Sterbehilfe

Im Zweifel gegen die Freiheit

BERLIN. (hpd) Bundesrichter Thomas Fischer war am vergangen Dienstag einer der Strafrechtslehrer, die bei einer Podiumsdiskussion in Berlin über die Sterbehilfe sprachen. Er ist zudem Unterzeichner der Petition gegen die Strafbarkeit des assistierten Suizids und er schreibt für die ZEIT über Rechtsfragen. Sein aktueller Artikel befasst sich mit dem Thema Sterbehilfe.

"Wollte man eine Ranking-Liste all jener Themen aufstellen, bei denen die Meinung der Mehrheit im Volk von der ihrer Politiker signifikant abweicht, so stünde die sogenannte Sterbehilfe sicherlich auf einer der ersten Plätze" schreibt er dort einleitend.

Es ist ihm unverständlich, dass die Politik gegen den Willen einer Dreiviertelmehrheit der Bevölkerung die Strafbarkeit des assistierten Suizids gesetzlich festlegen will. "…die Politiker dagegen beschwören angebliche Bedrohungen der zivilisatorischen Grundlagen und verschanzen sich hinter hohen Mauern des Expertenwissens." Allerdings entpuppt sich eben dieses "Expertenwissen" als Nullnummer. Denn in den politischen Diskussionen wird immer deutlicher, dass auch Bundestagsabgeordnete in dieser Frage häufig nicht wissen, wie die rechtliche Situation in Deutschland derzeit aussieht. Sie lassen sich - auch das konnte bei etlichen öffentlichen Diskussionen beobachtet werden - von denen leiten, die am lautesten schreien. Wirklich wissenschaftlichen und empirischen Argumenten gegenüber sind sie weit weniger aufgeschlossen.

Dabei sind Politiker nicht mehr als ein Abbild jedes Bürgers. Denn da der Tod tabuisiert wird, verdrängen wir schnell, dass er ein Teil des Lebens ist. "Und das kommt daher, dass wir große Angst haben. Sehr, sehr, sehr große Angst. Erleichtert verlassen wir das Pflegeheim und wenden uns dem Leben zu; an der nächsten Ampel haben wir den Tod schon fast wieder vergessen. Und aus dieser Entfernung gönnen wir den Alten und Todgeweihten ihre letzten Liederkränze, das finale Basteln, und die kleinen Zärtlichkeiten aus den Händen thailändischer Bauerntöchter oder polnischer Zauberfeen, die für 13 Euro brutto die Stunde – also nun wirklich teuer genug! – unsere Lieben Tag und Nacht durchs Sterben führen, bis dahin, wo wieder unsere ganze deutsche ärztliche Kunstfertigkeit zum 20fachen Preis gefordert ist: zur Palliativmedizin!"

Fischer fordert uns auf, über das eigene Sterben nachzudenken und weniger "über das der anderen. Vermutlich käme das auch diesen sehr zustatten." Denn wer sich - auch in jungen Jahren und in voller Gesundheit - bewusst macht, dass er selbst schneller als erwartet von diesen Entscheidungen betroffen werden kann, denkt vermutlich anders darüber, ob er sich ein qualvolles Lebensende zumuten möchte oder nicht.

Logisch bezeichnet Fischer als Sterbehilfe "jede Art von Unterstützung, Hilfe und Zuwendung beim Sterben, aber auch zum Sterben, also eine Erleichterung oder Beschleunigung des Sterbeprozesses." Wie bereits in der Podiumsdiskussion am vergangenen Dienstag geht er in der Begründung seiner Verteidigung des selbstbestimmten Lebensendes darauf ein, dass wir häufig dabei nur alte und kranke Menschen im Blick haben. Er weist aber darauf hin, dass "damit ... aber nur ein – wenngleich sehr großer – Teil beschrieben [wird]. Denn unter den etwa 800.000 Menschen, die in jedem Jahr in Deutschland sterben, sind auch etwa 10.000, die sich selbst das Leben nehmen; weitere 100.000 versuchen dies."

Weiterhin sieht er - genau wie Uwe-Christian Arnold es in seinem Buch "Letzte Hilfe" bereits deutlich gemacht hat - dass allein die Begriffe, mit denen in der Debatte hantiert wird, "von einer solchen Unklarheit und begrifflichen Verquastheit [sind], dass sie leider mehr zur Verwirrung als zur Klärung taugen." Was genau mit den Attributen "passiv", "indirekt" oder "aktiv" gemeint ist, ist häufig genug nicht nur dem Laien unklar; auch Ärzte wissen nicht, was was ist, beklagt Fischer und geht darauf ein, dass viele Ärzte sich sehr wohl bewusst sind, was sie tun: "Jeder der Beteiligten weiß, dass die entscheidende Spritze nicht eine 'Therapiechance', sondern eine gezielte 'Erlösung' ist." Das allerdings wird nicht oder nur sehr selten ausgesprochen. "Es handelt sich also um eine direkt vorsätzliche Tötung. Auch das darf man aber nicht sagen, weil dann angeblich der Vorstand des Bundesärztekammer und der selige Hippokrates in Unruhe geraten."

Ganz klar definiert er, "dass die Beihilfe zur Selbsttötung seit 140 Jahren straflos ist. Hier überschneiden sich Suizid und 'Sterbehilfe', denn auch ein Arzt, der seinem Patienten ein tödliches Medikament verschreibt oder überlässt, damit dieser sich selbst töten kann, begeht nur eine straflose Beihilfe zum Suizid; dass dies zugleich 'Sterbehilfe' heißen kann, ist ganz unerheblich."

Dem erfahrenen Strafrechtler Thomas Fischer ist klar, dass "in diesem für Fachleute schwer, für Laien gar nicht überschaubaren Dschungel von Verdrehungen, Beschönigungen und Verleugnungen" kaum eine Lösung finden lassen wird, solange man Tabus nicht abbaut und den eigenen Selbstbetrug erkennt.

"Soll man sich ernsthaft von Ärztekammer-Funktionären dazu zwingen lassen, die unaufhaltsam das Ich zersetzende Krankheit [die Rede ist von der Alzheimer-Krankheit] so lange zu erdulden, bis der Vertragsarzt eines Pflegeheims einmal Zeit, Gelegenheit und eine GOÄ-Nummer findet, um einen ‘indirekten’ Tod zu genehmigen? Wer so denkt, verfolgt ein paternalistisches, obrigkeitshöriges Modell, und er hat eine sehr geringe Meinung von seinen Mitmenschen. Der Mensch ist aber weder dem Staat noch der Bundesärztekammer (BÄK) zum Leben verpflichtet. Ob er sich einem übermenschlichen Prinzip oder gar einer moralischen 'Macht' verpflichtet fühlt, die ihm – angeblich – verbietet, über sein Leben selbst zu bestimmen, ist, schlicht und ergreifend, Privatsache. Das mag jeder halten, wie er will, und wir können einander nichts Besseres tun, als uns in dieser Freiheit gegenseitig zu respektieren."

Für ihn zeigt die aktuelle Debatte vor allem eines: "Die sogenannte 'christlich-abendländische' Kultur ist – bei allem Kult um den Tod, den sie treibt – eine der Todesverleugnung und der Tabuisierung." Daher rühren die Versuche vieler Politiker, ein wichtiges Thema als Aufhänger für ihre religiöse Moralvorstellungen zu nutzen. Dabei ist in der Mehrheit der Bevölkerung "nur eine kleine Minderheit … noch davon überzeugt, das Ertragen schrecklichen Leidens bis zum Tod sei eine Pflicht, deren Erfüllung ihnen ein liebender Gott aufgetragen habe, um sie alsdann vor ein abschließendes 'Jüngstes Gericht' zu führen, in welchem er Ankläger, Verteidiger, Richter und Vollstrecker in einem ist und vor dem dieses Leiden dann als 'Verdienst' gewürdigt werde." Und diese "Pflicht zu Leben", so Fischer "kennen sonst nur Staaten, die in totalitärer Weise auf die Existenz ihrer Bürger zugreifen und die das Leben ihrer Einwohner als bloßes Mittel zu einem (höheren) Zweck behandeln."

Abschließend fordert er: "Wir brauchen eine positive 'Kultur des Sterbens'. Eine Alltagskultur also, die den individuellen Tod und den Tod als gemeinsames, das Menschsein von Anfang an prägendes Schicksal wieder zurückholt in die Wirklichkeit des (gemeinsamen) Lebens. Damit ist keine Kultur der Finsternis und der depressiven Verstimmung gemeint, sondern eine der Lebensbejahung, der Freude und der Selbstbestimmung. Eine Kultur also, in der die Bestimmung über das eigene Leben dem Staat und allen Ideologien entzogen ist – von Anfang an." Dazu macht er im letzten Teil seines überaus lesenswerten Artikels noch Vorschläge, wie diese Selbstbestimmung umsetzbar ist.

Diese entsprechen hundertprozentig den Forderungen des Bündnisses Mein Ende gehört mir: "Gäbe es Anlaufstellen für Sterbewillige (analog den Beratungsstellen für Abtreibungswillige), würde dies (erstmals) erlauben, sehr viele Suizid-geneigte Personen zu entdecken, die heute von der Gesellschaft vollkommen alleingelassen werden: 25 Prozent der depressiven Erkrankungen, so schätzt man, verlaufen tödlich (durch Suizid, häufig nach jahrzehntelangem Leiden). Viele depressive Erkrankungen sind heilbar und – bei guter Lebensqualität – therapierbar. Schon wenn es gelänge, über 'Sterbehilfe'-Anlaufpunkte und Beratungsstellen ein paar Tausend Menschen zu erfassen, die sich heute gegen jede vernünftige Intuition, oft auf grauenvolle Weise und unter schwersten Beeinträchtigungen Dritter (Mitnahme-Suizide) das Leben nehmen, hätten wir sehr viel gewonnen."

Fischer geht sogar noch über diese Forderungen hinaus: "Ich selbst spreche mich daher nicht allein für die Beibehaltung und den Ausbau der erlaubten Sterbehilfe aus, sondern für eine Öffnung des strafrechtlichen Verbots der Tötung auf Verlangen (Paragraf 216 Strafgesetzbuch)" und schränkt ein: "Selbstverständlich dürfte dies nicht voraussetzungslos und willkürlich erfolgen, sondern muss an prozedurale Regelungen geknüpft sein, wie es etwa in der Schweiz oder in Benelux-Staaten der Fall ist. Aus dortigen Erfahrungen könnte man viel lernen, wenn man wollte."