Andreas Altmann

Louisiana – Mitten hinein in schallende Dummheit

Andreas Altmann hat ein neues Buch veröffentlicht. "Leben in allen Himmelsrichtungen" heißt es und nimmt uns mit auf eine Reise um die ganze Welt. Ein Teil der Reportagen wurde bereits in verschiedenen deutschen und internationalen Magazinen veröffentlicht. Altmann hat sie für das Buch neu überarbeitet und sprachlich angepasst. Der hpd veröffentlicht eine der Reportagen.

Zwei Schwarze küssen sich. Die Farben der Lichtorgel streifen über ihre dunklen Körper, die sich innig umarmen. Alles stimmt, ihre Zuneigung, der Rhythmus ihrer Bewegungen, die Lust in ihren verliebten Augen, das sanfte Gewimmer der Bee Gees. Auf zehn Bildschirmen flimmern Videoclips mit schönen Männerleibern. Tatzeit: kurz nach 23 Uhr, Tatort: eine Homosexuellenbar mit dem sinnigen Namen "OZ", jenem fernen Märchenland, in dem niemand arm ist und krank, in dem keiner sterben muss.

Draußen wartet die Hölle. Wortwörtlich, fast: Einige Meter vom Eingang zum Paradies entfernt stehen Dick und Donald, die Kreuzträger. Mitten in New Orleans, mitten in der Bourbon Street, wo links und rechts nur Sünde und Versuchung lauern. Die beiden sind streng christlich, gehören einer der fünfhundert Kirchen vor Ort an. An jedem Wochenende, nachts, wenn Unzucht und Begier am heftigsten wuchern, schleppen sie ihre Last an. Dann schließt Dick die Batterie an und eine Leuchtschrift flirrt über den Querbalken seines Kreuzes: "Seid auf der Hut, nicht Ehebrecher und Diebe, nicht Betrüger und Homosexuelle" – bei diesem Wort stoppt die Schrift, blinkt dreimal mehrfarbig auf – "betreten das Königreich Gottes. Eher werden sie ins Feuer der Hölle geschleudert."

Donald ist unnachsichtiger. Drei Meter hoch und 30 Kilo schwer ist sein Kruzifx. Er will alle "assfucker" an die Wand stellen und standrechtlich totschießen. Dick nicht. Als ich mich ihm als reuigen (angeblichen) Männerfreund vorstelle, schickt er mich mit dem Auftrag nach Hause, mich "Jesus zu übergeben". Er würde mich umpolen und heilen. Nach dem Übergeben wäre ich "gerettet". Aller Schmutz, aller Druck würde von mir weichen.

Louisiana, Südstaat zwischen Texas und Mississippi. Knapp 126.000 Quadratkilometer, knapp fünf Millionen Einwohner. Wer wüsste ein Land, ein Schlachtfeld, wo heftiger Gott und Satan kämpfen, wo nach dem Leben nur Himmel oder Hölle auf einen warten. Wo dem Menschen alles vergeben wird, nur nicht die drei fürchterlichsten Todsünden: eine schwarze Hautfarbe, eine homosexuelle Neigung, ein jüdischer Glauben. Wo ein Weißer – männlichen Geschlechts (Frausein gilt als lässliche Sünde), Baptist und heterosexueller Familienvater – die besten Aussichten hat, senkrecht ins Himmelreich zu fahren. Wo man alles, was hier in dieser Reportage steht, nie ironisch, nie metaphorisch begreifen sollte, sondern immer als wortwörtliche Beschreibung einer urkomischen, aberwitzigen Wirklichkeit.

Tour de Louisiana. Wir, Fotograf Volker Hinz und ich, werden in Schluchten heiligen Schwachsinns abstürzen, Gipfel der Scheinheiligkeit erklimmen und Rennstrecken reinrassigen Rassismus besichtigen. Am Rande dieser Strecke werden wir anderen Amerikanern begegnen: den Opfern, den Freunden der Opfer und all jenen, die bei Verstand geblieben sind und Widerstand leisten gegen so viel himmelblöd verlogene "Wahrheiten".

Alligator in den Sümpfen von Luisiana, Foto: pixabay.com (Pixabay License)
Alligator in den Sümpfen von Luisiana, Foto: pixabay.com (Pixabay License)

Louisiana ist ein schönes Land.

In New Orleans geht es los. Der Ort ist eine Insel, sie gilt als tolerant. Das hat sicher mit ihren Ursprüngen zu tun, ihrer französischen Geschichte. Und seiner schwarzen Musik, dem Jazz. Der die Wut besänftigt. Die Medien – "alle in jüdischer Hand", flüstert man mir in beide Ohren – geben sich liberal, sind es tatsächlich. Dank einer bis unter die Kniekehlen korrupten Administration behauptet dieser Staat den (landesweiten) Spitzenplatz in Sachen Mauschelwirtschaft und taktvoll stillen Bargeldtransaktionen. Vor den letzten Gouverneurswahlen ließ der Kandidat der Demokraten, Edwin Edwards, Aufkleber mit dem Slogan "Vote For The Crook!", stimm für den Gauner!, verteilen. Er gewann.

Sein Gegner war ein weltberühmter Rassist. Schon früh hängt eine Hakenkreuzfahne in seinem Zimmer. Als Student wird er Chef beim Ku-Klux-Klan, als 39-Jähriger kommt er als ordentlich gewähltes Mitglied ins Abgeordnetenhaus. David Dukes Niederlage für das höchste Amt bestätigt das zuvor Gesagte: Fast 60 Prozent aller Weißen stimmten für ihn und sein unüberhörbar rassistisches Programm. Grund für sein Scheitern war die geschlossene Front schwarzer Wähler. Als potentielle Opfer seiner dunkelbraunen Ideologie wussten sie, wo ihr Feind stand.

Heute vertreibt Duke Lebensversicherungen. Nebenbei sitzt er jeden Tag zwischen 12 und 14 Uhr am Mikrofon einer "conservative radio station", stellt sich als "wiedergeborener Christ" vor und ist ungebrochen von der Schönheit und Unfehlbarkeit seiner "Rasse" überzeugt. Die Vorspannmusik liefern die Heartbreakers mit "I won't back down", ich werde nicht nachgeben. Ich hatte ihn vor Tagen kontaktiert, und er lud mich ein zum Interview.

Wie üblich bei Duke glüht die Telefonzentrale. Andere wiedergeborene Christen rufen an, sprechen sich aus. Ich soll mitreden, bin herzlich – siehe Deutschlandbonus! – eingeladen, das heutige Thema, "the negro problem", zu lösen. Bevor mir eine intelligente Antwort auf das "Negerproblem" einfällt, ruft Jack aus dem Vorort Kenner an und bietet live seinen Lösungsvorschlag an: "Sag den Deutschen, sie sollen uns ihre Nazis rüberschicken. Die schnappen sich dann die Neger, um medizinische Experimente an ihnen auszuprobieren." Andere wollen sie nach Afrika deportieren, andere eine Art Bantustan für die Schwarzen, am liebsten in Alaska, einrichten.

Nie ein Widerspruch des Gastgebers, nie beschwichtigt der nächste Anrufer. Dumpfbacken unter sich.

Ich widerspreche natürlich auch nicht. Weil ich ja wissen will, was in ihren Köpfen vorgeht. Die Rednecks sollen sich aussprechen, sollen unzensiert ihren geistigen Offenbarungseid leisten.

Next stop. Nach der (öffentlichen) Kranzniederlegung an einem Denkmal zur Verherrlichung weißrassiger Freiheitsliebe in New Orleans, hatten Volker und ich das delikate Vergnügen, an einer (privaten) Gartenparty christlicher Übermenschen teilzunehmen. Man war unter sich. Keine "jüdische Hetzpresse" störte mehr, keine Fernsehkamera lief. Ab sofort hießen die Negros jetzt "Nigger", jemand verkaufte T-Shirts mit dem Bild des erschossenen Naziführers George Lincoln Rockwell, dazu einschlägige Literatur. Der anwesende Pastor war so begeistert von der herrschenden Stimmung, dass er zur Gründung einer neuen Kirche aufrief, "to get across the real message".

Eine der Botschaften, so ließ man uns wissen, war die Todesstrafe für "faggots", die schwulen Säue. Damit alles seine Richtigkeit hat, überreichte mir der Gottesmann ein Bibelzitat aus dem dritten Buch Mose: "Wenn einer bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, sollen beide des Todes sterben."

Ich war übrigens auch vom Tode bedroht. Nicht weil ich als Homo verdächtigt wurde, sondern wegen der simplen Bemerkung, nach der Party zum Essen zu gehen. Ray L., Mitarbeiter bei der ultrarechten Postille "The Watchdog", nahm mich zur Seite und klärte mich auf: "Stell dir vor, der Koch ist ein Arschficker und aidskrank. Ein kleines Missgeschick und sein Blut tropft in deinen Salat. Ein paar Monate später bist du tot!"

Wir packen. Fahrt ins 530 Kilometer entfernte Shreveport, Zentrum im Norden Louisianas. Der gilt als noch scheinheiliger – hier leben mehrheitlich Protestanten – als der katholische christliche Süden. Das Autoradio stimmt uns ein. "Religious broadcast" auf allen Fronten. Bibelexegese ("Wie heilig ist der Heilige Geist?"), Fastenkuren ("Abspecken für den Herrn"), Aufklärung ("Abtreibung führt zu Brustkrebs"). Dazwischen "Christian Country Music" ("Oh Jesus, I'm just so crazy about you"), Werbung ("Lass deinen Wagen bei uns reparieren, wir streicheln ihn im Namen von Jesus Christus") und News ("Zwei Frauen wegen 'lüsternem Tanzen' von der Polizei festgenommen").

Andreas Altmann ist derzeit auf Lesereise. Am Montag, dem 28.10.2019 liest er um 20:00 Uhr im Berliner Pfefferbergtheater aus seinem neuen Buch.

Und ein "Special Report". Was jetzt kommt, streift den Irrsinn. Die Führung der Baptistenkirche hat vor einigen Tagen eine Liste veröffentlicht, die – "nach intensiver Feldforschung" – genau festlegt, wer in den Himmel (53,9%) darf und wer in die Hölle (46,1%) muss. Wir beide, Volker und ich, und alle anderen, die "nicht wiedergeboren sind und Jesus nicht als ihren Retter akzeptieren" gehören zur bedrohten Minderheit, sprich: In ewiger Feuersbrunst werden wir geröstet.

Als wir die Stadtgrenze erreichen, berichtet ein Polizeisprecher vom letzten gewaltsamen Tod. Der vier Stunden zuvor stattfand. Wie New Orleans, wie die Hauptstadt Baton Rouge, so hat Shreveport den letztjährigen Totschlagrekord bereits großzügig überholt. Zum "Frieden im Herrn" ist es noch weit. Dass Louisiana ebenfalls zur Spitzengruppe jener US-Staaten zählt, in dem die meisten Patienten mit Geschlechtskrankheiten und die meisten Teenager mit ungewollten Schwangerschaften leben, auch dieser Hinweis sollte nicht überraschen. Solche Zahlen liefern den (uralten) Beweis, dass bigotter Sexualhass, Ahnungslosigkeit und verdruckste Geilheit auf einem Holz wachsen.

In Shreveport brauchen wir nicht zu suchen, wir finden alles sofort. Reverend Billy McCormack von der lokalen University Baptist Church und engster Mitarbeiter von Pat Robertson (einstiger Präsidentschaftskandidat, erzkonservativer Führer der "Christian Coalition" und unermüdlicher Verfechter der in Amerika heilig gesprochenen "Familienwerte") redet nicht mit mir, bevor ich nicht schriftlich bestätige, "niemals seinen Namen im Zusammenhang mit David Duke zu erwähnen". Dann lügt er dreimal, verneint dreimal, dass er den Mann bei den Gouverneurswahlen unterstützt hat.

Ich missachte gern Zusagen, wenn es darum geht, einen Heuchler bloßzustellen.

McCormacks Lügen klingen umso absurder, als ich den ehemaligen "Grand Wizard" des Ku-Klux-Klan bei verschiedenen Gelegenheiten nach seiner Beziehung mit McCormack gefragt hatte und Duke immer wieder bekräftigte: "Ja, er ist ein guter Freund, er hat mir damals sehr geholfen." Natürlich diskret, leise im Hintergrund. Selbst für Christen, die in den Himmel wollen, ist der allzu öffentliche Auftritt mit einem international bekannten Rassenfanatiker – ist man ihm noch so innig verbunden – eher abträglich. Erst recht, wenn die Weltpresse zuschaut.

Das nächste Interview findet mit Bill G. statt. Im Dunklen. Der 34-Jährige will seit Monaten in seinem Haus ein "Homo Information Center" eröffnen. Die Stadt weiß das zu verhindern, indem sie den Strom abdreht. Das funktioniert. Gay sein ist ungesetzlich im Staat. Folglich keine Elektrizität für Gesetzlose. Auch keine Rechte. Erfährt ein Arbeitgeber in Louisiana, dass einer seiner Angestellten Männer liebt, dann darf er ihn feuern. Kündigungsgrund: Homosexualität. Bill spricht es aus: "Die Situation hat sich für uns verschärft. Nach dem Niedergang des Kommunismus sind wir auf den Spitzenplatz der Sündenböcke vorgerückt." Zum Abschied überreicht er mir ein Memorandum mit dem Titel "Hass, Gewalt und Mord in Shreveport", eine detaillierte Zusammenstellung letzter Gräueltaten an Schwulen, Lesben und Bisexuellen.

Tags darauf berät die Schulbehörde. Der Beschluss, in jeder High School ab sofort zwei Metalldetektoren aufzustellen, um rechtzeitig die 14-Jährigen zu entwaffnen, wird anstandslos genehmigt.

Landsitz in Luisiana, Foto: pixabay.com (Pixabay License)
Landsitz in Luisiana, Foto: pixabay.com (Pixabay License)

Der nächste Punkt ist ein einsamer Höhepunkt. Es geht um die zukünftige Sexualerziehung in den Schulen. Die keine Zukunft haben soll. Wörter und Begriffe wie Verhütung, Orgasmus, Kondom, Lust, Klitoris und Erektion darf niemand wissen. Christlich korrekt ist die alles behütende Enthaltsamkeit. In Tateinheit mit fleckenlos keuscher Ignoranz. Ein Beispiel aus der mit 600.000 (!) Steuerdollar erstellten Streitschrift für die Abschaffung der Sexualität soll zeigen, auf welchem Niveau das "Wort Gottes" gelandet ist: ist das Unsägliche nun doch geschehen, hat das Mädchen sich eingelassen auf – wörtlich – "Schuld, Angst, Ärger, Geschlechtskrankheit und Schwangerschaft", dann, ja dann, kann es sich immer noch retten, indem es ja sagt zur, haha, "secondary virginity": YES zur nachträglichen Jungfräulichkeit, YES zur absoluten Verweigerung bis zur Heirat.

Wir dürfen weg, Richtung Osten, Richtung schönes Louisiana. Die Abendsonne, die parkplatzfreien Landschaften, der lupenreine Himmel. Und im Radio die beruhigende Nachricht von Pastor Fred, der weissagt, "dass kein Krokodil dich verschluckt, so lange Jesus bei dir ist".

Zwischenstation in Ferriday, einem Nest, ganz nah am Mississippi-River. "Small town with a big heart", so das Willkommensschild am Ortseingang. Drei bemerkenswerte Dinge sind hier passiert: Vor zwei Jahren stimmte eine überwältigende Mehrheit für David Duke als Gouverneur. Und vor 58 Jahren kamen hier fast gleichzeitig zwei Cousins zur Welt. Einer nicht weniger wahnsinnig als der andere. Der erste, Jerry Lee Lewis, Plattenmillionär, weltberühmter Klavierzerhacker und mit Vorliebe 15-Jährige schwängernd, der zweite Jimmy Lee Swaggart, Plattenmillionär, weltberühmter Bibelprediger und mit Vorliebe verlebte Nutten penetrierend. Beide gingen zur selben Kirche. Die weiße Baracke steht noch immer. Jerrys Lieblingssatz: "Man ist entweder heiß oder kalt, denn den Lauwarmen wird der Herr ausspucken!" Jimmys Lieblingssatz: "Der Herr sprach zu mir!"

Lewis hat sich inzwischen nach Dublin verzogen. Seine Schwester Frankie blieb in Ferriday. Ein starkes Weib, sie spinnt ähnlich produktiv wie ihr Bruder. Als sie mich kommen sieht – ein fremdes Gesicht –, legt sie ihre Smith & Wesson (3.8 Kaliber) bereit und stellt die Browning Automatic, eine zehnschüssige Doppelflinte neben die Kasse. Dann lädt sie uns in ihr Haus. Der Fotograf darf alles fotografieren, ich darf in Jerrys Kinderbett probeliegen. Frankie erzählt hundert Schweinereien und Katastrophen aus der Großfamilie. Dass ihr Cousin Swaggart stets auf Huren "with a hairy ass" flog, das findet sie reichlich ungustiös. Ansonsten ist er ein "fanatical idiot", den sie noch immer mag.

Den fanatischen Idioten, in Baton Rouge tätig, sparen wir uns für später auf. Wir machen einen Umweg nach Ocean Springs, in Mississippi. Auch dieser Bundesstaat unterlässt nichts, um seinen Ruf als Brutstätte religiöser Borniertheit und bösartiger Intoleranz zu behaupten. Die Parallelen zu Louisiana sind frappierend. Schwulenhatz, nur ein Beispiel. Die Vorgeschichte: Todd E. und Luis C., ein Männerpärchen, geben in der 16 000 Einwohner kleinen Stadt – eine schnelle Autostunde von New Orleans entfernt – eine Zeitungsannonce auf, suchen Freunde und Freundinnen, um ein "Community Center" für Homosexuelle, weiblich wie männlich, zu eröffnen. Die bisher von Rechtsaußen als "liberal" verdächtigte Küstenstadt schreit auf. Sodom und Gomorrha drohen. Bürgermeister, Stadträte und das Volk unter Führung von Reverend Paul A. von der First Baptist Church mobilisieren. Ocean Springs muss "clean", muss rein, bleiben.

Am Tag unserer Ankunft findet ein Protestmarsch statt. Organisiert von Todd und Luis. Einige Hundert "Unreine", auch aus Louisiana, Texas und Florida, ziehen durch die Straßen, kämpfen um ihr amerikanisches Grundrecht, sich frei und ungehindert versammeln zu dürfen. Am Straßenrand steht eine Armee Polizisten, dahinter die Reinen. Spärlich durchsetzt von ein paar mutigen (heterosexuellen) Mitbürgern, die ebenfalls ihre Poster nach oben strecken. Eben nicht die Welt wissen lassen, dass "das Römische Reich am Analverkehr zugrunde ging", sondern die Homophilen als "diversity" und "enrichment", als Vielfalt und Bereicherung, begreifen. Am lässigsten macht es Mike, der Lokführer. Als er am Park mit der Schlusskundgebung vorbeifährt, lässt er es lange pfeifen und winkt lachend herüber.

Cover

Aufbruch nach Baton Rouge, Hauptstadt Louisianas. Seit 25 Jahren Bühne und Hauptquartier von Jimmy Swaggart. Er scheint wie kein anderer der Prototyp eines Südstaatlers zu sein: der Charme, die Energie, die Großzügigkeit, die schamlose Heuchelei, der fürchterliche Kampf zwischen seinem Kopf, der Gott wohlgefallen will, und seinem Leib, der ewig gefährdet von satanischer Lust schier unaufhaltsam auf die Pforten der Hölle zurennt. Swaggart hat keinen menschlichen Körperteil übersehen, hat jeden einzelnen mündlich und schriftlich in den Dreck gezogen, ihn mit dem penetranten Gift von Schuld und Sühne besudelt. Jeden, der nicht lebte wie er – der einmal reichste und berühmteste Fernsehprediger aller Zeiten – schickte er zum Teufel: die Juden, die Rockmusiker, die Homosexuellen, die Masturbanten, die Tänzer, die Ehebrecher, die Kommunisten, die Anhänger Darwins, die Abtreiber, in einem Wort, "die Gottlosen". Und Gott war weiß. Und Swaggart war sein Prophet.

Bis zum 17. Oktober 1987. Der Tag, an dem ein Konkurrenzprediger (kurz zuvor von Swaggart ruiniert) ihn in einem schmierigen Motel mit einer Hure ertappte. Die Story ging um die Welt. Mit diebischer Freude und grandioser Geschmacklosigkeit hat das Männermagazin Penthouse – selbst unter Beschuss von Swaggarts Tiraden gegen Pornografie – "the working girl" Debra M. und die Lieblingspositionen des Predigers mit ihr fotografiert. Und veröffentlicht. Dass Jimmy zudem öfter nur als (geübter) Onanist vorbeischaute, sollte nicht mehr überraschen. Ansonsten war – Originalton Debra – "doggy style", von hinten, angesagt.

Swaggart predigt noch immer. Trotz der Tatsache, dass er vor vier Jahren ein weiteres Mal hinter einer Prostituierten kniete und dabei überrascht wurde. Als wir an einem Sonntag, um 10 Uhr, sein riesiges "Family Worship Center" betreten, greint und wimmert und krächzt und verteufelt er so genial und faszinierend wie eh. Auch steht er weiterhin in ununterbrochenem Kontakt mit Jesus: "Während des Frühstücks sprach der Herr zu mir und beauftragte mich, die Frohe Botschaft via TV nach Haiti zu bringen." Was nachließ, sind die Zuschauermassen und die damit verbundenen Geldsäcke, um seinen exorbitanten Lebensstil zu finanzieren. Vorübergehend nachließ, wie man hört, denn die Tendenz sei bereits wieder steigend.

Vox populi, vox Rindvieh.

Der Vormittag endet vergnüglich. Nach über zwei Stunden, wenn die letzten Laller und Heuler unter seiner bis zum Weinkrampf ergriffenen Anhängerschaft verebbt sind, trete ich nach vorne zum Podium. Als Gläubiger. Reporter und Fotografen lässt Swaggart schon lange nicht mehr an sich heran. Ich nähere mich dem 58-Jährigen und frage ihn, ob ich ihm mein bedrückendendstes Anliegen mitteilen dürfe. "Natürlich", lächelt Jimmy nachsichtig. Ich suche nach Worten, stottere, schaffe es endlich: "Mister Swaggart, sorry, aber ich muss dauernd an nackte Frauen denken. Können Sie mir helfen?" Er kann. "No problem", salbadert er sogleich, legt mir die rechte Hand auf den Kopf, legt die andere um meine Schultern, sagt wunderbar ölig: "Lass uns beten. Auf dass der Heilige Geist diese Gedanken in die Hölle schicke und auf dass er Wache hält, damit diese höllischen Gedanken nie mehr zu Andrew zurückkehren." Ich zittere vor Vergnügen, die Lippen fest verschlossen, will unbedingt Contenance bewahren.

Swaggarts Hokuspokus hat nicht angeschlagen. Kaum dass wir achtzig Meilen südlicher in die Bourbon Street von New Orleans einbiegen und Minuten später den "Parade"-Nightclub betreten, da holen mich die höllisch schönen Gedanken erneut ein. Denn dort feiern sie heute, wie jede Woche an diesem Tag. Mit einer Show. Hundert Dollar für den Gewinner und einem Sonnenschirm für das richtige Los. Eine Gay Bar, "gay" wie homosexuell und "gay" wie lustig, bunt und fröhlich. Aber jede und jeder ist eingeladen. Und fünfzehn treten an, steppen, fetzen, singen, strippen, schleudern alles, was sie können, auf die Bühne. Und alle Hautfarben gehören hierher, schwarze, braune, weiße. Und alle Körperformen dürfen mitmachen, Frauen und Männer, halbe Frauen und halbe Männer, ehemalige Frauen und ehemalige Männer. Augenblicke, in denen sich alle mit Louisiana versöhnen. Und nur seine Schönheit sehen, seine Verrücktheit, seinen fantastischen Reichtum. Auch wenn vor der Tür schon wieder Dick und Donald warten. Mit dem Kreuz und der Hölle.

Andreas Altmann, Leben in allen Himmelsrichtungen, Piper-Verlag 2019, 384 Seiten, 16,00 Euro