Interview

Der Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft besteht weiter

Berichte über antisemitische Übergriffe in Deutschland nehmen immer mehr zu. Einen traurigen Höhepunkt bildete der Anschlag auf die Synagoge in Halle im vergangenen Herbst. Anlässlich des heutigen internationalen Tags des Gedenkens an die Opfer des Holocausts sprach der hpd mit dem Politikwissenschaftler, Soziologen und Antisemitismus-Experten Armin Pfahl-Traughber.

hpd: Herr Prof. Pfahl-Traughber, in den vergangenen Monaten wurde häufiger von antisemitischen Übergriffen berichtet. Besonders der Anschlag auf die Synagoge von Halle im vergangenen Herbst ragt da natürlich auf traurige Weise heraus. Hat der Antisemitismus in Deutschland tatsächlich insgesamt zugenommen?

Pfahl-Traughber: Ja, aber da muss man zunächst die Ebenen unterscheiden. Es gibt antisemitische Einstellungen und antisemitische Gewalttaten, die jeweiligen Entwicklungen müssen nicht deckungsgleich sein. Der Blick auf die Statistik zeigt, dass es 2018 einen bedeutenden Anstieg gab, wurden doch bundesweit 1.648 Straftaten gezählt. 2017 waren es 1.504, also 2018 über 10 Prozent mehr. Es gab 2018 62 Gewalttaten, 2017 waren es 37, also um die 40 Prozent mehr. Die Daten für 2019 liegen noch nicht vor. Es handelt sich auch nur um die polizeilich erfassten Fälle, darüber hinaus gibt es eine nur schwer einschätzbare Dunkelziffer. Demnach ist es in der Gesamtschau zu einem Anstieg sowohl allgemein der antisemitischen Straftaten wie der judenfeindlichen Gewalttaten gekommen.

Bei den antisemitischen Einstellungen besteht grundsätzlich das Problem, dass entsprechende Daten nicht einheitlich und nicht regelmäßig erhoben werden. Darüber hinaus ist nicht wirklich jedes genutzte Item auch trennscharf genug. Aber auch hier als Beispiel aus einer Befragung von 2018 zwei Ergebnisse: "Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen" meinten 7,6 Prozent und "Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns" meinten 9,1 Prozent. Im ersten Fall waren 21,5 und im zweiten Fall 20,1 Prozent unentschieden, das heißt sie distanzierten sich nicht eindeutig von diesen antisemitischen Aussagen. Ganz allgemein geht man in der empirischen Forschung davon aus, dass um die zwanzig Prozent der Befragten zumindest latent antisemitische Einstellungen haben. Dieser Anteil ist in den letzten Jahren stabil geblieben, insofern gab es hier weniger Entwicklungen. Indessen nimmt man solche Einstellungen nicht notwendigerweise wahr, zumindest dann nicht, wenn sie in der latenten Haltung verbleiben. Sie artikulieren sich aber offener, wenn die Gemeinten das angesichts einer gesellschaftlichen Stimmung für opportun halten. 

Gibt es überhaupt "den" Antisemitismus oder gibt es in unterschiedlichen Gesellschaften und Gruppen unterschiedliche "Arten von Antisemitismus"? Falls ja, was unterscheidet sie?

Es gibt "den" Antisemitismus tatsächlich nicht. Zunächst lassen sich Einstellungen und Handlungen unterscheiden und dann wiederum weitere Differenzierungen vornehmen. Sie beziehen sich etwa auf latente und manifeste Einstellungen. Bezogen auf die Handlungen wären Beleidigungen und Gewalthandlungen zu unterscheiden. Darüber hinaus findet man Antisemitismus in unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen. Man kann den Blick auf die Mehrheitsgesellschaft wie auf Minderheitsgesellschaften werfen. Nach den Ergebnissen der Sozialforschung zeigt sich, dass insbesondere formal geringer gebildete ältere Männer antisemitische Stereotype aufweisen. Aber auch unter Migranten bestehen derartige Ressentiments. Dies gilt weniger für solche aus dem asiatischen Raum, dafür aber umso mehr für solche aus dem arabischen Raum. Muslime sind in den Umfragen stark vertreten, wobei man differenzieren muss. Die arabischstämmigen Muslime weisen höhere Anteile auf als die türkischstämmigen Muslime. Ansonsten sind auch die Anteile hinsichtlich der politischen Einstellung oder des Wahlverhaltens interessant. Grob lässt sich sagen, je weiter rechts eine Person steht oder wählt, umso eher neigt sie zu antisemitischen Positionen. Umgekehrt gilt: Je weiter links sie steht, desto geringer sind die Anteile. In diesem politischen Lager kommt aber auch einer ausgeprägten Israelfeindlichkeit eine große Relevanz zu.

Nun hört man oft – vor allem aus dem rechten Spektrum – der erstarkende Antisemitismus sei vor allem auf die Einwanderung von Muslimen zurückzuführen. Stimmt das? Und wie sieht es umgekehrt mit dem Antisemitismus bei den Rechten aus? Die AfD distanziert sich beispielsweise offiziell vom Antisemitismus, ja es gibt sogar die Vereinigung "Juden in der AfD".

Die Gründung der letztgenannten Organisation war eher strategisch motiviert. Die AfD kann sich so pro-jüdisch geben, um damit den Antisemitismus-Vorwurf abzuwehren. Denn es gab immer wieder einschlägige Fälle in der Partei, die zu Skandalen führten und die AfD öffentlich schlecht dastehen ließen. So hat man eine Art "Alibieinrichtung" gegründet. Dass es eine solche ist, kann man auch an deren Erklärung ablesen. Denn da ist von Antisemitismus unter Linken und Muslimen auch in eigenen Kapitelüberschriften die Rede. Dass es auch Judenfeindschaft in der Mehrheitsgesellschaft und unter Rechten gibt, kann man so einfacher ausblenden. Gleichzeitig dient diese Auffassung dazu, dass man den Antisemitismus primär den Flüchtlingen oder Muslimen zuschiebt. Dies entlastet scheinbar die eigene Anhängerschaft. Indessen machen Forschungen zum Wahlverhalten deutlich, dass die antisemitisch Eingestellten überproportional die AfD wählen. Damit hat sich die Partei aber nicht näher auseinandergesetzt, weil es ihr wohl zumindest egal ist.

Mit dem Hinweis auf die Judenfeindschaft unter Muslimen wird indessen auf ein reales Problem verwiesen. Umfragen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern machen deutlich, dass es bei Muslimen ein überdurchschnittlich hohes Potential gibt. Die Differenzen zur Mehrheitsgesellschaft lassen sich für viele europäische Länder nachweisen. Lediglich das Ausmaß bei den Unterschieden ist unterschiedlich hoch, etwa in Frankreich höher als in Deutschland. Folgt man auch hier den Daten einer Umfrage, dann verhielt es sich wie folgt: "Juden kann man nicht trauen" meinten 2013 in Deutschland 10,5 Prozent der Christen und 28,0 Prozent der Muslime, in Frankreich 7,1 Prozent der Christen und 43,4 Prozent der Muslime. Dies liegt auch daran, dass in Frankreich mehr arabischstämmige und in Deutschland mehr türkischstämmige Muslime leben. Denn die Antisemitismusanteile in arabischen Ländern sind bedeutend höher als in der Türkei. Es handelt sich hier um ein reales Problem, das auch dem subjektiven Empfinden vieler Juden selbst entspricht, fühlen sie sich doch in Europa immer mehr von jüngeren Muslimen bedroht.

Abgesehen vom Antisemitismus in speziellen Milieus: Wie sieht es in der Mehrheitsgesellschaft mit Antisemitismus aus? Eigentlich möchte man doch meinen, dass eher ein breiter Grundkonsens besteht, der Antisemitismus verurteilt.

Letzteres gilt für das öffentliche Bild, da kann man von einem anti-antisemitischen Grundkonsens schon seit Jahrzehnten sprechen. Es muss wohl nicht erklärt werden, warum dies nach dem Ende der NS-Diktatur für das bundesrepublikanische Selbstverständnis in der westlichen Welt so wichtig war. Bis auf Ausnahmen hielten sich daran auch die Akteure der gesellschaftlichen und politischen Elite, kam es doch ansonsten immer wieder zu entsprechenden Skandalen. Indessen bestand der Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft weiter. Auch hier machen in der Gesamtschau die diversen Umfragen deutlich, dass zwar das Einstellungspotential von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart hinein gesunken ist, dass es aber durchaus auf einem relevanten Wert stagniert. Grob könnte man das von um die 50 Prozent auf um die 20 Prozent beziffern, um jetzt einmal ganz allgemein Daten zur Orientierung zu nennen. Demnach existierte das antisemitische Einstellungspotential über die Jahrzehnte fort, meist aber nur latent und nicht manifest. Für dieses Phänomen haben die Kollegen Werner Bergmann und Rainer Erb den Begriff "Kommunikationslatenz" geprägt. Gemeint ist, dass sich die Einstellungen nicht im öffentlichen, sondern im privaten Raum artikulieren. Etwas eingängiger formuliert könnte man vom "Antisemitismus am Stammtisch" sprechen. Genau dieser hat nach wie vor eine große Tradition und Verbreitung.

Eine Frage, die in Antisemitismus-Diskussionen immer wieder auftaucht ist: Wann bin ich eigentlich Antisemit? Bin ich Antisemit, wenn ich die Politik des Staates Israel kritisiere? Oder wenn ich der Meinung bin, dass es keine religiös motivierten Beschneidungen an nicht zustimmungsfähigen Minderjährigen geben sollte? Wie kann ich feststellen, ob mein Denken antisemitisch ist, obwohl ich mich selbst vielleicht überhaupt nicht für einen Antisemiten halte?

Nein, niemand ist allein Antisemit, weil er die israelische Politik kritisiert. Sofern dies auf der Basis von menschen- und völkerrechtlichen Grundpositionen geschieht, hat dies nichts mit Antisemitismus zu tun. Man muss aber immer wieder genau hinschauen, denn auch Judenfeinde geben sich gern nur "israelkritisch". Hier bedarf es einer Analyse der ideologischen Grundlagen der gemeinten Positionen. Es ist auch hilfreich, wenn man danach fragt, wie die gemeinten Akteure denn zu den israelfeindlichen Mächten der Region stehen. Immerhin gehört zur Staatsdoktrin des Iran, dass der Staat Israel vernichtet werden soll. Die Hamas und Hizb‘ Allah, die gleiche Auffassungen vertreten, schicken regelmäßig Raketen in das Land. Wird zu solchen Dingen geschwiegen, muss die Frage erlaubt sein, wie sich eine solche Einseitigkeit erklärt. Denn man hat es dann doch nicht mit einer glaubwürdigen menschenrechtlichen Grundposition zu tun.

Was die Beschneidungsfrage angeht, da handelt es sich um eine komplizierte Materie. Auch hier gilt zunächst, dass nach den Grundlagen für die jeweilige Position gefragt werden muss. Bei der damaligen öffentlichen Debatte artikulierten auch viele Antisemiten ihre Judenfeindschaft mittels entsprechender Vorwürfe, was der Blick auf die Leserkommentare mancher Zeitungen im Internet verdeutlichte. Gleichwohl kann eine Kritik an Beschneidungen auch aus einer nicht-antisemitischen Perspektive vorgetragen werden. Dabei sollte aber die Gefahr einer antisemitischen Missdeutung der jeweiligen Positionen mit im Zentrum stehen. Es gilt darüber hinaus, die jüdische Selbstwahrnehmung zu berücksichtigen. Halten die Gläubigen die Beschneidung für einen konstitutiven Bestandteil ihrer religiösen Identität, würden sie ein Verbot als Einschränkung ihrer Religionsfreiheit deuten und sich unter Umständen zum Verlassen des Landes genötigt sehen. Es besteht demnach eine komplizierte Dilemmasituation, was womöglich vielen Humanisten bei ihrer Kritik nicht richtig klar war und dann auch zu Missverständnissen geführt hat.

Und noch zu der erwähnten Frage nach der Selbstprüfung: Es geht immer darum, was die Grundlage für die jeweilige Kritik ist. Werden ein Jude, eine jüdische Gruppe oder Organisation oder der Staat Israel kritisiert, weil sie jüdisch sind oder gibt es dafür jeweils Sachargumente. Wenn letzteres der Fall sein sollte, dann müsste auf deren Basis auch die Kritik gegen ähnliche Phänomene mit nicht-jüdischer Zugehörigkeit gerichtet sein. Am Beispiel erläutert: Wer zur Hamas schweigt und Israel verdammt, der muss sich nach seiner Glaubwürdigkeit zu Menschenrechten kritisch befragen lassen. Mitunter handelt es sich um eine Art "Umwegstrategie", womit antisemitische Einstellungen im Gewand von "israelkritischen" Positionen artikuliert werden. Aber dies ist ein weites Feld. Gerade in Deutschland gibt es dazu eine sehr emotionale und polarisierte Debatte, was nicht für öffentliches Differenzierungsvermögen mit entsprechender Sachlichkeit spricht.

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Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er lehrt an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl mit den Schwerpunkten "Politischer Extremismus" und "Politische Ideengeschichte". Promoviert wurde Pfahl-Traughber mit einer Arbeit über antisemitische Verschwörungsmythen. Er gehörte den beiden Unabhängigen Expertenkreisen Antisemitismus des Deutschen Bundestages an und war Mitautor von deren Abschlussberichten. Ansonsten veröffentlicht Pfahl-Traughber auch regelmäßig Analysen zum Antisemitismus, im letzten "Jahrbuch für Antisemitismusforschung" erschien etwa eine längere Abhandlung zum Antisemitismus-Problem von Jeremy Corbyn und der Labour-Partei.

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