktiziert wird, nicht fanatisch? Wo werden dann denn den Menschen die Köpfe abge­hauen? Auf saudischen Marktplätzen. Der Scheich führt hier ein eklatantes Beispiel für Doppel­moral vor; wenn er die Regeln auf­stellt, ist es wohl nicht so schlimm mit dem fanatischen Islam.

 

Haben die Proteste dieser Geistlichen innerhalb der muslimischen Community eine Auswirkung?

Sie können mit einem Appell Menschen weder in die eine noch in die andere Richtung bewegen. Jeder Prozess braucht Zeit. Niemand kann über Jahre Menschen in den Moscheen immer weiter mit dem politischen Islam ideo­logisieren und dann, wenn es zu viel wird, mit einem Appell alles auf null zurück­setzen wollen. So läuft das Spiel nicht. Und vor allem nicht partiell. Sie können nicht jahre­lang gegen Anders­gläubige hetzen und sich dann wundern, wenn die weniger Intellek­tuellen Gewalt gegen Anders­gläubige aus­üben. Sie können nicht jahre­lang Unter­drückung gegen Frauen propagieren und sich dann wundern, wenn diese Leute gewalt­tätig gegen Frauen werden.

Ich denke, die meisten Muslime hatten in der Vergangenheit keinen Zugang zu diesem ideo­logisierten Islam. Ein Beispiel: In meiner Kind­heit war es in den Dörfern völlig normal, dass sich Menschen um­armten, fest­hielten und küssten. Männer und Frauen. Und jetzt? Ein Hände­druck zwischen Mann und Frau soll Sünde sein. Wer setzt so einen Unsinn in die Welt? Doch die­jenigen, die den Islam immer rigider, immer orthodoxer aus­gelegt haben. Und das zeigt Wirkung, nicht sofort, aber über die Jahre.

 

Wie beurteilen Sie den am Freitag vorletzter Woche in Deutschland statt­gefundenen Aktionstag in vielen Moscheen gegen jegliche Gewalt und Terror? Seitens der islamischen Verbände sind Friedens­gebete und andere Aktionen durch­geführt worden. Der Vor­sitzende des Zentral­rats der Muslime, Aiman Mazyek, hat dazu gasagt: “Unsere Aktion ist keine Dis­tanzierungs­orgie.”, aber die Muslime in Deutsch­land wollten nicht schweigen “wenn der Islam gekid­nappt wird von Terroristen und Verbrechern”.

Das hört sich sehr voll­mundig an, aber: Kann eine Religion gekidnappt werden? Von wem und wofür? Um im Bild zu bleiben: welches Löse­geld soll Herr Mazyek denn zahlen, dass der Islam wieder frei gegeben wird? Herr Mazyek and friends haben es jetzt mit der Angst zu tun bekommen, mit der Angst, dass man sie auch in diese Schublade stecken könnte, und sie wollen sich jetzt öffent­lich rein­waschen. Wovon? Von den Gräuel­taten? Das ist nicht not­wendig. Ich gehe durchaus mal davon aus, dass Herr Mazyek keiner Fliege was zu leide tun könnte.

Aber er sollte mal darüber nach­denken, was für Moschee­vereine in seinem Zentral­rat organisiert sind, welche Kontakte diese Moschee­vereine in den Nahen Osten haben, mit wem sie dort in welcher Beziehung stehen, welcher Ideologie sie nahe stehen und welche finanziellen Abhängig­keiten bestehen. Er sollte sich gründ­lich darüber informieren und kritisch darüber nach­denken, was in den Moscheen des Zentral­rats in Deutschland erzählt wird, und was frustrierte junge Leute davon geistig mitnehmen. Eine solche kritische Ein­stellung würde mir Respekt ein­flößen – nicht aber die oft wiederholte Behauptung, in ZMD-Moscheen gäbe es keine Extremisten. Herr Mazyek möge mir verzeihen, aber mir als Muslimin mit Insider-Wissen kommen diese ohnehin reichlich spät inszenierten Aktionen vor wie eine Art “Schau­laufen”. Titel der Schau: “Wir sind Deutschlands integrierte Muslime”.

 

Könnte es nicht sein, dass die islamischen Verbände in Deutschland, die nur einen kleinen Teil der Muslime repräsen­tieren und die orthodox-konservativ ausgerichtet sind, die Empörung über die ISIS-Verbrechen nur nutzen wollen, um sich selbst als moderate Ansprech­partner für Staat und Gesell­schaft zu präsentieren?

Das sind sie ja schon. Der Staat will den Islam in Deutschland unbedingt nach dem Modell des Staats­kirchen­rechts formen, und andere Ansprech­partner als den Koordinations­rat will er nicht dabei haben – damit das alles nicht zu kompliziert wird. Also muss er sich seinen Partner schönreden.