Neuauflage der Heidelberger Disputation:

Der Historiker, der Philosoph und der Theologe

Unter Moderation von Michael Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), diskutierten Manfred Lütz und Rolf Bergmeier zum Thema "2000 Jahre Christentum – Skandal oder Chance?". Die Debatte verlief respekt- und anspruchsvoll, verlor aber manchmal das große Ganze aus den Augen.

Die Vorgeschichte ist hpd-Lesern bekannt. Manfred Lütz' im Frühjahr erschienenes Buch "Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums" polarisierte. Es gab einen kritischen Offenen Brief und zwei vernichtende Rezensionen (Rezension 1 / Rezension 2). Als der Psychiater und Theologe Lütz von den "Säkularen Aktivisten" 100 Nierenschalen in sein Krankenhaus geschickt bekam, nach deren Aussage aus Nächstenliebe den Lesern gegenüber, meldete sich der Autor selbst im hpd zu Wort und forderte "eine ernsthafte, intellektuell redliche Diskussion".

Die fand nun am frühen Sonntagabend in Heidelberg statt. Zwei Stunden lang lauschte der fast voll besetzte Saal des Deutsch-Amerikanischen Instituts (DAI) der Debatte. Gegen Lütz argumentierte Althistoriker Rolf Bergmeier, Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung, unter Moderation von deren Vorstandssprecher Michael-Schmidt-Salomon, der gleich zu Beginn ankündigte, gegebenenfalls für kritisch-rationale Positionen Partei zu ergreifen – ursprünglich hatte sich der katholische Autor vier Diskussionsgegner gewünscht. Der wissenschaftliche Schlagabtausch der beiden Schriftsteller fand unter dem Titel "Heidelberger Disputation reloaded" statt – vor 500 Jahren hatte ein gewisser Martin Luther hier seine reformatorischen Positionen mit anderen Gelehrten diskutiert.

Lütz wirft Bergmeier vor, die Antike zu verklären, andersherum lautet der Vorwurf, der Theologe wolle die katholische Kirche von ihrem Beitrag zum so genannten dunklen Mittelalter freisprechen. Während Manfred Lütz also die Verantwortung für die Gewalt im Mittelalter der weltlichen Macht anlastet, spricht der Althistoriker von der Ehe zwischen Kirche und Staat, wodurch ersterer immer auch die entsprechende Verantwortlichkeit zugefallen sei. Von genau dieser Verbindung handelt auch Rolf Bergmeiers aktuelles Buch "Machtkampf. Die Geburt der Staatskirche". Der Psychiater verweist im Gegenzug auf die Leistung des Katholizismus, sich im Investiturstreit wieder aus dieser Verbindung zu lösen. 

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Manfred Lütz – Foto: © Evelin Frerk

Mehrfach betont der Katholik Lütz, er habe "das alles nicht gewusst" – damit meint er das, wofür die katholische Kirche seiner Ansicht nach zu Unrecht verurteilt wird: 1000 Jahre lang habe es keine Ketzerverfolgung gegeben, die Kreuzzüge seien keine heiligen Kriege zur Verbreitung des Glaubens gewesen und die Hexenverfolgung sei durch die weltliche Justiz betrieben worden. Das habe ihn veranlasst, sein Buch zu schreiben, das den aktuellen Stand der Forschung dokumentieren soll. Die "wirklichen" Skandale habe er aber auch benannt – "Ich muss das ja eigentlich noch kritischer sehen als die Atheisten". Bergmeier plädiert im Gegenzug für ein "mutiges Bekenntnis zur Schuld" an Stelle von Verschweigen und Zurückweisung.

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Rolf Bergmeier – Foto: © Evelin Frerk

Das Neue Testament sei eine reine Friedensbotschaft, befindet der Autor Manfred Lütz weiter, die frühen Christen seien "Totalpazifisten" gewesen und hätten sich durch besondere Toleranz gegenüber Ungläubigen ausgezeichnet. Als Beispiel dafür nennt er das "Weizen-Unkraut-Gleichnis". Michael-Schmidt-Salomon hält dagegen: Die einstige Akzeptanz der Antike sei ersetzt worden durch die Erduldung einer Last. Es habe während der Hexenverfolgung eine Umdeutung stattgefunden, die Menschen auf Grundlage dieses Gleichnisses als zukünftige Hölleninsassen stigmatisierte. Das sei nicht Grundlage dessen, was wir heute unter Toleranz verstehen und könne keine Grundlage sein, um den anderen als gleichberechtigt anzusehen.

Heiß diskutiert wird das Thema Sklaverei. Der Theologe Lütz kritisiert die Sklaverei der Antike und vertritt die These, das Christentum sei die einzige Religion, die diese als Sünde bezeichne und ihre Abschaffung gefordert habe, deshalb sei die Sklavenbefreiung auf das Christentum zurückzuführen – da sei sich die Sklavenforschung einig. Folglich habe es in Europa auch schon früh keine Sklaven mehr gegeben. Rolf Bergmeier kontert: Sklaven habe es in der Kirche in Form von Hörigen gegeben, die Frondienst leisten mussten, bis ins 19. Jahrhundert habe der Vatikan nichts gegen die Sklaverei einzuwenden gehabt. Philosoph Schmidt-Salomon ergänzt unter Applaus: "Es ist natürlich leicht, in Europa eine sklavenfreie Zone zu haben, wenn man weiter an den Profiten partizipiert, die außerhalb Europas stattfinden." Davon abgesehen ginge die Gleichberechtigungsidee bereits auf Epikur zurück.

Ein weiterer intensiver Streitpunkt ist die Rolle der katholischen Kirche während des Dritten Reiches, die nach Ansicht des gbs-Vorstandssprechers im Buch unzureichend beleuchtet wird. Er wirft dem Katholiken eine "schwere Verkennung der Tatsachen" vor. Der Nationalsozialismus sei eben keine – wie von Vatikan-Berater Lütz behauptet – atheistische Bewegung gewesen, das "Gottlosentum" sei ganz im Gegenteil verboten und verfolgt worden, die Gesellschaft habe man lediglich in Kirchenmitglieder und Gottgläubige unterteilt. Der Psychiater kontert, nach dem Endsieg habe Hitler die Einführung einer Führerreligion vorgesehen. Die unterstützende Rolle der Zentrumspartei bei Hitlers Machtergreifung weist er als "historisch falsch" zurück. Er lobt den Widerstand der katholischen Kirche, Priester seien die meistverfolgte Berufsgruppe in der Nazi-Zeit gewesen. Nicht nur einmal verweist er auf seinen frommen Großonkel, der selbst Widerstand gegen Hitler geleistet habe. Die Verstrickungen mit den faschistischen Regimen des 20. Jahrhunderts, auf die Schmidt-Salomon immer wieder pocht, halte die Wissenschaft nicht für wesentlich, stellt der Katholik trocken fest, was erstaunte Empörung im Publikum auslöst.

Auch was die wissenschaftliche Methodik angeht, sind sich die Disputanten uneins. Der Althistoriker betont seine Arbeit mit Originalquellen (was Lütz in Frage stellt: "Sie haben das auch nicht gemacht"), während der Theologe für sein aktuelles Buch lediglich Sekundärliteratur herangezogen hat. Dies seien "zweitklassige Quellen" (Bergmeier). Manfred Lütz findet hingegen, man müsse Quellen nicht nur zitieren, sondern bewerten, "das nennt man Wissenschaft". Er selbst sei aber kein Forscher. "Wir sind angewiesen auf Literatur", sagt er. "Was mich irritiert, ist, bei der Giordano-Bruno-Stiftung habe ich immer den Eindruck, es muss irgendwo eine böse Absicht bei einem katholischen Autor dahinter stecken." Er habe auf 286 Seiten eine Auswahl treffen müssen und diese von Historikern gegenlesen lassen. Bergmeier konfrontiert der Theologe mehrfach mit dem Eindruck, bestimmte Kapitel nicht gelesen zu haben.

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Rolf Bergmeier, Michael Schmidt-Salomon und Manfred Lütz (v. l. n. r.) – Foto: © Evelin Frerk

Immer wieder fordert der Psychiater dazu auf, ihm Fehler in seinem Buch zu nennen, die werde er ändern. Von dem, was ihm die Diskutanten als solche nennen, lässt er aber nichts gelten. Es sei schließlich kein Fehler, wenn er nur etwas nicht erwähnt habe. "Man kann auch die Unwahrheit sagen, indem man nur die halbe Wahrheit sagt", erwidert hierauf Michael Schmidt-Salomon. Nur einen Punkt räumt der Katholik nach der Wortmeldung eines Zuhörers ein: Es habe im ersten christlichen Jahrtausend eben doch Judenpogrome gegeben, was im Buch verneint wird.

Es ist mitunter anstrengend, Lütz zu folgen. Er springt von einem Thema zum nächsten, kritisiert Einzelaspekte aus Bergmeiers Büchern (beispielsweise verwende er den Begriff "Katholizismus" falsch und Karl der Große sei nur von einem Gegenpapst heiliggesprochen worden, außerdem habe die Inquisitionsforschung herausgefunden, dass die Opferzahl viel geringer sei als die, die der Althistoriker nennt – aber auch das müsse einem Christen natürlich peinlich sein), spricht schnell und undeutlich. Manchmal mündet Manfred Lütz' Argumentation in geradezu abstrusen Schlussfolgerungen ("Christen sind Agnostiker" oder "Die Magna Charta der Indianer", die ihnen 1537 "volle Menschenrechte" zugestanden hätte). Überhaupt verliert sich die Debatte zuweilen in wissenschaftlichen Details oder Begriffsdefinitionen, was das Publikum teilweise unzufrieden macht. Rolf Bergmeier dagegen ist manchmal gar zu allgemein, zitiert generelle Katholizismuskritik von Heinrich Heine, Max Weber oder Johann Wolfgang von Goethe und fokussiert sich auf die Entstehungsgeschichte des Christentums und die Frage, wie sich die katholische Kirche von der Ursprungsreligion entfernt habe. Auf diese Weise sind die argumentativen Berührungspunkte nicht immer vorhanden, einige wichtige Aspekte der Kriminalgeschichte des Christentums bleiben unerwähnt. Einen roten Faden vermisst man, welche Themen ihren Weg in die Diskussion finden, scheint manchmal zufällig. Positiv wirkt aber die respektvolle Diskussionskultur, in der es sich die Kontrahenten zwischendurch auch zugestehen, dem anderen Recht zu geben.

Manfred Lütz schließt mit dem Appell, man könne es sich in Zeiten von Donald Trump und Dieter Bohlen, "wo vorchristliche Vorstellungen wieder Platz gewinnen", nicht leisten, auf das Christentum einzuprügeln. Verteidiger des christlichen Abendlandes und Nationalisten, die sich auf das Christentum beriefen, seien "nicht informiert". Dem Einwurf des gbs-Vorstandssprechers, die säkularsten Gesellschaften hätten den geringsten Anteil an Rechtspopulisten, weicht er aus. "Wir müssen uns einig sein in fundamentalen Dingen und die humanistischen Ressourcen bündeln". Im Gegensatz zu einigen bisherigen Erfahrungen im säkularen Umfeld, bei denen er häufig eine "polemische Atmosphäre" erlebt habe, sei die Neuauflage der Heidelberger Disputation "beeindruckend" gewesen, lobt der Katholik. Bergmeier sprach gar von einem Vorbild für das Parlament.