"Selbsttötung bleibt eine legitime Option"

Vergangenen Monat veröffentlichte das Christliche Medienmagazin pro ein Interview mit Thomas Sitte, dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Palliativstiftung. In dem Artikel mit dem Titel "Niemand muss verrecken" warf er der "Sterbehilfe-Lobby" vor, gezielt Ängste zu schüren oder gar Lügen zu verbreiten. Außerdem seien Befürworter der Freitodbegleitung oft schlecht informiert. Dieter Birnbacher, Philosophieprofessor an der Universität Düsseldorf, Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung sowie Präsident der "Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben" (DGHS), hat für den hpd eine Antwort verfasst.

Thomas Sitte ist in der Sterbehilfedebatte einer der profiliertesten Diskutanten. Er ist vor allem einer der suggestivsten. Er hat den Vorteil, aus einer reichhaltigen Erfahrung als praktizierender Palliativarzt, der tagtäglich mit Sterbenden umgeht, zu schöpfen, eine Möglichkeit, über die viele, die im Namen des Selbstbestimmungsrechts eine Liberalisierung der Sterbehilfegesetzgebung fordern, nicht verfügen. Anders als dogmatische Vertreter der Anti-Sterbehilfe-Lobby vertritt er eine Reihe von scheinbar liberalen Positionen, die sich allerdings bei näherem Hinsehen als alles andere als liberal entpuppen. Denn der Kern des liberalen Denkens, das Pochen auf das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über die Art und Weise, wie er sterben will, kommt bei ihm nicht vor. Wie bei vielen anderen Palliativmedizinern geht es bei Thomas Sitte ausschließlich um Leidenslinderung. Den Menschen geht es aber nicht nur darum, die Sicherheit zu haben, dass ihr Leiden gelindert wird, sondern darum, so zu sterben, wie sie es sich wünschen und wie es ihrem Lebensentwurf entspricht. Für viele gehört zu diesem Lebensentwurf auch ein gewisses Maß an Skepsis gegenüber dem Versprechen der Palliativmedizin, Leiden in der letzten Lebensphase "so gut wie immer" lindern zu können. Man könnte schließlich zu denjenigen gehören, bei denen genau das nicht gelingt oder versäumt wird. Bei Demenzkranken zum Beispiel bleiben Schmerzzustände nachweislich häufig unerkannt.

Thomas Sitte wirft der "Sterbehilfe-Lobby" vor, mit der Forderung nach Legalisierung des assistierten Suizids bei Schwerkranken mit den Ängsten der Menschen vor einem qualvollen Tod zu spielen. Er selbst hat aber offenbar keine Bedenken, seinerseits mit Ängsten zu spielen, unter anderem mit der Angst vor einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen nach dem Modell der Benelux-Staaten. In Deutschland gibt es jedoch keine "Right-to-Die-Bewegung", die die Legalisierung der Tötung auf Verlangen fordert. Der Unterschied ist gravierend: Bei der Tötung auf Verlangen liegt, juristisch gesprochen, die "Tatherrschaft" nicht mehr beim Patienten, sondern beim Arzt. Diese Praxis – und das zeigt das Beispiel der Niederlande – ist anfällig für Dammbrüche, etwa die Tötung von Demenzkranken, die sich in gesunden Tagen Sterbehilfe gewünscht haben, aber akut nicht mehr einwilligen können. Nach einer Umfrage unter niederländischen Ärzten von 2015 konnten sich immerhin circa 30 Prozent der Befragten vorstellen, einem Patienten mit fortgeschrittener Demenz aktive Sterbehilfe zu leisten. Eine Ärztin, die dies 2016 in einem Pflegeheim bei einer schwer demenzkranken Frau auf der Grundlage einer entsprechenden Patientenverfügung tat, wurde kürzlich vom zuständigen Gericht freigesprochen. Der Unterschied zwischen assistierter Selbsttötung und Tötung auf Verlangen wird aber von Thomas Sitte wie auch von vielen Diskutanten aus dem katholischen Lager leichthin überspielt. Die Hilfe bei der Selbsttötung wird mit der Tötung auf Verlangen in einem Atemzug genannt und damit die negative Besetzung des Begriffs "Tötung" auf die Hilfe zur Selbsttötung übertragen. Dass die Legalisierung der Hilfe zur Selbsttötung zwangsläufig zur Legalisierung der Tötung auf Verlangen führt, ist aber eine unbeweisbare Behauptung.

Auch die These, dass durch eine Legalisierung der Hilfe zur Selbsttötung die Zahl der Selbsttötungen insgesamt zunehmen könnte, ist eher geeignet, Ängste zu schüren als auszuräumen. Denn das stellt die Selbsttötungen, durch die Schwerkranke ihr Leiden verkürzen wollen, in eine Reihe mit den Selbsttötungen, die aus Affektsituationen heraus oder aufgrund psychischer Erkrankungen begangen werden. Niemand kann jedoch ernstlich wollen, dass Selbsttötungen dieser Art, die glücklicherweise seit längerem (in Deutschland wie in der Schweiz) zahlenmäßig zurückgehen, erneut zunehmen. Außerdem stellt eine bei den Zahlen ansetzende Betrachtung die Lage so dar, als seien Selbsttötungen etwas für sich selbst genommen Verwerfliches oder Beklagenswertes. Als verwerflich gelten sie aber im Rahmen eines aufgeklärten Weltbilds schon lange nicht mehr, und beklagenswert sind nicht sie, sondern die Zustände, in denen Menschen meinen, keinen anderen Ausweg zu haben. Diese Zustände so weit wie möglich zu verhindern, ist ein großes Verdienst der Palliativmedizin, die trotz der von Thomas Sitte zu Recht beklagten verbreiteten Unkenntnis inzwischen zunehmend auch von den potenziell Betroffenen gewürdigt wird. Aber auch wenn es nicht darum gehen kann, die Selbsttötung zu heroisieren oder ethisch zu überhöhen, so ist es doch ebenso falsch, sie pauschalisierend abzuwerten. Sie bleibt eine legitime Option und ein von vielen als beruhigend empfundener Notausgang aus einem ungnädigen Schicksal.

"Der Staat soll sich nicht zu viel einmischen" sagt Thomas Sitte im Interview, doch genau das tut der Staat, beispielsweise durch die Einführung des Paragraphen 217 StGB. Im Übrigen hat dieser "Sterbehilfeverhinderungs­paragraph" nur wenige Ängste beschwichtigt und sehr viel mehr geschürt. Die rechtliche Situation wird von Thomas Sitte unverantwortlich verharmlost, wenn er meint, dass Menschen, die im Einzelfall bei der Selbsttötung Beihilfe leisten, von Strafe ausgeschlossen seien. Das Damoklesschwert der möglichen Strafverfolgung schwebt über jedem Arzt, der als Arzt (und nicht etwa als Angehöriger) im Einzelfall Hilfe zur Selbsttötung leistet. Und Patienten wissen, dass sie, wenn sie entsprechende Wünsche äußern, bei ihren Ärzten auch aus diesem Grund im Regelfall eine abschlägige Antwort erhalten. Ihre Leiden ohne ärztliche Unterstützung zu beenden, indem man sich die geeigneten Mittel in der Apotheke besorgt – der Ausweg, der Thomas Sitte vorzuschweben scheint –, ist leichter gesagt, als getan, vor allem in einem schwerkranken Zustand oder als Alleinstehender. Auf diese Möglichkeit zu verweisen, ist jedenfalls wiederum eher geeignet, neue Ängste zu schüren. Denn auf diese Weise sind die auf mangelnde Sachkenntnis zurückgehenden erheblichen Risiken von Fehlanwendungen nicht zu bewältigen.