Problemfall Religion

Die "Verteidigung des katholischen Glaubens bis zum Blutvergießen"

"Man muss ihnen den Mut des Geistes einflößen"; so ein Wort des preußischen Königs Friedrich II.. Wer auf aktuelle Statistiken zu Religion und Glaube in Deutschland schaut, könnte zur Ansicht gelangen, es ist tatsächlich etwas vom Mut des Geistes wirksam geworden.

Will man beispielsweise mit Berlinern über Glauben oder Religion sprechen, wird mit lässiger Handbewegung abgewunken, werden gleichgültig die Schultern gezuckt, erntet man ein sehr, sehr müdes Lächeln. Es ist doch längst alles gesagt, scheint und heißt es. Doch mit Karl Valentin ist zu antworten: Ja, aber noch lange nicht von allen. Wer es unternimmt, an einem Sonntag zur Zeit des Gottesdienstes einen Blick ins Kircheninnere zu werfen, der blickt auf viele leere Kirchenbänke. Das Meinungsforschungsinstitut INSA ermittelte für 2017: Lediglich 36 Prozent der Katholiken und 31 Prozent der Protestanten in Deutschland wollen demnach zum Fest der Geburt Jesu in die Kirche gehen. Übrigens, von Weihnachten ist hier die Rede. Der Gottesdienstbesuch an einem normalen Sonntag ist für die Kirchen noch ernüchternder. 10,2 Prozent der Katholiken besuchen ihn, bilanzierte die Deutsche Bischofskonferenz für das Jahr 2016. Offizielle Angaben der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) weisen eine einstellige Prozentzahl aus. "Gott ohne Volk" ist ein Buch des Passauer Oberhirten Stefan Oster überschrieben, resignativ sein Fazit: Die Entfremdung der jungen Generation nimmt zu, die Älteren sterben weg. Keiner braucht noch die Kirche. Hilflos heißt es in den Leitlinien des kirchlichen Lebens der lutherischen Kirchen Deutschlands: Für viele Kirchenmitglieder hat der sonntägliche Gottesdienst keine erkennbare Bedeutung.

Und dennoch: Die (monotheistische) Religion ist die Geißel der Menschheit. Sie ist in ihrer andauernden Gegenwärtigkeit der Ausdruck von Anmaßung, Wahn und Schmerz, von Verfolgung und Unterdrückung. Monotheistische Religion ist nicht zuletzt die Verachtung des Menschlichen, der Vernunft und der mitleidenden Empfindsamkeit. Religionsgeschichte ist auch – im Monotheismus immer – eine Geschichte der Gewalt. Schon im vierten Jahrhundert wird der römische Historiker Ammianus Marcellinus darum schreiben, dass keine Bestien den Menschen so gefährliche Feinde sind wie die Christen in ihrem gegenseitigen tödlichen Hass. Wo bleibt der aktuelle Aufschrei von Öffentlichkeit, Politik und Medien, angesichts einer Veröffentlichung durch den Paderborner Priesterkreis Communio veritatis vom 14. Januar 2019, der den Rücktritt des Kardinal Marx fordert und dabei an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Wir erinnern daran, dass die Kardinalsfarbe Rot nicht die Flagge eines Neo-Marxismus meint, sondern die Verteidigung des katholischen Glaubens bis zum Blutvergießen? Weiß und lernt man endlich, wessen Geistes Kind die Religionen sind? Weiß man somit endlich auch, wie sich christliche Nächstenliebe definiert? Angesichts jüngerer und dieser jüngster Geschichte(n) sollte eine Verwechslung von Religiössein und Menschlichsein sich als endgültige Unmöglichkeit erweisen. Der Monotheismus – in seiner Radikalität und Ausschließlichkeit – ist die perverseste Form der Selbstbestrafung des Menschen durch den Menschen. Werden wir geboren, sind wir Atheisten. Diesen Zustand versuchen die monotheistischen Religionen sofortigst durch Vereinnahmung zu unterminieren. Per Geburt durch eine jüdische Mutter ist man Jüdin oder Jude. Der Islam bestimmt jeglichen Säugling dieser Welt als Muslim, im Christentum wird die alsbaldige Taufe des Säuglings erwartet – Allmachtsphantasien, groteske Zumutungen der Religionen. Wirkmächtig freilich sind diese Wahnvorstellungen monotheistischer Theologie, deren Verdammnis- und Erlösungssystem, deren Schuld- und Gnadenlehre auf einer Mutmaßung von der Vererbbarkeit einer Ursünde sich begründet, noch immer.

Man muss ihnen den Mut des Geistes einflößen, und mit diesem Mut des Geistes soll(t)en die Irrtümer des Menschen sich verlieren, so die pädagogischen Intentionen Friedrichs II. von Preußen. Diese Irrtümer sind die Glaubensgewissheiten und -lehren der verschiedenen Religionen, sind die Religionen selbst. Schon die ersten christlichen Gruppierungen, geprägt vom Endzeitwahn, erwiesen sich als bildungsfeindlich. Jesus ging mit bestem Beispiel voran und lehrte alles zu hassen, was nicht Gott diene. Eine Torheit ist dem Apostel Paulus die Weisheit dieser Welt. Freilich, das mit dem Ende der Welt klappte nicht, also log man und lügt bis heute weiter, verketzerte Naturwissenschaft und Heilkunst, die neue Grammatik hieß nun Christus. Die antike Akademie verachtete man zutiefst, hatte man doch von nun an die Kirche. Augustinus, bald geschmückt mit dem Titel eines Kirchenlehrers, glaubt nicht, obschon lange seinerzeit bewiesen, an die Kugelgestalt der Erde, sicher ist er sich dafür, dass Stuten durch den Wind geschwängert werden und der Grad der Hitze des Höllenfeuers sich nach dem Grad der Schwere der Sünde richte. Was der Mensch wissen muss steht in der Bibel. Das sieht auch noch achthundert Jahre später ein anderes Genie der Kirche so: Thomas von Aquin. Wie der Mensch zu unterrichten ist? Indem er ein Buch liest.

Sind sie ihm, die katholischen Lehrer, auch Kinderfresser und Verderber, über den Zweck der Erziehung ist sich der sogenannte Reformator Luther mit den Teufelslarven einig: Um der Kirchen willen muss man christliche Schulen haben und erhalten – (es sei der Vollständigkeit halber erwähnt: auch 2019 finanziert jeder deutsche Steuerzahler diese christlichen Schulen mit). Natürlich um des großen Nutz werden stracks unwidersprechlich die Kirchen gebraucht. Das ist nun von erklärter Offenheit: der große Nutzen! Fürs Volk? Mitnichten! Für die Kirchen, stracks unwidersprechlich.

Die Hoheit in Fragen der Schulen wiederzugewinnen, nach den Widerständen, die von der Weimarer Republik ausgingen, war den Kirchen mit Machtantritt der Nationalsozialisten ein erstes Anliegen. Katholik Hitler versprach denn auch in Schule und Erziehung, den christlichen Konfessionen den ihnen zukommenden Einfluss ein(zu)räumen und sicherzustellen. Seiner Freude darüber gibt der Münchener Domdekan Anton Scharnagl im März 1933 frohen Ausdruck, sieht er nun die Hindernisse beseitigt, die bisher einer reichsrechtlichen Regelung der Schulfrage im christlichen Sinne entgegenstanden.

Kontinuität bis in die Gegenwart: Die Kirche sollte intellektueller sein, mit gut studierten, gut ausgebildeten Leuten, so fordert es Heimer Wilmer, der neue Oberhirte von Hildesheim, dem die Herde verlorengeht und damit natürlich seine Machtansprüche auf die Köpfe. Nicht von ungefähr arbeiten die beiden christlichen Heilskonzerne verstärkt an einer Aufwertung des Islam in der Gesellschaft und bei Politikern. Schließlich: Wer islamischen Religionsunterricht fordert, kann gewiss sein, der eigene besteht dann ebenso fort. Das christliche/religiöse Monopol auf Erziehung, was ist es jedoch anderes als das Monopol auf Verbildung, Verdummung, Verziehung und Propaganda? Die Macht der Priester, ist sich schon Claude Adrien Helvétius sicher, hängt vom Aberglauben und der einfältigen Vertrauensseligkeit des Volkes ab … Der Mensch kommt unwissend, aber nicht als Narr auf die Welt … Aber es gibt nichts, was die priesterliche Gewalt nicht mit Hilfe von Aberglauben erreichen könnte, damit hält sie das Volk unter ihrer Fuchtel …, und dadurch werden schließlich die wahren Grundlagen der Sittlichkeit zerstört. Die Herrschaft des Klerus jedenfalls macht Demokratie unmöglich.

Täuscht aber nicht alles, so beginnt das zwanzigste Jahrhundert wieder mit einem Kampfe gegen Kirchen und Dogmentum und gegen die Anmaßungen eines herrschsüchtigen Priestertums, das wieder seine Zeit gekommen glaubt, um dem Volk den Fuß auf den Nacken setzen zu können, schrieb im Jahre 1901 der Sozialdemokrat August Bebel. Noch im zwanzigsten Jahrhundert formulierte ein anderer Sozialdemokrat: Es gibt kein Leben ohne Kirche (Herbert Wehner). Eine These, eine Drohung? Fahren wir fort, ersetzen wir das zwanzigste durch das einundzwanzigste Jahrhundert, und fügen wir zu den Kirchen noch den Islam (= Unterwerfung), der, nach einem Wort des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, inzwischen auch zu Deutschland gehört, hinzu, dann ist Bebels Aussage tagesaktuell. Tagesaktuell ebenso seine Feststellung: wo von höchster Stelle immer wieder das Wort fällt: "Die Religion muss dem Volke erhalten werden". In diesem Sinne lässt sich der Katholik Hitler im März 1933 vor dem Reichstag vernehmen: Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen Kirchen wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums. Merkel, Seehofer, Söder, Nahles, Göring-Eckardt … sind die modernen Verkünder und willigen Handlanger des herrschsüchtigen Priestertums. Und wusste darum nicht auch der Preußenkönig: Übrigens stellen die Priester uns nur darum als Stellvertreter Gottes hin, um sich selbst als Werkzeuge und Dolmetscher der Gottheit auszugeben. Dadurch machen sie uns abhängig von sich und zwingen uns zu ihren Füßen? Wir haben es offensichtlich verlernt, gegen die Anmaßungen und Zumutungen der Religionen zu kämpfen (ein Maximum von Wirkmöglichkeiten für die Kirchen sah bereits 1979 wieder der Jesuit Joseph Listl), dieser Kampf ist letztlich eine unabdingbare Hygienemaßnahme.

Die intellektuelle Redlichkeit vor der Tür der Religion abzugeben, dafür das Instrument der Toleranz durch die Tür zu tragen, ist fatal. Die politischen wie die medialen Entscheidungsträger dieses Landes betreiben häufigst allein noch moralisierende Politik, ein Zwingen wie im Muss des Preußenkönigs, hinter dem eine Erkenntnis steht, ist undenkbar geworden. Man ergibt sich lieber der neuartigen pädagogischen Tugend des Überzeugens, hilft das alles nicht, ist man wenigstens noch beleidigt. Dass der Religionsfrieden dem Laizismus sich verdankt, ist bei Politikern und Medienmachern dem Vergessen anheimgefallen, insofern sie diese Tatsache überhaupt je bedachten. (Kurienkardinal Alfredo Ottaviani konnte noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts schmettern: In den Augen eines wahren Katholiken ist die sogenannte Duldsamkeit nicht am Platz und hatte dabei evangelische Minderheiten in Italien und Spanien im Visier.) Überhaupt scheint sich dem politischen wie dem medialen Bewusstsein zu entziehen, dass die demokratische und freiheitliche Grundordnung das Fundament unseres Gemeinwesens ist.

Den Fortbestand dieser Grundordnung gilt es zu sichern, denn eine selbstverständliche Garantie dieses Fortbestehens gibt es nicht. Die Zusammensetzung des 19. Deutschen Bundestages, gewählt am 24. September 2017, ist zumindest bedenkenswert: 211 Abgeordnete geben ihre Konfessionszugehörigkeit mit evangelisch an, als katholisch weisen sich 221 aus. 114 Volksvertreter sind ohne religiöses Bekenntnis, 150 mach(t)en keine Angabe. Die Dominanz der Religion in der Politik vermag somit nicht mehr zu verwundern. Das Staatsvolk, die Anzahl Gläubiger bzw. die Zahl derer, die einer religiösen Gemeinschaft angehören, sind jedenfalls nicht in Übereinstimmung zu bringen. Ganzen zehn Prozent der Deutschen, so sagt es eine Studie des amerikanischen Pew Research Center, ist Religion überhaupt noch wichtig. Die Fakten sind stetiger Veränderung unterworfen, die Ansprüche der Glaubenshüter bleiben, fintenreicher werden bestenfalls die Formulierungen. Das Ziel: Re-Christianisierung, Re-Konfessionalisierung.

Angst, Blindheit, Unwissenheit, orientalische Hirtenmärchen können jedenfalls nicht die Ratgeber der politisch Handelnden für das 21. Jahrhundert sein, der Kniefall vor den Religionen, als Hüter der sittlichen Ordnung, verbietet sich, er ist widerlich. Denn immer wieder rufe man es sich ins Gedächtnis: Beide großen (Volks-)Kirchen trieben im Ersten Weltkrieg Millionen in Tod und Heldentod, ins Massengrab. Das lebenslängliche Bekenntnis zu den Kronrechten des Kaisers (diese erzstarke Herrschergestalt mit dem goldenen Herrschergewissen, dieser Reinwuchs deutscher Kraft, diese majestätische Verkörperung soldatischer Edelart) ist Nachfolge Jesu. Ja, prosaischer formulieren konnte man es kaum, als es der damalige Feldpropst der Bayerischen Armee und spätere Kardinal, Michael von Faulhaber, tat.

Beide großen Kirchen waren unmittelbare Totengräber dann für die Weimarer Republik, waren umso mehr Steigbügelhalter für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Alle Glieder der evangelischen Kirche sind angewiesen, heißt es noch im Mai 1939, sich in das völkisch-politische Aufbauwerk des Führers mit voller Hingabe einzufügen. Es zeichneten verantwortlich die Landesbischöfe Meiser, Wurm und Marahrens. Blieben nach dem Desaster des Tausendjährigen Reiches sich treu und installierten die Rattenlinie (katholisch) und Hilfswerke (evangelisch), um Nazigrößen vor Bestrafung zu schützen. Hüter der sittlichen Ordnung? Ein Eingeständnis dann, das so – als Leitmotiv – allen monotheistischen Religion vorangestellt sein sollte: Durch uns ist äußerstes Leid über die Völker gekommen (Stuttgarter Schuldbekenntnis des Rates der Evangelischen Kirchen, Oktober 1945). In Parenthese: Verräterisch wird es, wenn es im Text fortschreitet: … wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Die Wortwahl ist allzu bekannt, denn so konnte man anlässlich von Hitlers Geburtstag 1939 schon in der Zeitschrift der Bekennenden Kirche lesen: Der Christ … vernimmt den Aufruf, im Alltag und Sonntag treuer zu glauben, inniger zu lieben, stärker zu hoffen, fester zu bekennen.

Bevor das demokratische Liebäugeln begann, forderte Kardinal Josef Frings auf dem Katholikentag 1950 die Wiederaufrüstung der Deutschen, galt Pazifismus ihm doch als eine verwerfliche Sentimentalität. Formalen Frieden schloss man mit der Demokratie vergleichsweise spät, 1965 durch das II. Vatikanische Konzil, die Evangelischen gar erst 1985 mit der sogenannten EKD-Denkschrift. Es verbietet sich die weitere Tolerierung der kirchlichen Grenzüberschreitungen: die Kirchensteuer, die inzwischen milliardenschweren Staatskirchenleistungen, die Konkordate und Ausnahmegesetze, das eigene kirchliche Arbeitsrecht, die Militär- und Notfallseelsorge, der Religionsunterricht an staatlichen Schulen, die staatliche Förderung der theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten, die Rundfunkbeauftragten.

Die Nachgiebigkeit oder Gleichgültigkeit vor religiösem Geschrei ist keine politische Option, das Sonntagslächeln keine Einladung. Beschneidung, Burka, Kreuz, Scharia, Kopftuch, Speisevorschriften … sind Themen, die immer häufiger den Raum der Medien besetzen, das politisch-mediale Geraune von Verständnis und Toleranz folgt auf dem Fuße. Grenzüberschreitungen auch hier. Historisch bewährte Taktik wird wieder erinnert: ist man in der Mehrheit, dann ist man gegen Toleranz, ohne Majorität hingegen beschwört man sie. Dieser Einbahnstraßentoleranz ist zu begegnen, sie ist durch eine demokratisch verfasste Gesellschaft nicht hinzunehmen, sie ist schon gar nicht zu gewähren. Formulierte nicht sogar im 20. Jahrhundert noch einer der sogenannten "großen" Theologen der (evangelischen) Christenheit, Karl Barth, alle Religionen enthielten nichts als Abgötterei und Aberglauben und müssten vollkommen ausgerottet werden, um der Offenbarung Platz zu machen? Nächstenliebe also?! Man muss ihnen den Mut des Geistes einflößen …

Lange zwei Jahrtausende sind die monotheistischen Religionen an ihren Früchten zu erkennen. Diese Früchte schmecken nicht, ihnen jedoch nur Geschmacklosigkeit(en) zu bescheinigen wäre unangemessen. Nein, diese Früchte sind hoch toxisch und für uns Menschen ungenießbar bis tödlich.