Armand Marie Leroi: Die Lagune oder wie Aristoteles die Naturwissenschaft erfand

Entwicklung in der Endlosschleife

Um Intrigen aus dem Weg zu gehen, zog er sich aus Athen zurück auf die Insel Lesbos. Dort beobachtete der erste Philosophieprofessor der Geschichte die Seeigel im Hafenbecken und an der Lagune im Osten des Eilands die Vögel auf ihrer Durchreise in den Süden und begründete gleich noch die Biologie. Neun biologische Werke hat er verfasst. Carl von Linné und Georges Curvier haben ihn gelesen und seine Systematik übernommen. Es fehlt nicht viel, und Aristoteles wäre noch auf das Prinzip der Evolution gekommen.

Murmelnde Geräusche sollen die Flusswelsväter von sich geben, wenn sie ihre von den Müttern allein gelassene Brut 40 bis 50 Tage lang gegen Fressfeinde verteidigen. Das, so schreibt Aristoteles, berichten die Fischer. Das tun sie wirklich. Aristoteles war unendlich neugierig. Solche und ähnliche Daten trug er zusammen. Er entwarf eine Taxonomie des Lebendigen. Er entdeckte, dass die Natur keine Sprünge macht und die Natur nicht verschwenderisch ist. Danach divergiert jede Art nur um ein Geringes von der anderen. Denn die Natur haushaltet.

"Die Natur schafft Instrumente, die zur Funktion passen", sagt er. Die Instrumente sind die Körperteile. Danach unterschied Aristoteles Lebewesen mit radialer Struktur wie die Seeigel von solcher mit spiegelsymetrischer, solche mit Schale von solchen mit Skelett, Gliedertiere und Gliederlose, Huftiere von solchen mit Pfoten, Paarhufer von Einhufern und so weiter. Delphine sind den Robben ähnlicher als den Fischen, urteilte er. Den Menschen bezeichnet er als das politische Tier.

Cover

Er beschrieb so viele Arten, wie es ihm nur möglich war. "Der Tyrannus ist nur etwas größer als eine Heuschrecke, sein Scheitel von der Farbe der Sonne, die durch Nebel scheint, und er ist in jeder Hinsicht ein hübscher und anmutiger Vogel." Gemeint ist das Wintergoldhähnchen, Regulus regulus. Es lebt in den Kiefernwäldern von Lesbos, weiß Armand Maria Leroi, der mit "Die Lagune oder wie Aristoteles die Naturwissenschaft erfand" ein wunderbares Werk über den Philosophen geschrieben hat, durch das man schließlich Aristoteles und die Geschichte der Biologie neu zu sehen lernt.

Die Lagune von Pyrrha war für Aristotels, was für Darwin die Galapagos-Inseln waren oder für Humboldt der Chimborazo. Sie barg einen unerschöpflichen Reichtum an Lebendigem. So ist sie auch der Ausgangspunkt des aus Holland stammenden Biologen auf den Spuren des Denkers. Mit ihm begegnen wir dem missgelaunten, halbblinden, einbeinigen Pelikan, der im Hafenbecken von Fischern und Vorübergehenden mit Fischen versorgt wird. Wir blicken mit ihm in das lebendige Gewimmel unter der Wasseroberfläche und tauchen hinab auf der Suche nach Purpurschnecken und Tintenfischen.

Solche, wie sie schon Aristoteles sezierte. An ihnen untersuchte der Philosoph Mund und Atemorgane, Verdauungstrakt und Fortpflanzungsorgane. Leroi lässt damit auch eine Leidenschaft für die Unterwasserwelt wiederaufleben, die als Junge mit dem Sammeln von Schnecken begann. Aristoteles fand die Objekte seiner wissenschaftlichen Neugier oft schon auf dem Fischmarkt

Jedes Lebewesen ist optimal ausgestattet, um in seiner ökologischen Nische zu bestehen, und muss es sein. Daraus hätte der Gedanke der Evolution werden können. Dies geschah jedoch nicht. Warum nicht, fragt Leroi. Und dies, obwohl Aristoteles Eier und Embryonen der unterschiedlichsten Tierarten und Familien untersuchte und parallele Entwicklungen feststellte, ja sogar, dass die höher entwickelten Lebewesen in ihren Embryonalstadien archaischere Lebensformen durchlaufen. Dennoch gibt es bei Aristoteles keine Entwicklung der Arten. Weil Aristoteles die Zeit für unendlich hält. Alles war auf der Welt seit jeher. Das bedeutet auch: immer so, wie es ist.

Und da spielt eben doch die Metaphysik mit hinein: Die Welt ist ewig, so wie sie ist, weil so auch das Göttliche (das sich in der Welt verwirklicht) beschaffen ist. Die einzelnen Lebewesen verwirklichen diese Unendlichkeit nur analog, indem sie die Kette der Fortpflanzung nicht abreißen lassen. Jedes Individuum versucht, sich in der nachfolgenden Generation fortzusetzen. Und warum will es überhaupt leben? Aristoteles´ handfeste Antwort: Weil Sein besser ist als Nichtsein. Dass es auf Lesbos einen ganzen versteinerten Wald gibt dessen Stämme heute noch aufrechte gen Himmel ragen (und der kürzlich zum Weltkulturerbe erklärt wurde), hat Aristoteles trotz all seines Wissensdurstes nicht gesehen. Dazu hätte es eines ganz anderen Paradigmas bedurft.

Aristoteles befragt die Schäfer, wie sich die Farben der Elternschafe auf die Lämmer über drei Generationen vererben. Das ergab eine in der Tat schon Mendelsche Aufteilung. Doch über den Ablauf der Fortpflanzung, darüber, wie sie zustande kam, irrte er sich kolossal.

Schon bevor Aristoteles nach Lesbos kam, hatte er ein gegenüber dem platonischen absolut konträres System aufgestellt. Auch bei ihm gibt es die Gestaltmuster, die ursächlich entscheidend sind nicht nur dafür wie, sondern auch dass die Dinge sind. Doch waren das bei Platon auch bei den nicht belebten Dingen und nicht von Menschen gemachten die Ideen und dazu bei den belebten die Seelen bis hin zur Weltseele. Aristoteles kocht auf kleinerer Flamme. Die Gestaltmuster kommen zunächst in den Individuen selbst vor, nie als allgemeine Prinzipien. Sie sind nichts anderes als die Art und Weise, wie die Teile, das heißt die Gliedmaßen, zusammenwirken. Jedes Lebewesen hat ein Telos, behauptet Aristoteles. Eine Zielursache.

Diese Zielursachen haben der Entwicklung der Naturwissenschaft jahrhundertelang im Weg gestanden. Leroi schlägt vor, das Telos ökologisch zu verstehen, als den Zweck, den jedes Lebewesen innerhalb eines ökologischen Systems erhält. Naturwissenschaft besteht im Herausfinden solcher Muster.

Entsprechend gibt er dem Verständnis von Seele eine völlig neue Deutung. Seele wäre auch so etwas wie das kybernetische System eines jeden Lebewesens. Die Balance von internen und externen Kreisläufen.

Auf die Frage, was Gefühle seien, hat Aristoteles nach Leroi eine Vorstellung, die ganz ohne Ballast auskommt und ganz den Biologen zeigt. Lachen und Tränen seien nicht die physiologische Antwort unserer Körper auf Gefühle wie Freude und Verzweiflung. "Zu behaupten, die Seele sei zornig, ist so, als würde man sagen, dass die Seele webt oder baut. Denn es ist vielleicht sogar besser zu sagen, dass nicht die Seele Mitleid hat, lernt oder denkt, sondern dass Menschen diese Dinge tun", schreibt Aristoteles. Willard van Orman Quine formulierte das im 20. Jahrhundert nicht viel anders.

Seelen haben in diesem Sinne freilich auch die Sterne bei Aristoteles. Denn auch sie sind lebendig – sogar ewig und daher nicht der Notwendigkeit der Fortpflanzung unterworfen.

2009 produzierte Leroi bereits für die BBC einen Film zum Thema:

Armand Marie Leroi: Die Lagune oder wie Aristoteles die Naturwissenschaft erfand“, aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow und Manfred Roth, Theiss Verlag, Wissenschaftliche Buchgemeinschaft Darmstadt 2017, 528 S. 38 Euro