Wie sehr die Entchristlichung der Ritualkultur bei Taufen und Bestattungen voranschreitet, welche Entscheidungsprobleme dies den Feiernden auferlegt und ob den Veränderungen eine humanistische Tendenz innewohnen könnte, dies behandelt der soeben bei Alibri erschienene 7. Band "Rituale im Übergang" in der von Horst Groschopp herausgegebenen Reihe "Humanismusperspektiven". Mit Autor Stefan Busch sprach Martin Bauer.
hpd: Sie haben Ihr Buch, wie zu lesen ist, aus einem Dilemma heraus geschrieben. Worin bestand es?
Stefan Busch: Der Ausgangspunkt war der Wunsch meines Sohnes, sich taufen zu lassen. Meine Frau und ich kommen zwar aus evangelisch beziehungsweise katholisch geprägten Familien und Gegenden Westdeutschlands, aber das ist – biografisch beschleunigt durch unsere Werdegänge und Ortswechsel – eine Sache der Vergangenheit. Wir haben es nicht mehr, wie es bei Gottfried Benn heißt, mit Gotteskindschaft, Sinn und Zweck. Was macht man dann aber, wenn das heranwachsende Kind mit dem Wunsch kommt, getauft und konfirmiert werden zu wollen? Das war es, was unser Sohn in der weiteren Familie und unter den Klassenkameraden sah. Stehen dann Überzeugungen im Vordergrund? Oder sieht man dies als soziales und psychologisches Phänomen?
Hat das Buch zur Klärung beigetragen?
Sicher, aber für die konkrete Frage unseres Sohnes kommt es natürlich etwas spät. Zwischen seiner Frage und dem Abschluss des Buchs sind drei Jahre vergangen. So viel Zeit zu überlegen hat man im Familienleben ja nun nicht. Aber dennoch: ja, ich denke, ich verstehe jetzt besser, was um uns herum – in westdeutschen Verhältnissen – diesen seltsamen Schwebezustand im Verhältnis der Menschen zu den Kirchen produziert. Es muss ja stärkere Gründe geben, jenseits von Trägheit und Kirchensteuervermeidung, für die (relativ) stabile Schräglage der Kirchen hierzulande. Die Kirchen sind sonntags leer, und für Jungfrauengeburt und Dreieinigkeit haben die allermeisten nur noch ein müdes Lächeln übrig. Aber die Kinder bleiben im Religionsunterricht, und der Wunsch, dass es ein Taufritual geben solle, bleibt allgemein in der Gesellschaft stark ausgeprägt. Und ein säkularer "Ersatz", der auch weithin akzeptiert wird, hat sich nicht etabliert.
Könnten Ihre Entdeckungen und Erfahrungen nützlich sein, für wen und wieso?
Ich hoffe doch. Viele finden sich ja mit ähnlichen Fragen konfrontiert. Man ist halb drin in der Kirche und halb draußen. Meistens, oft über Jahre, kann man recht ungestört in diesem unentschiedenen Schwebezustand bleiben. Und es ist ja auch fürs eigene gesellschaftliche Leben eine pragmatische Entscheidung: Man kann weiterleben wie bisher, mit allen Gewohnheiten, im alten sozialen Netzwerk, mit allen Feiern und Ritualen. Es ist aber auch eine Entscheidungsvermeidung. Aber dann kommen die Zeiten, in denen es hakt und man eine Wahl treffen muss. Taufen oder nicht? Und wie stellt man sich die eigene Beerdigung vor? Kirchlich oder nicht. Da ist es schon interessant, dass bis zu zwanzig Prozent der Kirchenmitglieder sich nicht mehr kirchlich bestatten lassen. Von solchen Entscheidungen – im Stillen getroffen, aber zu Lebzeiten nie kommuniziert – wird dann unter Umständen die eigene Familie überrascht.
Ihr Buch ist also auch eine Art Ratgeber?
Ich hoffe doch, nicht beratungsresistent zu sein. Oder zumindest hoffe ich, lernfähig und für neue Einsichten offen zu sein. Aber Ratgeber lese ich nicht, und ich hoffe auch, keinen geschrieben zu haben. Was sollte auch der Rat sein: "Hier erfahren Sie, wer seine Kinder taufen lassen sollte und wer nicht"?
Wenn das Buch gelungen ist, dann stellt es auf gut lesbare, vielleicht auch unterhaltsame Weise wesentliche Aspekte der Sachlage dar, und es macht auch mit wissenschaftlichen Ansätzen bekannt, zum Beispiel aus der Religionssoziologie, die den "halb säkularen Zustand" unserer Gesellschaft zu erklären versuchen. Ich habe für mich – als fachfremden Laien – ein besseres Verständnis gewinnen wollen, was in dieser Hinsicht um mich herum geschieht. Wenn es anderen hilft, dies auch besser zu verstehen, sehr gut. Aber ohne Ratgebertum und -tonfall.
Sie gehen ausführlich auf Trauerfeiern für Personen des öffentlichen Lebens ein, wie für Helmut Schmidt und Rudolf Augstein. Was ist hieran ablesbar?
Solche großen Feierlichkeiten für "Personen des öffentlichen Lebens" bedeuten für Staat und Gesellschaft immer auch einen Testfall, wie man es im Lande mit der Religion halten kann, ohne dass es anstößig wird. Dem oder der Verstorbenen ist zum einen gerecht zu werden; es gibt zudem die staatlich-institutionellen Vorgaben und Traditionen; und es gibt außerdem die Erwartungen, aber auch Akzeptanzschwellen, der breiten Öffentlichkeit. Das ist alles einigermaßen in Einklang zu bringen, wenn es nicht zu Missklängen oder auch unfreiwilliger Komik kommen soll.
Bei der öffentlichen Abschiedsfeier für Rudolf Augstein – im Hamburger Michel – ist dies gründlich schiefgegangen. Das war eine Farce. Bei der Feierlichkeit für Helmut Schmidt – ebenfalls im Michel – hat es funktioniert. Und das nicht obwohl, sondern weil Schmidts Distanz zum Christentum allgemein bekannt war. In Zeitungen hatte es Überschriften gegeben wie "Helmut Schmidt glaubt nicht mehr an Gott". Dennoch fand die Feier in einer Kirche statt. Da wurde dann aber auch der "Der Mond ist aufgegangen" gesungen. Die Spannung von Weltlichkeit und Religion ist offensichtlich, aber diese Widersprüche wirkten nicht gegen die Akzeptabilität, sondern stellten sie her.
Das Buch enthält auch Interviews. Das ist eher ungewöhnlich bei solchen Publikationen. Wie kam es dazu?
Das Projekt hatte ja von vornherein nichts Akademisches. Das Buch entstand in vielen Gesprächen. Ich habe den Austausch gesucht, aus Neugierde und um zu lernen und in Dialogen Klarheit zu gewinnen. Es war dann naheliegend, ausgewählte Gespräche ins Buch hineinzunehmen. Das macht es lesbarer, unmittelbarer und abwechslungsreicher. Ein wenig Theorie wechselt ab mit Berichten aus der Praxis. Eines der letzten Kapitel enthält zum Beispiel ein Gespräch mit einem freien Redner, also einem Gestalter von nicht-kirchlichen Ritualen. Für diesen Redner, den ich im Zug meiner Recherchen kennengelernt habe, sind Trauerfeiern zur Hauptbetätigung geworden. Für mich war das Thema Neuland. In dem Gespräch wurde einiges klarer. Es ging darin um verschiedene Aspekte. Wer beauftragt ihn? Was wünschen sich die Leute für solche weltliche Feiern? Von diesen Dingen kann ein Praktiker am besten direkt berichten.
Ihr Herangehen an viele Probleme dieses Ritualwandels unterscheidet sich von strengen atheistischen Positionen in der "säkularen Szene". Worin sehen Sie selbst Unterschiede?
Kann man denn auf mehr oder weniger strenge Art atheistisch sein? Wer ein bisschen Atheist ist, ist es doch nicht. Wenn ich aber den Maßstäben der strikt Säkularen nicht genüge, dann wohl, weil ich bei den Kämpfen gegen Gottesglaube und Religion eine Blickverengung befürchte.
Da sind wir wohl beim Thema Kreuz. Sie haben mit Horst Groschopp, Ihrem Herausgeber, eine Diskrepanz in Sachen "Kulturbedeutung des Kreuzes", auf die Sie im Buch ausführlich eingehen. Welches Denken wollen Sie hiermit anregen?
In dem Kapitel "Es ist schon ein Kreuz" stelle ich Überlegungen an zur Bedeutung des Kreuzes als Todessymbol. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es nicht akzeptabel ist, wie die staatliche Praxis hinsichtlich religiöser Symbole im öffentlichen Raum die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterhin ignoriert. Kreuze gehören nicht in Klassenräume oder in die Eingangshalle von Rathäusern. Der "Söder-Erlass" ist ein populistischer Rechtsbruch.
Aber ich zweifele an der Weisheit – und an der Notwendigkeit – der instinkthaften Ablehnung des Kreuzes in jeder Form und an jedem öffentlichen Ort durch die Säkularen. Das Kreuz gehört schon lange nicht mehr den Christen. Man sieht das an den Unfallkreuzen am Straßenrand. Auch im säkularen Osten Deutschlands bringen die Menschen solche Kreuze an Orten an, wo sie geliebte Angehörige bei einem Verkehrsunfall verloren haben. Die Säkularen sollten damit nicht hadern. Sie begeben sich sonst auch nur unnötig in die Defensive, in unhaltbare Positionen. Und sie haben doch schon gewonnen: Im Kontext des Todes verweist das Kreuz in immer mehr Köpfen nicht mehr auf Jesus und Auferstehung, sondern auf Tod und Sterblichkeit allgemein.
Sie glauben, dass das lateinische Kreuz – in der "Reinform" also, ohne Korpus – als "Memento mori" eine Symbolfunktion unabhängig von der Religion annehmen kann?
Das hat es doch schon. Man kann auch mit einer Gegenfrage antworten. Wodurch wäre das Kreuz an Unfallorten – auf Böschungen und an Straßenrändern – denn "strikt säkular" zu ersetzen? Leerstellen gingen ja kaum. Barocke Skelette im Totentanz? Möbiusbänder? Das wäre doch komisch und überanstrengt.
Ihr Buch erscheint in der Reihe "Humanismusperspektiven". Wenn das, was Sie über Kreuze ausführen, in der weiteren Diskussion zustimmungsfähig wäre, hätte dies ja weitgehende Auswirkungen auf die Debatten um den Humanismus und sein Verständnis. Wie ist ihr Blick darauf?
Ich habe es nicht so mit Grundsatz- und Identitätsdiskussionen. Wer ist Humanist? Was ist Humanismus? Solche Debatten sind zu bestimmten Zeiten wohl notwendig, damit sich neue Gruppen bilden und Initiativen Fahrt aufnehmen können, aber sie bringen auch die Gefahr unnötiger Begrenzung mit sich. Ich denke, und ich finde es ermutigend, dass die Menschen hierzulande in der Praxis weiter sind als die Debatten. Man kann das eben an der säkularen Aneignung des Kreuzes festmachen, aber etwa auch daran, wie die Menschen in der Corona-Krise reagieren und handeln.
Über den Autor:
Dr. Stefan Busch (Jahrgang 1966, Heidelberg) studierte Germanistik, Philosophie und neuere Geschichte in Mainz und Pittsburgh, promovierte 1997 in Mainz über NS-Autoren (Und gestern, da hörte uns Deutschland, 1998), lehrte und forschte im Ausland und ist heute im wissenschaftlichen Verlagswesen tätig. 2004 erschien Verlorenes Lachen. Blasphemisches Gelächter in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart.
Stefan Busch: Rituale im Übergang. Über Taufen und Trauerfeiern in der konfessionsfreien Gesellschaft. Hrsg. und mit einem Nachwort von Horst Groschopp. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2020, 149 S., ISBN 978-3-86569-211-5 (Humanismusperspektiven, Band 7), 17,00 Euro
4 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
In ziemlich katholischer Umgebung lebend habe ich in die Taufe meiner Kinder eingewilligt, um ihnen Mobbing in der Schule zu ersparen.
In höheren Klassen hatte ich mich mit ihnen darauf geeinigt, den Religionsunterricht zum heucheln lernen zu nutzten, eine Qualifikation, die man im Leben braucht.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Um ihnen Mobbing in der Schule zu ersparen, genau darauf setzen die Pfaffen, anders können sie ihr verschwurbeldes Weltbild nicht aufrecht erhalten.
werter A.S. das hat mich jetzt doch etwas irritiert.
A.S. am Permanenter Link
Sehr geschätzer Herr Baierlein,
schauen Sie sich mal unsere Politiker und Bischöfe an. Dann werden sie verstehen, warum ich das "Heucheln können" als nützliche Qualifikation für's Leben bezeichne. Als nützlich, nicht als moralisch wertvoll.
Die religiösen Heuchler verkaufen uns den Religionsunterricht als "moralisch wertvoll". Darauf schülerseitig mit bewusster Gegenheuchelei zu antworten erscheint mir angemessen.
arnulf am Permanenter Link
Das Kreuz scheint vom Autor willkürlich "säkularisiert" worden zu sein.