Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die weltanschauliche Landschaft in den Staaten des ehemaligen Ostblocks offenbar deutlich zugunsten der Religionen verschoben. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center.
Die Daten der Pew Research-Studie basieren auf der Befragung von mehr als 25.000 Erwachsenen im Zeitraum Juni 2015 bis Juli 2016. Befragt wurden Menschen ab 18 Jahren in den ehemaligen Ostblock-Staaten Armenien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Estland, Georgien, Kroatien, Lettland, Litauen, Moldawien, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Tschechien, Ukraine, Ungarn und Weißrussland sowie außerdem in Griechenland.
Die größte weltanschauliche Gruppe in den untersuchten Ländern stellen die Christlich-Orthodoxen dar (57%), gefolgt von den Katholiken (18%). Erst an dritter Stelle (14%) stehen die Religiös-Ungebundenen (religiously unaffiliated), die sich als Atheisten, Agnostiker oder - in Bezug auf Religion - als "nichts Spezielles" definieren. Allerdings gibt es große regionale Unterschiede. Während in Moldawien 92% der Bevölkerung orthodox sind, bilden in Polen mit 87% die Katholiken die größte weltanschauliche Gruppe. In dessen Nachbarland Tschechien sind es mit 72% der Bevölkerung die Religiös-Ungebundenen.
In den meisten Ländern, in denen während der kommunistischen Ära der Atheismus vorherrschte und Religion unterdrückt wurde, zeigte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein dramatischer Wandel. In Russland bezeichneten sich 1991 37% der Bevölkerung als orthodoxe Christen. Laut der aktuellen Studie des Pew Research Center sind es derzeit 71%. Ein Trend hinsichtlich der orthodoxen Kirchen, der nicht auf Russland beschränkt ist, sondern sich in ähnliche Weise beispielsweise auch in der Ukraine und Bulgarien findet. Im selben Zeitraum nahm die Anzahl der Mitglieder in der katholischen Kirche in traditionell katholischen Ländern Mittel- und Osteuropas ab.
Einen weiteren interessanten Zusammenhang entdeckte die Pew Research-Studie: Einwohner mehrheitlich orthodoxer Länder haben eine größere Tendenz zu Nationalstolz und dazu, ihre eigene Kultur gegenüber anderen als höherwertig zu betrachten als Einwohner nicht mehrheitlich orthodoxer Länder. Und sie sind stärker für eine enge Bindung von Staat und Kirche sowie die staatliche Unterstützung bei der Verbreitung des Glaubens als Einwohner mehrheitlich katholischer Länder.
Obwohl laut Studie die orthodoxen Christen nicht besonders enthusiastisch beim Besuch von Gottesdiensten sind – nur 10% der Orthodoxen im Gegensatz zu 25% der befragten Katholiken besuchten die Messe wöchentlich – ist die Verbindung zwischen Orthodoxie und Nationalität auch auf individueller Ebene sehr stark ausgeprägt. In mehrheitlich orthodoxen Ländern erklärten durchschnittlich 70% der Befragten, dass es für die nationale Identität des Einzelnen notwenig sei, orthodox zu sein. In mehrheitlich katholischen Ländern waren im Gegensatz dazu nur 57% der Befragten der Meinung, dass das Katholisch-Sein notweniger Teil der nationalen Identität sei.
Insgesamt ist die Bevölkerung in mehrheitlich orthodoxen Ländern gesellschaftspolitisch äußerst konservativ – noch konservativer als Menschen in traditionell katholischen Ländern. 85% der Russen halten Homosexualität für moralisch verwerflich. Das gilt auch für religiös-ungebundene Russen, von denen immerhin noch Dreiviertel Homosexualität für moralisch verwerflich halten. Im katholischen Polen hingegen halten nur 48% der Erwachsenen Homosexualität für verwerflich. Auch an traditionellen Geschlechterbildern wird in orthodoxen Ländern besonders intensiv festgehalten. Einwohner christlich-orthodoxer Länder vertreten häufiger als Einwohner nicht christlich-orthodoxer Länder die Auffassung, dass es die Pflicht von Frauen sein, Kinder zu gebären, und ihren Männern zu gehorchen.
Beängstigend ist ferner, dass in den Ländern, die die Studie umfasst, die Demokratie zwar insgesamt die beliebteste Regierungsform ist, dass es jedoch in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks auch starke Strömungen gibt, die die Auffassung vertreten, dass nicht-demokratische Regierungsformen unter bestimmten Umständen vorzuziehen seien. Rund ein Drittel der befragten Erwachsenen in Bulgarien, Weißrussland, Russland und Moldawien sind dieser Meinung.
6 Kommentare
Kommentare
Frank Roßner, H... am Permanenter Link
Liebe Sylvia Wakonigg,
In Bezug auf den letzten Absatz Ihres Artikels denke ich, dass der Vorzug von nicht demokratischen Regierungsformen bei Teilen der Bevölkerung auf überhastete Privatisierung und damit verbundene relative Verarmung breiter Bevölkerungsschichten auf der einen Seite und Oligarchenherrschaft und Korruption auf der anderen Seite verbunden ist.
Mit freundlichen Grüßen
Frank Roßner
Ilse Ermen am Permanenter Link
Es wird oft vergessen, dass bereits die UdSSR selig ein erzkonservatives Land war, in dem das Niveau der sexuellen Aufklärung ziemlich niedrig war, allgemeine Homophobie herrschte und männliche Homosexualität unter St
Gibt es Vergleichsstudien mit orthodoxen nicht-ex-kommunistischen Ländern wie Griechenland? Polen müsste mit Spanien und Italien verglichen werden.
Bruder Spaghettus am Permanenter Link
Woher kommen denn die Erkenntnisse vom Sex in der UdSSR?
Ich hatte Freunde dort und völlig andere Erfahrungen gemacht.
Das sieht auch Wladimir Kaminer so. Er beschreibt eine Telebrücke UdSSR-USA:
".......Ein großer Blonder in einem Holzfällerhemd
wollte wissen, wie es mit dem Sex in der Sowjetunion
sei. Unsere Antwort auf diese hinterhältige Frage
kam von einer molligen Dame mit einer komplizierten
Frisur, die sich im entscheidenden Moment auch
noch verhaspelte. Sie wollte dem Amerikaner eigentlich
sagen, dass bei uns kein Sex im Fernsehen gezeigt
wird, schaffte aber nur den halben Satz: »Bei uns
Die Telebrücke
Sex_im_Sozialismus.indd 10 ex_im_Sozialismus.indd 10 09.02.2009 9:48:24 Uhr 9.02.2009 9:48:24 Uhr
in der Sowjetunion gibt es keinen Sex, äh – äh …« Der
Rest ging im Gekicher der CIA-Agenten unter.
»Das glaube ich euch nicht!«, blaffte der Holzfäller
im Hemd durchs All. »Ihr seid doch alle irgendwie auf
die Welt gekommen!«
Die ganze Belegschaft des Glen Helen Parks fing
an zu lachen. Es gab keinen Sex im Sozialismus! Dadurch
gelang es den Amerikanern noch einmal, die
Überlegenheit ihres Systems deutlich vorzuführen –
sie gewannen die Telebrücke. Und die Dame mit der
komplizierten Frisur hatte ihre Landsleute mithilfe
der modernsten Kommunikationsmittel für immer zu
Sex-Deppen abgestempelt.
In Wirklichkeit gab es in der Sowjetunion natürlich
jede Menge Sex, überall und rund um die Uhr. Es
gab Gruppensex und Sex allein, es gab Sex im Kosmos
und in der Landwirtschaft, zu Hause und bei der
Arbeit, im Sitzen und im Stehen. Nur eben nicht im
Fernsehen."
Thomas Göring am Permanenter Link
Und siehe da: Mit der politisch gewollten & geförderten wachsenden Macht der orthodoxen Kirche in Russland wachsen umgehend auch ihre Intoleranz & Aggressivität gegen Nichtgläubige & Missliebige aller Art.
http://www.sueddeutsche.de/kultur/kirche-und-staat-in-russland-die-unheilige-allianz-1.2391936
http://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-putins-gotteskrieger-tschaplin-will-krieg-a-1044620.html
http://www.quarteera.de/news/orthodoxe-aktivisten-zum-pogrom
https://hpd.de/artikel/maechtig-schlechter-verlierer-14403
http://www.aftenposten.no/verden/Han-spilte-dataspill-pa-mobilen-i-kirken-Straffen-den-russiske-dommeren-ga_-sjokkerer-omverdenen-621095b.html
Diese Kirche nimmt offenbar zunehmend wieder ihren alten angestammten Platz ein, den sie schon während der vielen Jahrhunderte der zaristischen Tyrannei wie selbstverständlich innehatte und nur während einiger Jahrzehnte des Sowjetregimes der organisierten Politreligion "Marxismus-Leninismus" überlassen musste. Sie ist (durch das historische Verschulden des gescheiterten unmenschlichen "Marxismus-Leninismus") nun also wieder an ihren scheinbar "natürlichen Platz" zurückgekehrt, – und lässt es sich mit Hilfe ihrer staatlichen Wasserträger nicht nehmen, ungeniert ihr wahres Gesicht zu zeigen. In ihrer Macht-Habgier wird sie eifrigst unterstützt von Massen an Nationalisten & Rechtsradikalen. Und so wächst seit längerem wieder zusammen, was auch schon vor der Oktoberrevolution von 1917 zusammengehörte.
Offenbar halten in jenem Lande die maßgeblichen Figuren in Politik & Religion die "Wiederkehr" von Glauben & Kirche für eine absolut zukunftssichere Sache, gefeit gegen alles künftig mögliche Scheitern. Je sicherer sie sich in ihren Taten wähnen, desto unverhohlener & brutaler werden sie mit all denen umspringen, die nicht gewillt sind, sich ihnen zu fügen. Genau das offenbart den wahren Charakter dieser sehr unspirituellen Verstrickung von weltlicher & kirchlicher Gewalt: "An ihren Früchten werdet Ihr sie erkennen"...
Und da einfach nichts von ewiger Dauer ist – also auch materielle & geistige Herrschaftssysteme nicht (und das wohl selbst auch im "ewigen Russland" nicht) -, wird höchst wahrscheinlich auch dieser Spuk eines fernen Tages sein wohlverdientes Ende finden (selbst wenn dieser schauerliche Zirkus noch etliche Jahrzehnte oder vielleicht sogar 100 Jahre fortdauern sollte).
Denn auch machtideologische & herrschaftskirchliche Krüge gehen nur solange zu Wasser, bis sie einmal endlich brechen. Und deshalb endet jedes Regime schließlich als ancien Régime.
Sascha Frank am Permanenter Link
Die Kreuzzügler und ihre Verbrechen unter anderem an ihren christlichen orthodoxen Brüdern und Schwestern wird nie in Vergessenheit geraten.
Thomas Göring am Permanenter Link
Ist "der Westen" allein verantwortlich für die heutigen Probleme? Was ist für Sie "der Westen"?
Und: Wer bitte sind konkret "die heutigen Westler"? Sind Sie nicht ebenfalls einer?
Jede Religion & Weltanschauung, die die Menschen in Schafe & Böcke unterteilt, sät die Samen für Unterdrückung & Krieg & Völkermord.