Der Kinderfänger von Hameln

Bei der diesjährigen Preisverleihung "Der Freche Mario" belegte eine Arbeit des Künstlerduos Krystyna und Manuel Valverde den fünften Platz – durchaus respektabel bei 425 Einsendungen – die es gleichwohl verdient gehabt hätte, mit auf dem Siegerpodest zu landen; nicht zuletzt deshalb, weil es sich, anders als bei den über die Jahre prämierten Zeichnungen, Texten oder Videos, um ein Kunstwerk in "klassischem" Sinne handelt: eine echte, teils gar vergoldete Bronzeplastik; vor allem aber deshalb, weil sie auf dem Siegerpodest größere Bekanntheit gewonnen hätte, als Warnung an alle Kinder und ihre Eltern vor Männern mit komischen Hüten auf dem Kopf.

Laut einem Eintrag des Weimarer Gelehrten und Medicus Jobus Fincelius in das Hamelner Stadtbuch des Jahres 1556 habe vor längerer Zeit der Teufel zahlreiche Kinder aus der Stadt entführt. Wohin sei nicht bekannt, sie wurden nie mehr gesehen.

Auszug aus dem Stadtbuch von Hameln von 1556, Foto: © Colin Goldner
Auszug aus dem Stadtbuch von Hameln von 1556, Foto: © Colin Goldner

1816 wurde die Geschichte von den Gebrüdern Grimm, die sie in besagtem Stadtbuch entdeckt hatten, zu ihrer Erzählung der "Kinder zu Hameln" aufbereitet. Sie verknüpften die Geschichte mit einer zweiten Sage, die überhaupt nichts mit Hameln zu tun hatte, in der es aber, spannend für die Dramaturgie, um eine Rattenplage ging (vielleicht auch waren die beiden Sagen zu früherer Zeit schon verknüpft worden). Heraus kam jedenfalls die heute weltbekannte Erzählung des "Rattenfängers von Hameln".

Den Grimms zufolge sei im Jahre 1284 ein Fremder in Hameln aufgetaucht, in einem "Rock von vielfarbigem, buntem Tuch", mit dem Versprechen, die Stadt von einer Rattenplage zu befreien. Tatsächlich habe er die Ratten zum Tor hinausgeführt, dann aber sei er zurückgekommen, "erschrecklichen Angesichts (und) mit einem roten, wunderlichen Hut" auf dem Kopf, um (wie in der ursprünglichen Geschichte) die Kinder der Stadt zu holen: "Knaben und Mägdlein vom vierten Jahr an in großer Anzahl (…). Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Die Eltern liefen haufenweis vor alle Tore und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen. Von Stund an wurden Boten zu Wasser und Land an alle Orte herumgeschickt, zu erkundigen, ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen, aber alles vergeblich." Der Berg bei Hameln, so die Grimms, "wo die Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg (sic!), wo links und rechts zwei Steine in Kreuzform sind aufgerichtet worden."

Wer genau der Ratten- und Kinderfänger mit dem merkwürdigen Hut auf dem Kopfe war, ist bis heute nicht mit Gewissheit zu sagen …