Eine Genugtuung für Dr. Matthias Thöns. Er hatte in seinem Buch "Patient ohne Verfügung" auf ausufernde Übertherapie hingewiesen, die nicht zum Wohle von PatientInnen, sondern aus ökonomischen Interessen durchgeführt wird. Viele KollegInnen von ihm fühlten sich dadurch zu Unrecht diffamiert, er wurde angefeindet. Doch heute erscheint der STERN mit dem Titel: "215 Ärzte fordern: Mensch vor Profit!" – und Thöns steht mit anderen sogenannten Whistleblowern nicht mehr allein da.
Der am 5. September erscheinende Stern enthält ein Artikelpaket aus drei Teilen über die fundamentalen Auswirkungen des Diktats der Ökonomie auf die Krankenhausmedizin und die Qualität der Patientenversorgung. Sieben Ärzte erzählen an sehr konkreten Fallbeispielen, wie der hohe wirtschaftliche Druck ärztliche Entscheidungen beeinflusst. In einem Ärzte-Appell fordern 215 Ärzte und 19 Organisationen eine radikale Reform und ein Ende der Patientengefährdung durch Profitdenken.
Gemeinsam mit dem Whistleblower Martin Porwoll, der einen Apothekerskandal um gepanschte Krebsmedikamente aufdeckte, hat Dr. Thöns eine Initiative zur Patientenberatung Zweitmeinung-Intensiv gegründet. Zum Team von Zweitmeinung-Intensiv gehört auch der Intensivpflege-Aktivist und Whistleblower Andreas Herzig, der in langjähriger Recherche unzählige Missstände in der ambulanten Intensivpflege aufdecken konnte.
Die Stimmen der angefeindeten Aktivisten
Dr. Matthias Thöns: "Endlich! Donnerstag, der 5. September 2019 wird ein guter Tag für kranke Menschen in Deutschland sein. Denn an diesem Tag kommt der neue Stern unter dem Titel '215 Ärzte fordern: Mensch vor Profit!' an die Kioske. Als Thöns in seinem Buch "Patient ohne Verfügung" auf die schlimmen Verhältnisse aufmerksam gemacht hatte, musste er dafür viele Anfeindungen über sich ergehen lassen. Es hieß, seine Vorwürfe seien zu pauschal, übertrieben, polemisch oder populistisch.
Martin Porwoll: "Endlich kommt das Thema ans Tageslicht. Wir rechnen damit, dass viele Mediziner und Pflegekräfte nun ihr Schweigen über die Zustände brechen und sich vermehrt bei uns melden." Nachdem er den Bottroper Apotheker-Skandal aufgedeckt hat, war der 46-jährige Familienvater lange arbeitslos und hatte einige Freunde verloren. Zeitweise kämpfte er mit Panikattacken. Porwoll war kaufmännischer Leiter der Apotheke und Kinderfreund seines später verurteilten Chefs. Vielen gilt er als Held.
Andreas Herzig: "Eine Neuregelung der außerklinischen Intensivpflege ist dringend notwendig. Den Menschen in leidvollen Pflegesituationen muss eine Stimme gegeben werden." Wie unmenschlich es dabei zugehen kann, hat er als Fachpfleger für Anästhesiologie und Intensivmedizin sowie als Intensivfachpflegeberater erlebt, außerdem mit dem von ihm mitaufgedeckten "Geschäftsmodell" der Beatmungs-WGs. Das Modell sei extrem anfällig für Betrug, stellte Herzig fest. Es werde sehr viel Geld damit verdient, gleichzeitig würde unterqualifiziertes Personal eingesetzt.
Initiative Zweitmeinung-Intensiv zeigt schlimme Fälle auf
Zweitmeinung-Intensiv widmet sich auch Fragen wie der, ob etwa eine Wirbelsäulen-Operation überhaupt sinnvoll ist. Vor allem aber geht es tagtäglich um sehr schlimme Behandlungsverläufe, hier nur einige Beispiele aus den letzten Monaten, um die es bei der Reportage im Stern geht:
1. Ein 86-jähriger Patient mit Krebs im Endstadium stürzt in der Wohnung, erleidet einen hohen Querschnitt. Er wird operiert, wiederbelebt und langzeitbeatmet, teils festgebunden – alles gegen seinen Willen. Dr. Thöns hat ihn mit Rettungswagen aus der Klinik abgeholt, die Familie ist (wie fast alle) hochdankbar.
2. Ein Neugeborenes wird langzeitbeatmet, eine medizinische Notwendigkeit gibt es zumindest für die letzten Wochen Beatmung nicht. Als sich die Eltern dagegen wehren, macht die Klinik in Berlin eine "Kindswohlgefährdungsanzeige" – die Eltern stehen nun unter Aufsicht. Erst als sich Zweitmeinung-Intensiv einschaltet, wird der kleine Junge entlassen.
3. Eine 94-jährige, sehr schwer von Demenz betroffen, wird in schwerem Leidenszustand langzeiternährt über eine PEG-Magensonde. Auf das von Zweitmeinung-Intensiv erstellte Gutachten hin fasst der zuständige Richter in Lüdenscheid noch am gleichen Tag (!) einen Beschluss, dass die Ernährung abgestellt werden darf.
4. Ein 61-jähirger Mann erleidet im Schwimmbad einen Herzstillstand und wird zu spät wiederbelebt. Rasch ist klar, dass allerschwerste Hirnschäden vorliegen, jede Weiterbehandlung sinnlos ist, doch man überzeugt die Ehefrau, dass trotzdem weiter beatmet wird. Nach einer Intervention von Zweitmeinung-Intensiv an den Chefarzt und den Verwaltungsdirektor wird noch am gleichen Tag die Beatmung abgestellt, der Mann darf sterben. (Dergleichen auch bei einem vielfacherkrankten Patienten in Wolfsburg).
5. Ein 91-jähriger Demenzbetroffener wird nach großer Operation langzeitbeatmet. Die Familie dringt nicht durch mit ihrem Ansinnen, dies zu beenden. Der alte Mann wird festgebunden, leidet entsetzlich. Nach Monaten wird Zweitmeinung-Intensiv eingeschaltet. Man beendet die Beatmung und "vergisst" die Familie vom Tod zu unterrichten. Eine Strafanzeige wurde gestellt.
6. Bei der Begutachtung einer alten Patientin in einem bekannten deutschen Herzzentrum, die bereits vier große Operationen hinter sich hat, stellt Dr. Thöns fest: Bei der letzten gab es bereits Zeichen des eingetretenen Hirntodes.
6 Kommentare
Kommentare
libertador am Permanenter Link
Das Verrückte an Überbehandlung durch Operationen ist, dass eigentlich keiner von dem System profitiert.
Das Schwierige ist vermutlich eine System zu konstruieren, dass solche Fehlanreize vermeidet und gleichzeitig Anreize zum effizienten Arbeiten der Kliniken setzt. Ich glaube nicht, dass alleine Appelle hier genügen. Die Vergütung muss überarbeitet werden und mit klareren Qualitätskriterien verknüpft werden, um unnötige Behandlungen zu vermeiden. Wie das konkret aussehen kann, haben hoffentlich entsprechende Stellen schon besser im Blick.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Das klinische Palliativ-System profitiert.
Höchste Zeit für den Stern-Artikel.
Matatko Hans-Jürgen am Permanenter Link
Nachdem ich den Stern, Mensch vor Profit, gelesen habe ,kann man nur das gesamte Gesundheitswesen in die Mülltonne kippen.Es gibt bessere Alternativen um das Gesundheitswesen auf eine höhere Stufe zu stellen.Es ist dr
Andreas Herzig am Permanenter Link
Liebe Frau Gita Neumann,
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Wer das Buch "Letzte Hilfe von U.C.Arnold" gelesen hat, weiss wie man dieses Problem zum Vorteil der Betroffenen auf humane Weise lösen könnte.
Arno Gebauer am Permanenter Link
Moin,
Krankheit ist das größte Geschäft und Gesundheit das höchste Gut!
In unserem Wirtschaftssystem ist der Profit eine "heilige Kuh".
Mit Profit wird alles - auch das Schlimmste (z. B. Waffengeschäfte, usw.) - gerechtfertigt.
Die Art des Umgangs mit Menschen hängt immer von der Höhe des zu erwartenden
Profits ab.
Viele Grüße
Arno Gebauer