Interview

Das Oktoberfest – Schauplatz einer neuen kulturellen Praxis?

Die Meinungen zur Mutter aller Bierfeste gehen auseinander: Ist das Oktoberfest nun ein tolles Event oder die unerträglichste Zeit in München? Der hpd sprach mit einem, der es wissen könnte: Rudolf Stumberger hat einen zweibändigen Stadtführer zu Münchens historischen Orten der jüngeren Geschichte verfasst und beobachtet die Entwicklung der bayerischen Landeshauptstadt seit Jahrzehnten. Martin Bauer hat ihm zur Wiesn die Fragen gestellt, die Menschen von nördlich des Weißwurstäquators halt so stellen.

hpd: Herr Stumberger, was machen Sie denn, wenn Oktoberfest ist?

Rudolf Stumberger: Das übliche: arbeiten, kochen, fernsehen. Ob wir das Oktoberfest besuchen, lässt sich nicht voraussagen. Manchmal gehen wir am letzten Tag hin, manchmal gar nicht. Vor ein paar Jahren waren wir auch mit unserer Bürogemeinschaft da, vergangenes Jahr nicht. Eher eine spontane Entscheidung.

Was macht für so viele den Reiz des Oktoberfestes aus?

Zum einen ist es schon ein Riesenspektakel, bei dem man auch noch Bier trinken kann. Vielleicht suchen die Menschen aber auch die Gelegenheit, im Bierzelt mal die Konventionen abzulegen und sich zu verbrüdern und zu verschwestern. Oder anzubandeln. Vielleicht geht es auch um Sehnsucht nach einer Art Heimat.

Rudolf Stumberger, Foto: privat
Rudolf Stumberger, Foto: privat

Und was macht es für andere unerträglich?

Da sind zunächst mal die mit Lederhosen und karierten Hemd uniformierten Männergruppen, das schaut einfach so was von blöd aus. Und dann die Atmosphäre in den Bierzelten: Du kannst dich wegen der lauten Blasmusik gar nicht mehr unterhalten, es bleibt dir nur das Saufen.

In Ihrem Buch schreiben Sie von der "Verdirndelung" des Oktoberfestes. Da fragt sich der Nordwestbayer, was damit gemeint ist – verkörpert das Dirndl das Oktoberfest nicht geradezu?

Ganz im Gegenteil. Bis in die 1980er Jahre ging kein Münchner in Lederhosen oder Dirndl oder Tracht zum Oktoberfest. Das ist eine Erscheinung der vergangenen 20 Jahre.

Was hat den Charakter der Wiesn mehr verändert – die Unterhaltungsindustrie oder die Sicherheitsbehörden?

Eigentlich das Publikum. Die Wiesn hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten zu etwas völlig Neuem entwickelt, das es so vorher nicht gab. Es hat eine kulturelle Transformation stattgefunden, bei dem auf der Folie von Tradition ein neues Event geschaffen wurde. Ich rede jetzt nicht von den Fahrgeschäften, sondern von den Bierzelten. Sie sind der Schauplatz einer neuen kulturellen Praxis. Zum Beispiel, das am letzten Wiesntag abends die Menschen auf den Bänken stehen, Sternwerfer anzünden und weinen.

Was passiert auf dem Areal des Oktoberfestes eigentlich, wenn grad kein Festbetrieb ist?

Gottseidank nix. Es ist eine schöne, leere Fläche, über die man mit dem Radl rollen kann. Und ab und zu wird hier eine Revolution gemacht, wie 1918.

Cover

Ihr Buch handelt ja von historischen Orten und Erinnerungsstätten an historische Momente. Gibt es ein Wiesn-Denkmal?

Den Begriff sehr weit ausgelegt, könnte man die Bavaria so nennen. Aber es gibt ein Denkmal auf der Wiesn, das an das furchtbare Attentat vom 26. September 1980 erinnert. Damals starben durch eine Bombe aus dem rechtsradikalen Umfeld 13 Menschen.

In München gibt es oft zwei Blicke auf die Geschichte: den des meist SPD-geführten Rathauses und den der stets CSU-geführten Staatskanzlei. Ist das im Fall des Wiesen-Attentats auch so?

Dieser Dualismus spielt hier eher keine Rolle. Es geht vielmehr um die von den Behörden favorisierte Theorie des Einzeltäters. Lange Zeit hat man dem rechtsradikalen Hintergrund und den dazugehörigen Netzwerken keine Beachtung gewidmet, jetzt wurden die Ermittlungen aber wieder aufgenommen. Es ist ein bisschen wie beim NSU-Prozess, bei dem die Staatsanwaltschaft auch keine Hintermänner sehen will.

Für alle, die eine München-Reise planen: Ist die Wiesnzeit eine gute Zeit für einen Besuch oder gibt es bessere Termine?

Wer hohe Preise für das Hotelzimmer, lange Staus in der Innenstadt und Besoffene in der U-Bahn mag, für den ist die Wiesnzeit genau richtig. Ansonsten würde ich den August empfehlen, wenn die Münchner weg sind.

Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.

Rudolf Stumberger: München ohne Lederhosen. Ein kritisch-alternativer Stadtführer (Von November 1918 bis in die 1960er Jahre). Aschaffenburg 2016, Alibri. 199 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Klappenbroschur, Euro 16.-, ISBN 978-3-86569-198-9

Rudolf Stumberger: München ohne Lederhosen. Ein kritisch-alternativer Stadtführer (1968 bis heute). Aschaffenburg 2017, Alibri. 197 Seiten, zahlreiche Abbildungen, kartoniert, Euro 16.-, ISBN 978-3-86569-241-2