Missbrauchsskandal

Der Vatikan pflegt seine Paralleljustiz

Die katholische Kirche hat eine Handreichung zum künftigen Umgang mit Missbrauchsfällen herausgegeben. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass der Vatikan den Kern des Problems noch immer nicht erfasst hat und doch wieder nur versucht, das strukturelle Problem Missbrauch mit ebendiesen Strukturen zu beheben. Eine kritische Analyse.

Donnerstag vergangener Woche veröffentlichte die Glaubenskongregation – die ehemalige Inquisitionsbehörde des Kirchenstaats – einen Leitfaden, der laut VaticanNews dazu gedacht ist, Bischöfen und Ordensoberen praktische Hinweise an die Hand zu geben, wie sie mit Missbrauch in der Kirche umgehen sollten sowie zur Orientierung bei kirchlichen Gerichtsverfahren. Er geht auf entsprechende Forderungen im Zuge des sogenannten "Kinderschutz-Gipfels" vor knapp anderthalb Jahren zurück, der angekündigte konkrete Maßnahmen damals schuldig blieb.

Wer jetzt anerkennend feststellen möchte, dass der Vatikan endlich seinen Versprechen Taten folgen lässt, sollte sich nicht zu früh freuen. Denn das gesamte Dokument bezieht sich ausschließlich auf kanonisches Recht, also auf die kircheneigene Paralleljustiz. Der Tenor der gesamten Handlungsanweisung klingt dabei verdächtig nach dem altbekannten Mantra, möglichst zu versuchen, das Ganze innerhalb der Kirchenmauern zu halten.

Im Einzelnen wird in neun Kapiteln unter anderem erklärt, was eine Straftat ist, was bei Kenntnisnahme zu tun ist, wie eine Voruntersuchung durchzuführen sei und welche Verfahren und Entscheidungen innerhalb eines kirchlichen Prozesses möglich sind. Schon ein Satz ganz zu Beginn offenbart einen Grundsatzfehler katholischen Denkens, der trotz einer langen Geschichte von Erklärungsversuchen immer noch da ist: Die Rede ist vom Selbstverständnis, dass "jedes dieser Delikte für die ganze Kirche eine tiefe und schmerzhafte Wunde" darstelle, "die der Heilung bedarf". Nach wie besteht hier also eine völlig deplatzierte Haltung darüber, wer der Geschädigte von Missbrauch ist. Ohne es zu merken, offenbart die Gemeinschaft der alten Herren einmal mehr, dass eben nicht, wie VaticanNews schreibt, der Opferschutz der "zentrale Punkt" ist, sondern die Schadensbegrenzung an der Täterorganisation. Der Blickwinkel ist noch immer der gleiche – und der falsche.

Auch anonyme Hinweise können jetzt ernst genommen werden

Eine Errungenschaft scheint in den Augen der Kirchenmänner die Festlegung zu sein, Betroffene und ihre Familien mit Würde und Respekt zu behandeln – für die selbsternannten Patentinhaber der Nächstenliebe offenbar keine Selbstverständlichkeit. Eine weitere bahnbrechende Neuerung besteht darin, dass künftig allen Verdachtsfällen nachgegangen werden soll. Auch, wenn sie anonym sind, auf "sich häufenden Gerüchten" beruhen oder die Anhänger der 2000 Jahre alten Hirtenmythologie über die sozialen Netzwerke erreicht. Die Anonymität des Anzeigenden dürfe nicht dazu führen, dass die von ihm stammenden Hinweise automatisch für falsch gehalten würden, heißt es im vatikanischen Handlungsleitfaden. Keinesfalls dürfe jedoch zu anonymen Beschuldigungen ermutigt werden.

Und was, wenn ein Geistlicher im Rahmen einer Beichte von einem Missbrauch erfährt? Da wird auf die strenge Bindung an das Beichtgeheimnis verwiesen: "Es wird daher nötig sein, dass der Beichtvater, der während der Feier des Sakraments über ein delictum gravius ("schweres Vergehen" Anm. d. Red.) informiert wird, versucht, den Pönitenten (den Beichtenden, Anm. d. Red.) zu überzeugen, seine Informationen auf anderen Wegen bekannt zu geben, um den Zuständigen in die Lage zu versetzen, zu handeln."

Immerhin: Wer der Pflicht zur Voruntersuchung von Hinweisen nicht nachkomme, könne sich strafbar machen, kann man in der Handreichung ebenso lesen. Man bemüht sich, Zuständigkeiten zu klären, damit das Hin- und Herschieben von Verantwortung ein Ende hat und fordert zur Kooperation mit staatlichen Behörden auf. Und es wird klargestellt, dass mutmaßlichen Geschädigten, der Person, welche Meldung erstattet, sowie Zeugen keine Schweigepflicht auferlegt werden kann. Darüber hinaus wird von der lange Jahre üblichen Praxis der Versetzung Beschuldigter in andere Gemeinden als Problemlösung abgeraten.

Auf zu viel Kontrolle soll jedoch verzichtet werden: "Die Ausübung der dem Ordinarius oder Hierarchen zukommenden Aufsichtspflichten sieht nicht vor, dass er ständige Kontrollen und Untersuchungen zulasten der ihm unterstellten Kleriker durchzuführen hat." Er solle sich "über die Verhaltensweisen in diesem Bereich auf dem Laufenden" halten – in erster Linie aber erst dann, "wenn er von Verdachtsmomenten, von skandalösem Betragen oder von die Ordnung auf schwerwiegende Weise störenden Verhaltensweisen Kenntnis erhalten hat". Prävention ist das nicht.

Bei "unangemessenen oder unklugen Verhaltensweisen" sollen verwaltungstechnische Maßnahmen wie die Beschränkungen der Amtsausübung oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, ergriffen, Ermahnungen ausgesprochen oder sogenannte "Strafsicherungsmittel" erlassen werden. Im kanonischen Rechtskodex heißt es dazu: "Demjenigen aber, aus dessen Lebenswandel ein Ärgernis oder eine schwere Verwirrung der Ordnung entsteht, kann er [der Ordinarius] auch einen Verweis in einer Weise erteilen, die den besonderen Verhältnissen der Person und der Tat entspricht."

"Was ist eine Straftat?"

Wenn es um die Festlegung dessen geht, was nach kanonischem Recht eine Straftat ist, sei hervorzuheben, dass der "Erwerb, die (auch vorübergehende) Aufbewahrung und die Verbreitung pornografischer Darstellungen von Minderjährigen unter 14 Jahren (seit dem 1. Januar 2020: unter 18 Jahren) (…) kanonisch nur ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens von SST (Sacramentorum sanctitatis tutela, Anm. d. Red.), also seit dem 21. Mai 2010, strafbar sind". Vorher war allein die Herstellung von Pornografie mit Minderjährigen eine Straftat. 2010 ist das Jahr, da der Missbrauchsskandal ans Licht der Öffentlichkeit gelangte, die meisten bekannten Missbrauchsfälle fanden früher statt, die allermeisten sind bereits verjährt. Kleriker, die vor diesem Datum Kinderpornografie besessen oder verbreitet haben, haben also auch von der kirchlichen Paralleljustiz nichts mehr zu befürchten.

Eine Straftat im Bereich des sexuellen Missbrauchs wird als Verstoß gegen das sechste Gebot gewertet ("Du sollst nicht ehebrechen") und kann zur Suspension oder zur Entlassung und somit zum Erlöschen der Gelübde und zu einem Weihe-Ausübungs-Verbot des Täters führen. Ein Schlupfloch bietet die Möglichkeit, in Vorwärtsverteidigung zu gehen und per sogenanntem "Dispens" selbst die Entbindung von allen Pflichten des Klerikerstandes zu erwirken. Dann nämlich und wenn der Beschuldigte diesen schon aufgrund einer anderen Verurteilung verloren hat, möge man abwägen, "ob es angebracht ist, die Voruntersuchung aus pastoraler Liebe und wegen der Forderungen der Gerechtigkeit gegenüber den mutmaßlichen Opfern zu Ende zu führen". Denn: Der Angeklagte muss zum Zeitpunkt der etwaigen Straftat – und nicht zum Zeitpunkt des Verfahrens – Kleriker gewesen sein.

Dass es auch eine weltliche Justiz gibt, die man zu Rate ziehen könnte, wird in einem Nebensatz erwähnt: "Auch in Ermangelung einer ausdrücklichen gesetzlichen Verpflichtung soll die kirchliche Autorität bei den zuständigen staatlichen Behörden Anzeige erstatten, wenn sie es zum Schutz der geschädigten Person oder anderer Minderjähriger vor der Gefahr weiterer verbrecherischer Akte für unverzichtbar hält." Mit anderen Worten: nur in Ausnahmefällen. Ansonsten werden die staatlichen Behörden jedoch nur aus einer passiven Haltung heraus thematisiert.

Der vormoderne Kirchenstaat vermag einfach nicht zu begreifen, dass er selbst Teil des Problems ist und daher mit seinen internen Strukturen nicht in der Lage sein wird, es zu lösen. Da ist definitiv noch Luft nach oben beziehungsweise nach außen. Es ist ja auch erst "die erste Version 1.0". Aber es gibt auch Positives zu entdecken: Es solle alles vermieden werden, "was von den mutmaßlichen Opfern als Behinderung in der Ausübung ihrer Rechte gegenüber den staatlichen Behörden verstanden werden könnte". Es findet sich gar ein Satz in der Handlungsanweisung, der das weltliche Gesetz ausdrücklich anerkennt: "Die staatlichen Gesetze müssen respektiert werden." Dieser Satz sollte ganz oben stehen, fett gedruckt und mit Ausrufezeichen. Schön wäre auch ein darüberhinausgehendes, proaktiveres Verhältnis gegenüber der weltlichen Justiz. Vielleicht kann sich die katholische Kirche ja in einer der Folgeversionen des Regelwerks dazu durchringen.

Hier ist der vollständige Handlungsleitfaden auf Deutsch nachzulesen.

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