Kolumne: Sitte & Anstand

Pathos fürs Volk: Alle lieben jetzt Amanda Gorman

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Amanda Gorman (Screenshot eines Videos auf Twitter)
Amanda Gorman

Die Inaugural-Dichterin kam mit mehrfachem Schutzschild an: jung, schwarz, Frau, hübsch, Aktivistin. Da wird man ja wohl nichts mehr dagegen sagen können. Da wird man sich ja wohl dem Pathos des Moments hingeben dürfen! Alles ist "wir" im nun berühmten Gedicht von Amanda Gorman, und das "Wir" torkelt umher zwischen biblischen Bildern von Licht und Dunkelheit, Hoffnung und Aufbruch, von Hügeln und Feigenbaum. Muss das so sein? Gibt es mehr und Konkreteres nicht zu sagen?

Wo man das Pathos walten lässt, wird meist eine Lebenslüge übertüncht. Das Pathos ist eine Ableitung des Redens, in der alle Widersprüche aufgehoben erscheinen und man höheren Mächten beim Umhertollen zuschaut. Harvard-Absolventin Amanda Gorman hat die Einladung dankbar angenommen, ein offiziöser Teil des Establishments zu werden, sie hat ein Gedicht im staatlichen Auftrag geschrieben und hat, nach intensiver Lektüre älterer pathetischer Gedichte, abgeliefert, schick gekleidet, mit einem Ring am Finger, den sie von Oprah Winfrey bekommen hat: Aufbruch deluxe. Und alle fanden sie super. Was würde die taz eigentlich schreiben, wenn ein alter weißer Sack das exakt selbe Geschwurbel abgeliefert hätte? Wenn eine deutsche Dichterin zur Amtseinführung Kanzler Laschets den Eichenwald surren ließe und die deutsche Nation zur Einheit aufriefe, eine Einheit unter Gott, wie der angeschlagene Ton ja vermuten lässt?

Die Grundsatzfrage: Wieso muss der Amtsantritt des obersten Verwaltungschefs ein Akt sein, der im äußersten Maß quasisakral aufgeladen wird? Wäre eine Politik nicht vertrauenerweckender, käme sie ohne Gebete und Gebrumm aus und ohne Fotos symmetrisch angeordneter Präsidialpaare vor der totalitären Inszenierung des Washington Monument? "Nation" ist ein bisschen so wie "Gott": Es gibt sie nur, wenn alle daran glauben. Sie muss behauptet, muss konstruiert und immer wieder konfirmiert werden. Wenn aber etwas Nichtexistentes in die Existenz gehoben werden soll, kommt man eigentlich nie ohne Pathos aus, also ohne das Kind im Menschen anzusprechen und seine Bereitschaft, an Märchen zu glauben. Da steckt dann aber selten ein emanzipatorischer Gedanke dahinter, sondern das Kind im Menschen wird eingeschworen auf eine Ideologie, sei es nun eine Religion mit den ihr eigenen Ausgrenzungs- und Unterdrückungspotenzialen, sei es eine – dito – Nation, sei es eine hass- und angsterfüllte Verschwörungstheorie.

Irgendwo hat Amanda Gorman, die "Wir"-Frau, ja recht: Wir brauchen Heilung. Oder, richtiger: jeder von uns. Denn das "Wir", das kreiert wird, ist ja auch nur eine Konstruktion. Eine rhetorische Wolke. "Wir", wer soll das sein? Amerika? Als eine einzelne Person gedacht? Wie soll das gehen? Spricht Amanda Gorman wirklich für die abgehängten Industriearbeiter, die Waffennarren, die verdrehten, verdummten Trump-Fans, für Trump? Das "Wir" als ein lyrisches Ich der Nation, das ist eine spätromantische Idee, die sich über alle wirklichen Gräben, Konflikte und Ungerechtigkeiten stellt, letztlich eine Anmaßung: "Wir", das sagen die Mächtigen, wenn sie wollen, dass du etwas Bestimmtes für sie tust. Wäre es denn so schwierig, als hofierte Poetin und selbsterklärte Aktivistin, ein Gedicht über die Wirklichkeit zu machen, ein Gedicht über Arbeitslosigkeit, Sozialsystem, Drogenmissbrauch, Rassismus, Sexismus, Waffengesetze, Covid?

Will ja keiner hören. Analyse und Kritik? Nicht, wenn der Staat sich als Überkirche inszeniert, mit Priestern, mit Joes Hand auf der Bibel, die seine Frau ihm hinhalten darf. Aktivismus? Systemkritik? Rufe für eine Gerechtigkeit in der Realität statt in einem nebulösen Lyrik-Kuckucksheim? Mit einem erstaunlichen, ungebrochenen Sendungsbewusstsein steht Amanda Gorman (22) da vor der Welt, und alles suppt ihr zusammen zu einem Gedicht, das alles und nichts bedeutet. Sie hat gewonnen. Niemand kann ihr jetzt mehr was, ever. Konkret wurde sie dann erst kurze Zeit später wieder auf ihrem Twitter-Account: Ihr Gedicht sei jetzt als Sonderdruck erschienen, man könne es ab sofort kaufen. Das waren mal Worte, mit denen sich etwas anfangen ließ, nur den Preis hat sie vergessen zu sagen, oder ob es irgendwelche Rabattaktionen gibt.

Titelfoto: Screenshot eines Videos, das Barack Obama bei Twitter veröffentlichte.

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