Wird Herr Spahn jetzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts genauso ignorieren wie das des Bundesverwaltungsgerichts? Währenddessen melden sich auch die Sterbehilfe-Gegner zu Wort.
In einer Pressekonferenz sagte der Gesundheitsminister (ZDF-Video ab Minute 2:20): "Das Bundesverfassungsgericht hat heute festgestellt, dass es eine Verpflichtung zur Suizidhilfe nicht geben darf. Aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab. Für mein Verständnis gilt das auch für Behörden."
Damit macht er deutlich, dass er aus dem gestrigen einstimmigen (!) Verfassungsgerichtsurteil keine Lehren ziehen möchte und weiterhin vorhat, das Recht zu brechen und auch das Urteil des höchsten deutschen Verwaltungsgerichts zu ignorieren. Es gab Minister, die für weniger ihren Hut nehmen mussten.
"Das Bundesverfassungsgericht hat nicht über die Auslegung des Betäubungsmittelgesetzes geurteilt." Hier baut Spahn einen Strohmann auf; denn darum ging es bei dem gestrigen Prozess auch nicht. Und das weiß der Mann. Für ihn ergibt sich aus dem gestrigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Verbindung mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht, dass "das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den Erwerb eines tödlich wirkenden Betäubungsmittels erlauben muss".
Für jeden, der eins und eins zusammenzuzählen in der Lage ist, ist gestern deutlich geworden, dass die Hinhaltetaktik des Ministers nicht funktioniert hat, der sich vor dem Urteil auf das zu erwartende Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezog und nach dem Urteil – das nicht in seinem Sinne war – plötzlich davon nichts mehr wissen mag.
Spahn sagte bei der Pressekonferenz zu, dass sein Ministerium nun das Urteil genau prüfen werde. Da fragt man sich: Warum eigentlich? Bereits in der Presseerklärung des Bundesverfassungsgerichts heißt es im ersten Absatz:
"Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Mit dieser Begründung hat der Zweite Senat mit Urteil vom heutigen Tage entschieden, dass das in Paragraf 217 des Strafgesetzbuchs (StGB) normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gegen das Grundgesetz verstößt und nichtig ist, weil es die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend entleert." (Hervorhebung durch den Autor)
Was also möchte das Ministerium prüfen? Wir haben seit gestern, 10 Uhr, den Rechtsstand, wie er vor Inkrafttreten des 2015 beschlossenen Gesetzes war. Diesen "ungeregelten" Zustand, wie er nach der gestrigen Urteilsverkündung wieder besteht, möchte Spahn selbstredend nicht hinnehmen. Er will, dass der Bundestag einen neuen Versuch unternimmt, ein als nachweislich verfassungswidrig erklärtes Gesetz doch noch durchzudrücken. "Man muss […] zur Kenntnis nehmen, dass das Verfassungsgerichtsurteil […] den Weg eröffnet für […] Regulierung."
Als eine Journalistin nachfragt, wie Spahn denn nun mit den Anträgen an das BfArM umzugehen gedenkt, entgegnet dieser, dass das Ministerium das prüfen wird. Da fragt man sich, was es da noch zu prüfen gibt bei Vorlage nun zweier höchstrichterlicher Urteile, die Sterbehilfe als Teil der Selbstbestimmung definiert haben. Es sei vom Gericht festgestellt worden, "dass es keinen Anspruch gibt auf Suizidhilfe. Und wenn es diesen Anspruch gegen Dritte nicht gibt, stellt sich eben die Frage – aus meiner Sicht jedenfalls –, ob es diesen Anspruch gegen eine Behörde (gemeint ist hier das BfArM, Anmerkung des Autors) und gegen den Staat geben kann."
Was genau möchte Herr Spahn damit ausdrücken? Dass der Staat und seine Behörden gegen die Wünsche von rund 81 Prozent der Bevölkerung agieren sollen? Oder möchte er einen Schwarzmarkt für Natriumpentobarbital etablieren?
Doch Spahn ist nicht allein. Rückendeckung bekommt er (natürlich) von den Kirchen. So schreibt VaticanNews: "Die Kirchen wollten sich weiter dafür einsetzen, dass 'organisierte Angebote der Selbsttötung in unserem Land nicht zur akzeptierten Normalität werden'." Sowohl die Deutsche Bischofskonferenz als auch der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) haben das Urteil gestern scharf kritisiert. Bei domradio.de darf der Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl erklären, dass er das Urteil für einen Skandal hält und der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf schrieb: "Wir müssen weiter alles dafür tun, dass 'der Sterbende an der Hand eines Menschen stirbt und nicht durch sie'."
Auch der Leiter des Katholischen Büros kritisiert den Karlsruher Richterspruch scharf: "Wir konnten immer davon ausgehen, dass das menschliche Leben in all seinen Phasen unter dem besonderen Schutz des Staates und seiner Gesetze stand. Durch den Karlsruher Urteilsspruch ist diese Gewissheit erschüttert worden." Bei Kritik aus dieser Richtung kann davon ausgegangen werden, dass das Bundesverfassungsgericht gestern ein humanistisches Urteil gefällt hat.
Jedoch gab es auch Beifall für das Urteil: Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, hält eine Beihilfe zum Suizid durch Ärzte für denkbar. Und die SPD-Fraktionsvize Bärbel Bas fordert von Gesundheitsminister Spahn, dass er seinen Widerstand gegen die zur Sterbehilfe nötigen Medikamente aufgibt. Seinen Rücktritt allerdings fordert sie nicht.
Funfact:
Mit dem Ausscheiden von Präsident Andreas Voßkuhle muss ein neuer Verfassungsrichter bestimmt werden. Ausgewählt wurde Stephan Harbarth (CDU), der 2015 für den Paragrafen 217 stimmte.
24 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Dieser Herr Harbarth ist sicherlich Christ und wird auf Druck aller C Parteien und der Kirchen versuchen, das jetzige Urteil zu revidieren.
Damit gäben wir denjenigen das Heft in die Hand, die schon im dritten Reich die Ausrottung der Juden gefordert haben, und sich heute als Lebensschützer aufspielen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Spahn ist ein notorischer Grundgesetzbrecher und Urteilsignorant.
Und somit für einen Rechtsstaat untragbar.
Roland Fakler am Permanenter Link
Wir müssen weiter alles dafür tun, dass die Kirchen in unserer Gesetzgebung nicht ständig ihre bronzezeitlichen Glaubenvorstellungen gegen das Selbstbestimmungsrecht von mündigen Bürgern durchsetzen.
René am Permanenter Link
Warum eigentlich "bronzezeitlichen Glaubenvorstellungen"?
Roland Fakler am Permanenter Link
@ Rene Weil die meisten Glaubensvorstellungen der Christen in der Bronzezeit, 2000 bis 800 vor unserer Zeitrechnung, in Ägypten, Babylon und Palästina entstanden sind.
René am Permanenter Link
@Roland Fakler: Danke für die Antwort. ツ
Irgendwie störte mich der Gedanke, dass ja im Prinzip die Anfänge des Christentums eher danach zu einzuordnen wären.
Mir ist sehr wohl schon bewusst, dass viele Elemente der monotheistischen Religionen aus früheren Kulten kamen. Woher/aus welcher Zeit oder Religion aber gerade die Idee "Gott hat's geben, der Mensch soll's nicht nehmen." kommt, darüber habe ich mir bis jetzt kein genaues Bild gemacht.
Frank Wohlgemuth am Permanenter Link
Um mal ein altes CDU-Muster in einem anderen Zusammenhang aufzugreifen: ;-)
Vielleicht wäre es auch langsam angebracht, eine Initiative zur Aufnahme der Religiosität in die ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) zu starten, um diesen Leuten zu zeigen, dass was man von dieser Art der Bevormundung hält. Religiosität ist - im Gegensatz zur Homosexualität - heilbar.
A.S. am Permanenter Link
Warum wohl wurde Stephan Harbarth für diesen Posten auserkoren?
Die FDP hat sich hier über den Tisch ziehen lassen. Sage ich als FDP-Mitglied.
Wolfgang am Permanenter Link
Herr Spahn ist katholisch! Wundert das dann jemanden noch?
Roland Weber am Permanenter Link
Eine der unverzichtbaren Säulen des Grundgesetzes ist die Gewaltenteilung.
Das Urteil ist klar, verständlich, abgewogen, im aufgezeigten Rahmen ohne große Schwierigkeiten umsetzbar und vor allem human. Man muss nur den Gedanken der Humanität zulassen. Das Urteil trägt vor allem dem Grundgedanken und dem Menschenbild des Grundgesetzes in geradezu vorbildlicher Weise Rechnung. Wer da noch etwas anderes "herausdeuten" will, ist ein Verfassungsfeind und sollte so behandelt werden - wenn's denn sein muss: auch strafrechtlich! Punktum.
Man darf auf das Grundrechtsverständnis der politischen Verantwortungsträger und Parteien gespannt sein. Dass sich die Verwalter menschlicher Notlagen - Kirchen, Apparatemediziner und Pflegeheim-Renditler - in ihren Bestandsverhältnissen und Gewinnerwartungen massiv bedroht sehen, sollte niemanden wundern. Nach wie vor muss niemand vorzeitig sterben, der es nicht will, aber die Verfassung weist dem Einzelnen in dieser Frage für sich selbst die Entscheidungskompetenz zu.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Wenn Richter Parteimitglieder sind und Politiker indoktrinierte Kirchenanhänger, dann sehe ich schwarz für die Demokratie im Lande.
konterkariert.
Wolfgang am Permanenter Link
Wenn Richter Parteimitglieder sind und Politiker indoktrinierte Kirchenanhänger, dann sehe ich schwarz für die Demokratie im Lande.
Schwarz ist das richtige Wort. Man trifft bei dem christlichen Christen-irr.tum immer ins Schwarze.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich fand gut, wie Sandra Maischberger den lieben Herrn Spahn zum Karlsruher Urteil befragte. Sie machte genau den Punkt, der alles erklärt: Spahn ist katholisch verseucht!
Damit beweist Spahn erneut die Gefährlichkeit von Religion, die einem falschen Ideal folgt - und nicht den Interessen der Menschen...
Hans Trutnau am Permanenter Link
Spahn setzt(e) sich über höchstrichterliche Urteile hinweg. Das reicht schon.
Wolfgang am Permanenter Link
Nicht er blockt weiter, er bockt weiter, er kann und darf nicht anders, isser doch katholisch!
Olaf Sventje am Permanenter Link
"Monster Spahn bockt weiter", na wer hätte das gedacht? War ja klar bei dem Typen.
Unechter Pole am Permanenter Link
Vollständige Liste der parlamentarischen Lichtgestalten, die dieses verfassungswidriges Gesetz initiiert (und nicht "nur" dafür votiert) haben, findet sich übrigens hier: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd
N. B. M. am Permanenter Link
Der wichtigste Teil des Urteils steht in dem von Ihnen fett gedruckten Teilsatz, jedoch nicht der juristisch und für die Frage der Abgabe von Pentobarbital u.ä. durch das BfArM interessante Teil:
Sprich, bereits die faktische Einschränkung ist verfassungswidrig. Damit ist Herrn Spahns Frage obsolet, denn somit hat natürlich der Bürger gegenüber Behörden zwar nicht den Anspruch direkt Hilfe zu bekommen, jedoch den Anspruch, dass diese nicht faktisch unmöglich gemacht wird. Das BfArM muss folgerichtig zumindest Anträge prüfen und zulassen, sofern nicht schwerwiegende Gründe wie Demenz o.ä. dagegen sprechen, wenn nicht sogar die individuelle ärztliche Entscheidung zum Verschreiben des Medikaments vorbehaltlos zulassen....
Dr. Ingeborg Wirries am Permanenter Link
Was sich nicht alles aus der Bibel herauslesen läßt: Das sagen Kirchenfunktionäre zum BVG-Urteil (Hannoversche Allgemeine Zeitung; 27.2.2020):
*** Propst Christian Wirz: "Wir respektieren das Selbstbesimmungsrecht todkranker Menschen....aber Sterbehilfe darf nicht zur Normalität oder, schlimmer noch, zu einem alltäglichen Geschäft werden."
*** Ev. Landesbischof Ralf Meister mit ganz eigener Logik: "Da ich an das ewige Leben glaube, habe ich auch die Rechtfertigung, den Zeitpunkt und die Art und Weise, wie ich sterbe, mitzugestalten."
= Welch krude Theologen-Logik! Theologen-Rabulistik! Herumgeeiere mit der Bibel in der Hand! Eine Zumutung für jeden denkenden Menschen! Was gilt denn nun - die evangelische oder die katholische Version von "Christsein"? Die beste Antwort: Raus aus diesem verlogenen "Christenverein", dem Menschlichkeit und Humanität nichts, gar nichts gilt! Der tausendundeinste Grund zum Kirchenaustritt! Am besten sofort!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Chapeau Fr. Wirres, besser und deutlicher kann man es nicht ausdrücken, wie in Ihrem letzten Abschnitt.
Iris am Permanenter Link
Klar darf Herr Spahn die Suizidhilfe unterlassen. Das hat das Verfassungsgericht völlig richtig festgestellt: Niemand darf zur Suizidhilfe verpflichtet werden.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ein klares Statement zum Verhalten unseres Glaubenskranken Gesundheitsministers, solche Leute gehören aus den Machtstellungen in unserer Demokratie entfernt.
Iris am Permanenter Link
Tja, wenn das nur mal alle Wählerinnen und Wähler konsequent machen würden.
Lila Grütze am Permanenter Link
Habe zuerst gelesen: "Minister Spahn bockt weiter" statt "... blockt weiter.". Scheint mir aber inhaltlich trotzdem nicht falsch zu sein ...