Die Angst vor dem großen bösen Wolf – oder:

Die Macht der Hysterie

Ein Wolfsbiss geistert durch die Medien und schürt Hysterie. Aber der Wolf war gar keiner. Das bestätigen nun DNA-Tests. Die Hysterie jedoch bleibt. Wie in so vielen gesellschaftlichen Debatten, deren Faktengrundlage sich im Nachhinein als falsch herausstellt.

Vor einigen Jahren führte ich ein Interview mit dem bekannten Kriminalbiologen Mark Benecke. Darin ging es unter anderem darum, wie wichtig in kriminalistischen Dingen die Unvoreingenommenheit ist. "Wer einen Tropfen mit einer rötlichen Flüssigkeit am Tatort findet und diese Flüssigkeit vor einer Analyse als Blut bezeichnet, der fliegt sofort aus meinem Team", sagte Benecke damals. Ein Satz, der sich mir eingeprägt hat.

Insbesondere dann, wenn es um wichtige Dinge wie Leben oder Tod geht, um Dinge, die Ängste schüren und die Emotionen hochkochen lassen, ist es wichtig, in der Bewertung von vermeintlich Eindeutigem einen kühlen Kopf zu bewahren und prüfend hinzuschauen. Genau das geschah im Fall des vermeintlichen Angriffs eines Menschen durch einen Wolf in der vergangenen Woche nicht. Der Umgang mit Fakten ist hierbei symptomatisch für die mangelhafte Disziplin des Denkens und das Schüren von Ängsten, wie sie inzwischen in weiten Teilen der Gesellschaft erschreckend verbreitet sind.

Was war passiert? Im niedersächsischen Dorf Steinfeld war laut einer Pressemeldung der zuständigen Polizeiinspektion Rotenburg vom 28.11.2018 um 15:54 Uhr am Vormittag des Vortags ein Gemeindearbeiter von einem Wolf verletzt worden. Der 55-jährige Gemeindearbeiter habe kniend an einem Zaun auf dem Friedhof gearbeitet, mit seiner Hand nach hinten gefasst und plötzlich festgestellt, dass ein Wolf danach schnappte. Mit einem Hammer habe er nach dem Tier geschlagen, welches verletzt weggelaufen sei – ebenso wie drei weitere Wölfe, die das Geschehen aus einiger Entfernung beobachtet hätten.

Das Erlebnis scheint für den Mann nicht besonders traumatisch gewesen zu sein und auch seine Verletzung war anscheinend nicht sonderlich schwerwiegend, denn erst am nächsten Tag (also nach einem vollen Arbeitstag) begab sich der Mann in ärztliche Behandlung. Laut Weser Kurier meldete der Arzt den Vorfall den Behörden. Am Nachmittag folgte die Pressemeldung der Polizei.

Spannend ist die Frage, wann und wie aus den vom Gemeindearbeiter gesehenen Tieren Wölfe wurden. Gegenüber der Rotenburger Kreiszeitung "hatte der Mann die Tiere als drei weiße und ein schwarzes beschrieben, sie dabei aber nicht als Wölfe bezeichnet". Laut Wolfsexperten eine Farbgebung, die es unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass die Tiere Wölfe waren, da der hiesige Wolf grau ist. Später war in mehreren Medien auch zu lesen, der Mann habe die Tiere lediglich als "wolfsähnlich" bezeichnet.

Obwohl die Identität des vermeintlichen Täters also keineswegs eindeutig geklärt war, ließ die Pressemeldung der Polizei keinerlei Zweifel an selbigem erkennen: "Gemeindearbeiter durch Wolf verletzt". Ein massiver Verstoß gegen zentrale Regeln kriminalistischer Arbeit. Wenigstens um ein "mutmaßlich" hätte die Meldung ergänzt werden müssen. Inzwischen hat die Polizei Rotenburg ihren Fehler eingesehen, die Pressemeldung gelöscht und sich dafür entschuldigt.

Doch das hat kaum jemand wahrgenommen, denn die unbedachte Pressemeldung hat eine Hysteriewelle losgetreten, die durch nachträgliche Richtigstellungen nicht mehr zu bändigen ist. Während einige Medien die Polizeimeldung immerhin mit einem "anscheinend" oder "offenbar" garnierten, um damit aufzuzeigen, dass noch nicht sicher feststeht, ob es sich bei dem Tier um einen Wolf gehandelt hat, wurde die Meldung in Jäger- und Viehwirtschaftskreisen begeistert aufgenommen und unhinterfragt hochgepusht.

Bereits seit geraumer Zeit gibt es in diesen Kreisen eine lautstarke Lobby, die sich für den Abschuss der streng geschützten Wölfe stark macht und deshalb bemüht ist, Ängste vor dem Wolf zu schüren. Dass Jäger, die um ihre Jagdtrophäen fürchten, den Wolf als Gefahr für den Menschen dämonisieren, gehört hierbei ebenso zum Spiel wie die vermeintliche Tierliebe, die Schafsbesitzer an den Tag legen, wenn sie darauf hinweisen, dass der große böse Wolf flauschige kleine Schäfchen grausam zerfleischt. Wobei freilich verschwiegen wird, dass es auch den Schafsbesitzern letztlich nur darum geht, ihren flauschigen kleinen Schäfchen unter fragwürdigen Umständen in noch fragwürdigeren Schlachthäusern die Kehlen durchschneiden zu lassen, um aus ihnen Profit zu machen. Emotionalisierung und das Schüren von Hysterie, um eigene Ziele und Interessen voranzubringen. Ein Spiel, das aus Politik und Wirtschaft wohlbekannt ist.

Inzwischen liegen die Ergebnisse der DNA-Proben vom Hammer, vom Friedhofszaun sowie vom Pullover des Gemeindearbeiters vor, in den das Tier gebissen haben soll: Auf dem Hammer wurde weder DNA von einem Hund noch von einem Wolf gefunden. In den Speichel- und Haarproben vom Pullover wurde DNA von Hund und Katze gefunden, in den Haaren vom Zaun Reh-DNA. In allen Proben gab es keinerlei Nachweis für die DNA eines Wolfs.

Die Wissenschaft hat also wieder mal dazu beigetragen, einen Fall zu klären. Möchte man meinen. Doch der niedersächsische Umweltminister Olaf Lies ist allem Anschein nach nicht in der Lage, die Ergebnisse der DNA-Untersuchung richtig einordnen zu können. Sein Kommentar zu den Testergebnissen:

"Ich hätte mir ein eindeutigeres Ergebnis gewünscht. Wir hatten uns Klarheit erhofft, ob Hund oder Wolf Verursacher waren, um zielgerichteter agieren zu können. Wäre ein Wolf festgestellt worden, dann wäre eine Tötung unumgänglich gewesen. Klar ist, dass wir jetzt weitere Erkenntnisse brauchen. Hinweisen auf freilaufende Hunde in der Umgebung muss nachgegangen werden. Ich habe bereits ein intensiviertes Wolfsmonitoring vor Ort beauftragt, um mehr Informationen über das in der Gegend ansässige Rudel zu bekommen. Außerdem habe ich heute eine Ad-hoc-Besenderung auf den Weg gebracht."

Natürlich kann anhand der Ergebnisse des DNA-Tests nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass vielleicht doch ein Wolf im Spiel war. Ebensowenig kann anhand dieser Ergebnisse ausgeschlossen werden, dass ein Waldkobold den Gemeindearbeiter in die Hand gebissen hat oder der Umweltminister persönlich, denn es können natürlich immer irgendwo Spuren sein, die nicht entdeckt werden. Doch so funktioniert nirgendwo auf der Welt kriminalistische Arbeit. Es ist festzuhalten, dass keinerlei Beweise gefunden wurden, die auf einen Wolf als Verursacher der Bissverletzung hinweisen. Ein eindeutigeres Ergebnis ist nicht möglich. Statt dies jedoch deutlich herauszustellen und die Gemüter zu beruhigen, schürt der Umweltminister weiter die Wolfshysterie, indem er nachweislich unbescholtenen, ehemaligen Tatverdächtigen Fußfesseln anlegen lässt, um sicherzugehen, dass sie wirklich nichts Böses anstellen.

Und was bleibt von der ganzen Geschichte hängen? Dass ein Mann vom Wolf gebissen wurde. Denn das ist die Schlagzeile, die bei Eltern die Rotkäppchen-Angst aktiviert, die emotionalisiert und sich auf diese Weise einprägt. Die Nachberichterstattung über das Ergebnis der DNA-Untersuchung ist hingegen weitaus weniger einprägsam und verbreitet sich entsprechend schlechter. So bleibt die Wolfshysterie nach den jüngsten Ereignissen bis auf Weiteres erhöht. Ohne jeglichen sachlichen Grund. Dank eines Kommunikationsfehlers und der politischen Unfähigkeit zur Deeskalation. Zutaten, die sich in gesellschaftlichen Debatten immer wieder ganz fantastisch zur Hysterie kneten lassen.