Was wissen wir über den Klimawandel? Stephen Fry – wer war das doch gleich? Und was genau sind eigentlich Staatsleistungen? Die Antworten finden wir mit wenigen Klicks in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. All das ist nur durch das Engagement und Knowhow von vielen Aktivistinnen und Aktivisten möglich. Eine von ihnen ist Annika Harrison. Im Hauptberuf Englisch- und Geschichtslehrerin, engagiert sich die 29-Jährige seit zwei Jahren bei den "Guerilla Skeptics on Wikipedia", einer internationalen Initiative mit dem Ziel, Informationen zu Wissenschaft und kritischem Denken in der Online-Enzyklopädie verfügbar zu machen. Nicht selten bekommt sie es dabei mit Trollen, Edit Wars und Verschwörungstheorien zu tun.
Eine Welt ohne die Online-Enzyklopädie ist heute kaum noch vorstellbar. Als das Projekt 2001 gegründet wurde, war es noch undenkbar, in Arbeiten für Schule oder Uni Belege aus Internet-Quellen zu verwenden. Seither hat sich die Wikipedia heute zur umfassenden Informationsquelle zu wohl allen Wissensgebieten gemausert, nicht zuletzt, weil in der Qualitätssicherung nachgebessert wurde. 2011 gab es sogar eine Initiative mit dem Ziel, Wikipedia als Weltkulturerbe anzuerkennen. Heute gehört die deutschsprachige Wikipedia zu den zehn meistbesuchten Webseiten in Deutschland.
Annika Harrison, von Hause aus Englisch- und Geschichtslehrerin, engagiert sich seit zwei Jahren dort, genauer gesagt: im Projekt "Guerrilla Skeptics on Wikipedia", das Informationen zu Wissenschaft und kritischem Denken in der Online-Enzyklopädie verfügbar macht. Beim "Skeptics in the Pub Köln" berichtete sie am 3. September darüber.
Wohl zwangsläufig wird eine so einflussreiche Einrichtung wie Wikipedia zum Objekt von Verschwörungstheorien. Annika Harrison nannte einige der bedeutendsten. So heißt es, dass die Autoren bezahlt würden und für eine ominöse Elite mit geheimen Zielen arbeiteten. Ist die Wikipedia am Ende eine weltumspannende Organisation, die im Auftrag der Neuen Weltordnung (NWO) unsere Meinung manipuliert? Oder plant sie zusammen mit der GWUP die Weltherrschaft – mithilfe von Psiram?
Unschwer lassen sich hier charakteristische Versatzstücke klassischer Verschwörungstheorien erkennen: die anonyme, skrupellose Herrscherschicht, die das Volk unmündig hält; die Unterdrückung unbequemer Wahrheiten zum Schaden aller. Übersehen wird dabei, dass jede Person mit Internetzugang an der Wikipedia mitschreiben kann. Angenommen, es gäbe die große Wikipedia-Verschwörung: Bei der Vielzahl der User weltweit hätte gewiss schon der ein oder andere das Geheimnis ausgeplaudert ...
Auch die Story von den bezahlten Usern verwies Annika Harrison ins Reich der Mythen. Der Großteil der Wikipedianer arbeitet unentgeltlich. Bezahlt werden nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung, die das Projekt trägt. Aber verfügen die Administratoren nicht über extreme Macht? Hier lohnt ebenfalls ein differenzierter Blick. Zwar können die Admins Seiten "einfrieren", also für eine weitere Bearbeitung sperren, löschen und wiederherstellen sowie IP-Adressen und Benutzerkonten sperren. Bei Fehlverhalten müssen sie jedoch damit rechnen, ihren Status zu verlieren. Zur Schlichtung von Konflikten innerhalb von Wikipedia gibt es ein Schiedsgericht, dessen Entscheidungen bindend sind.
Hinzu kommen weitere Kontrollmechanismen: So kann kein User den eigenen Beitrag selbst freischalten, sondern ist dabei nach dem Vier-Augen-Prinzip auf andere Nutzer angewiesen. Und für Debatten über strittige Textpassagen gibt es Diskussionsseiten, die von jedem Besucher der Seite betrachtet werden können.
Dort geht es bisweilen allerdings heftig zur Sache, wie Annika Harrison schilderte. "Wikipedia steht auf der Seite der Wissenschaft und verbindet dies mit dem Anspruch, möglichst objektiv zu sein." Das bedeutet auch, dass gefährliche Falschbehauptungen auf den Seiten nicht als Fakten präsentiert werden dürfen. Beiträge, die pseudomedizinische Wundermittel wie MMS oder ätzende "Schwarze Salbe" gegen Hautkrebs in der Enzyklopädie als wirksame Medikamente propagieren, werden rasch gelöscht.
Gleichwohl verschwieg Annika Harrison nicht, dass auch bei diesem ausgeklügelten System einiges schiefgehen kann. So sind Fälle bekannt, wo versucht wurde, Artikel durch einen "Freund" freischalten zu lassen oder fürs Editieren bezahlt wurde. Oder die Löschtaste sitzt allzu locker. So wurde eine Sprachaufnahme der bekannten Homöopathiekritikerin und Ärztin Dr. Natalie Grams gelöscht, weil sie die GWUP erwähnte und das als Werbung interpretiert wurde – jedenfalls in der deutschen Wikipedia. Trotzdem kann sich jeder den fraglichen Audioclip anhören – auf der englischen Wikipedia-Seite, die von der deutschen unabhängig ist.
Das Prinzip Wikipedia ist also keineswegs unfehlbar – aber jeder kann dazu beitragen, dass die Qualität der Seiten stimmt. Von den Phantasien der Weltverschwörungsgläubgen ist die Realität der Online-Enzyklopädie jedenfalls meilenweit entfernt. Woher kommen solche Ideen überhaupt? Annika Harrison hat nur eine Erklärung: "Einige Menschen können sich nicht vorstellen, dass es Leute gibt, die freiwillig Zeit und Knowhow investieren, um sich für diese Initiative zu engagieren."
4 Kommentare
Kommentare
Martin Mair am Permanenter Link
Naja, wer die Kontrolle über den Artikel hat, bestimmt letztlich den Inhalt. Kritisches wird oft unterdrückt. Z.B.
struppi am Permanenter Link
Naja, so neutral wissenschaftlich wie es dargestellt wird, ist die Wikipedia mit Sicherheit nicht wenn es um Themen mit politischen Hintergrund geht.
Wenn es sich dabei um die NATO, Israel, Russland oder China dreht wird immer ein starker westlicher Drall in den Artikel eingebaut und auch sehr wehement verteidigt. Dafür reichen wenige Hochaktive Nutzer (bei denen man sich fragt ob die Vollzeit für Wikipedia tätig sind. Wer zigtausend Änderungen in wenigen Jahren macht muss viel Zeit haben oder wird eben vermutlich bezahlt. Daher fragen sich manche, ob das so ist oder nicht.) die eine unüberwindbare Wand bilden. Andere Nutzer werden dort sehr schnell vertrieben, bzw. einfach geblockt/gesperrt. Insofern ist die These einer neutralen Wikipedia nicht nachvollziehbar. Zumindest nicht für jemanden der lange dort aktiv ist.
Und: In der deutschen Wikipedia sind Edits von jedem Nutzer, der eine bestimmte Anzahl von Bearbeitungen gemacht hat sofort sichtbar. Die im Artikel erwähnte Kontrolle gibt es nur bei "Anfänger".
Was Psiram angeht, frage ich mich wirklich, warum eine illegale oder zumindest rechtlich zweifelhafte Seite als Maßstab für politische Einordnunden akzeptiert wird. Es gibt dort kein Impressum und man weiss nicht in welchem Auftrag diese Seite erstellt wird.
Über die Stimmaufnahme von Nathalie Grams bin ich erstaunt. Welchen enzoklopädischen Wert sollte diese haben? Das macht keinen Sinn und ist damit eher ein Beispiel wie Wikipedia für einen persönliche Meinung mißbraucht wird (was auf der engl. Kommentarseite auch erwähnt wird). Es hab auch eine Diskussion darüber auf der dt. WP Seite:
https://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Natalie_Grams#Audioaufnahme
Die Audioaufnahme wurde nicht wegen der Werbung für GWUP gelöscht, sondern wegen "Werbung in eigener Sache" - da sie anscheinend selbst diese Aufnahme eingebaut hat. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Natalie_Grams&diff=177667779&oldid=177664585
Letztlich wurde in der "Fachdiskussion" gesagt, dass Audioaufnahmen z.b. bei Synchronsprecher Sinn macht, was sie aber nicht ist.
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Wikipedia_Diskussion:Artikel_%C3%BCber_lebende_Personen&oldid=189439233#Frage_zu_Audioaufnahmen_%28Voice_Intro_Project%29
Was ich schade finde das nur absurde Theorien erwähnt werden, aber nichts über Geheimdienste und "ThinkTanks" die mit vielen Millarden ausgestattet sind und natürlich auch ein Interesse an so einer Seite haben.
Genau wie grosse Unternehmen. Beispielhaft ist der Artikel über Glyphosat, der gespickt ist mit Relativierungen wie man es sonst bei ähnlich umstrittenen Themen nicht sieht.
Dort wird sonst immer nur eine Wahrheit verkündet und alle Abweichler diffamiert. Das geht dann soweit, dass völlig unbedeutende Menschen eine Seite bekommen, wo sie mit alle zur Verfügung stehenden Mitteln bloßgestellt werden.
Wikipedia als Neutral zu bezeichnen kann nur jemand tun, der die interna gar nicht kennt.
rainerB. am Permanenter Link
Also entweder ist die zitierte Wikipedianerin völlig naiv, unwissend oder mit den Zuständen auf WP in Übereinstimmung.
Welche völlige Schieflage im Kreise eines massiven Kumpelsystems einschl. Admins bis zum erwähnten Schiedsgericht auf der dt. WP besteht, kann jeder auf dem youtube-Kanal 'wikihausen' studieren. Die dt. WP ist insb. im gesellschaftl.-politischen Bereichen in Hand einer sog. Transatlantifa-Junta (Mischung aus überzeugten Transatlantikern und Antifa).
Und das hat überhaupt nichts mit Verschwörungstheorie zu tun. Vielmehr ist dieser Vorwurf ein beliebtes Etikett der Junta, um nicht ins eigene Weltbild passende Personen auf WP zu denunzieren. Ich habe selbst längere Zeit auf WP geschrieben und habe alle diese miesen Ideologietypen kennenlernen dürfen/müssen, deren Treiben bei wikihausen im Detail dargestellt wird.
Andreas Mäckler am Permanenter Link
Weitere Infos ab Dezember 2019 im "Schwarzbuch Wikipedia - Mobbing, Diffamierung und Falschinformationen in der Online-Enzyklopädie, und was jetzt dagegen getan werden muss: https://www.buchhandel.de/buch/Schwarz