Die italienische Philosophin Cinzia Sciuto kritisiert aus laizistischer und menschenrechtlicher Blickrichtung in ihrem Buch "Die Fallen des Multikulturalismus" die Identitätsdiskurse der politischen Linken, die hier auf Gemeinschaftsidentität und nicht auf Individualität setzen. Die Autorin bringt damit eine Perspektive ein, die in der emotionalisierten und polarisierten Debatte zum Thema häufig fehlte und sehr lesens- und reflexionswert ist.
Die Auffassung, wenn man den politischen Horizont im Multikulturalismus sehe, habe man es nicht mit etwas Progressivem zu tun, erstaunt. Denn derartige Einschätzungen erwartet man nicht von Fortschrittlichen, sondern von Konservativen. Diesen Kommentar formulierte indessen eine bekennende Linke: die italienische Publizistin Cinzia Sciuto, promovierte Philosophin und Redakteurin für MicroMega, ein italienisches Magazin für Philosophie und Politik. Im deutschsprachigen Bereich ist sie durch Kommentare in der taz oder auf 3sat bekannt geworden. In dem Buch "Die Fallen des Multikulturalismus. Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft" geht Sciuto sogar noch weiter, formuliert sie doch als dessen Kernaussage: "Der multikulturalistische Ansatz ist ... essenzialistisch, und als solcher inhärent reaktionär und rassistisch" (S. 138). Damit hat man es mit einer harschen Bewertung zu tun, welche die Autorin über inhaltliche Umwege zu begründen versucht. Dabei bedient sie sich immer wieder der Ideologiekritik des Kritischen Rationalismus.
Ausgangspunkt für ihre Betrachtungen ist der Laizismus, stelle er doch für eine Demokratie eine bedeutsame Voraussetzung dar. Der Säkularismus reicht Sciuto insofern nicht, geht es ihr doch um eine Privatisierung der Religionen. Sie betont dabei, dass sich diese Auffassung nicht gegen die Gläubigen, aber gegen das Fürwahrhalten für das öffentliche Leben richte. Dabei wird auch die Forderung erhoben, das Innere von Religionsgemeinschaften dahingehend zu prüfen, ob dort die Bürgerrechte auch eingehalten werden. Diese Absicht mag ehrenwert sein, ist aber für die Praxis nicht unproblematisch. Darauf geht Sciuto indessen nicht mehr näher ein. Sie analysiert danach das gesellschaftliche und kulturelle Phänomen der Religionen, wobei insbesondere gegen essenzialistische Deutungen als einzig richtiger und wahrer Wert anargumentiert wird. Deren inhaltliche Aussagen könnten insofern auch nicht bewertet werden, entscheidend sei ohnehin die diesseitige Praxis. Es dürfte auch keine Privilegien für Religionen geben, sie seien nur ein Element der Zivilgesellschaft.
Danach widmet sich die Autorin ausführlicher dem Islam, wobei es auch Anmerkungen zum Begriff "Islamophobie" und dessen Funktion zur Immunisierung vor Kritik, aber auch zu den Implikationen der Kopftuch-Frage mit seiner politischen Verwendung gibt. Erst danach steht die Auseinandersetzung mit der "Identität" bei Sciuto im Zentrum. Dabei betont sie zunächst die Diffusität des Gemeinten: "Identität ist … weniger ein Instrument, mit dessen Hilfe etwas erklärt werden kann, sondern eher ein Objekt, das selbst erklärt werden muss" (S. 104). Hierbei werde auch die behauptete Gruppenidentität gegen das einzelne Individuum ausgespielt. Das Partikulare gelte außerdem als wichtiger als das Universale. Und genau diese Dimension mache dann den Multikulturalismus zu einem Problem: Es bedürfe einer Antwort auf die Frage, ob der Einzelne mehr zu einer Gemeinschaft gehören oder ein Individuum sein solle. Im Diskurs über Multikulturalität neige man zur ersten Variante. Und genau in diesem Kollektivismus sieht Sciuto auch das Reaktionäre.
Die Autorin ist demnach eigentlich mehr am autonomen Individuum denn dem politischen Laizismus orientiert, auch wenn dies durch die Buchseiten hindurch in den Formulierungen etwas anders wirkt. Anhand von Frauendiskriminierung und Kritikimmunisierung werden die gemeinten Probleme immer wieder betont. Indessen muss diese Gemeinschaftsidentität nicht notwendigerweise für Rassismus stehen, dies wäre lediglich bei bestimmten Gruppen eine mögliche Konsequenz. Diese Einseitigkeit kann ebenso wie die Laizitätsfixierung kritisiert werden. Darüber hinaus hat man es aber mit einer klugen Analyse zu tun, welche mit dem individuellen Menschenrechtsverständnis gegen multikulturelle Parallelgesellschaften argumentiert. In ihnen etablierten sich als Beleg für scheinbaren Rechtspluralismus gar "Scharia-Tribunale". Gegen diese Dynamik wird von Sciuto ein universales Emanzipationsverständnis eingefordert, was die Autorin auch als eine nur zu berechtigte Kritik an einer Linken ohne diesbezügliche Sensibilitäten versteht.
Cinzia Sciuto, Die Fallen des Multikulturalismus. Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft, Zürich 2020 (Rotpunktverlag), 207 Seiten, 24 Euro
2 Kommentare
Kommentare
Gerhard Lein am Permanenter Link
Man hätte noch ergänzen können, dass sie mit ihrer Familie in FfM lebt und damit einen kulturell recht breiten Einblick hat.
A.S. am Permanenter Link
Ist nicht die ganze Menschenrechts-Ethik am Individuum fest gemacht? Die Menschenrechte gewähren dem Individuum Rechte gegen Zumutungen durch die gesellschaftliche Umgebung:
- Die soziale Umgebung darf nicht die Meinung vorschreiben, die ein Individuum zu haben hat
- Die soziale Umgebung darf nicht dem Individuum vorschreiben, welchen Gott es für "wahr" zu halten hat
- Die soziale Umgebung hat kein Recht an dem Körper eines Individuums als "Ersatzteillager"
u.s.w.
Ich sehe die gruppenbezogene Identitätspolitik äußerst kritisch. Sind nicht gerade Rassen, Nationen, Religionsgemeinschaften, Clans, Ethnien solche Gruppen, die um ihrer Existenz als Gruppe Willen die Individuen unterdrücken und ausbeuten?
Wäre um des innergesellschaftlichen Friedens Willen es nicht gerade erforderlich, die unvermeidlichen Grenzen zwischen den Gruppen durchlässig zu machen?
Hat Bismarck mit der Einführung der Zivilehe nicht erfolgreich die Trennung zwischen Katholen und Evangelen ausgehebelt, zum Leidwesen der Kirchen? Und heute sollen wir es toll finden, wenn Muslime, Jesiden u.a. nur innerhalb ihrer Parallelgesellschaft heiraten?
Kriege finden immer zwischen Gruppen, an Gruppen-Grenzen statt, und je größer die Gruppen sind, desto schlimmer werden die Kriege. Aus Ethnien wurden Religionsgemeinschaften, dann Nationen, dann "Klassen". Und heute singen wir wieder das hohe Lied der Gruppen?
Ich behaupte:
Wer gruppenbezogene Identitätspolitik betreibt, wird gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bis hin zu Kriegen ernten.