Das Schrumpfen der Kirchen und die säkulare Sache – eine Bilanz

Wer für eine säkulare Gesellschaft kämpft, verliert vor lauter Kampf mitunter positive Entwicklungen aus den Augen. Doch die gibt es. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die christlichen Großkirchen in Deutschland zunehmend selbst demontieren. Eine Bilanz von Gerhard Rampp.

Die Entwicklung im weltanschaulichen Bereich könnte für uns Säkulare derzeit kaum besser laufen – vielleicht mit einer Ausnahme: Die Gegner des Selbstbestimmungsrechts in der letzten Lebensphase wollen sich mit der eindeutigen und einstimmigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 zum assistierten Suizid offenbar nicht abfinden und ihn über die Hintertür wieder strafbar machen. Dafür plädieren neben den CSU/CDU-Abgeordneten Stephan Pilsinger und Ansgar Heveling auch der kirchenpolitische Sprecher der SPD, Lars Castelucci, und die frühere religionspolitische Sprecherin Kirsten Kappert-Gonther (Die Grünen). Ihre Chancen sind allerdings äußerst gering, denn die bisherigen Vorschläge sind in zentralen Punkten verfassungswidrig, sodass wohl eher getestet werden soll, ob das höchste Gericht seine Rechtsprechung eventuell korrigiert. Dies aber ist unwahrscheinlich, denn sechs der acht Verfassungsrichter(innen), die das Urteil gefällt haben, sind noch im Amt.

Dafür ist die Lage der Kirchen so prekär wie nie zuvor. Das Ansehen der katholischen Kirche hat laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov in den letzten Monaten in Deutschland stark gelitten: 82 Prozent der Befragten erklärten, die Kirche habe an Glaubwürdigkeit verloren. Rund 28 Prozent der Kirchenmitglieder beider (!) großen Konfessionen ziehen derzeit in Betracht, die Kirche zu verlassen. Als Hauptgrund hierfür nannten die Befragten neben dem Missbrauchsskandal am häufigsten die nicht mit der eigenen Haltung übereinstimmenden kirchlichen Moral- und Gesellschaftsvorstellungen. Nur für ein knappes Viertel der Mitglieder gibt es keine Gründe für einen derzeitigen Kirchenaustritt (YouGov, 24.03.2021; Evangelischer Pressedienst, 26.03.2021).

Zum Vergleich: Tatsächlich tritt rund ein Prozent der Kirchenmitglieder pro Jahr aus. Wenn sich diese Quote auch nur verdoppelt, sind die Kirchen in zwei Jahrzehnten nur mehr größere Sekten. Einen Vorgeschmack liefern brandaktuelle Zahlen aus München: Trotz der Behinderung der Kirchenaustrittsmöglichkeit durch die neuerdings erzwungene Voranmeldung beim Standesamt nimmt der Schwund der Kirchenmitglieder weiter Fahrt auf. In München sank die Einwohnerzahl im ersten Quartal 2021 um exakt 1.002 Personen. Die beiden Kirchen verloren hingegen fast 7.000 Schäfchen, sodass ihr Anteil in der Landeshauptstadt in nur drei Monaten von 39,5 auf 39,1 Prozent sank. Bei gleichem Tempo würden sie bereits Ende 2026 auf unter 30 Prozent schrumpfen, nachdem sie erst Mitte 2020 die 40 Prozent unterschritten hatten. Selbst bei einem Abflauen des Trends würde sich dieser Zeitpunkt um höchstens ein Jahr hinauszögern.

Im Januar teilte der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz ganz offiziell mit: "Die Zeit der Volkskirche ist vorbei. Diese Sozialstruktur, in der Kirche-Sein, in der religiöse Sozialisation irgendwie in einem Automatismus verlief, ist vorbei, und sie wird nicht wieder kommen." Seine Einschätzung hat auch interne Gründe, die der langjährige Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Jesuitenpater Hans Langendörfer, just am gleichen Tag ganz offen formulierte: "Misstrauen und Argwohn prägen den [innerkirchlichen] Umgang miteinander, leider auch Bereitschaft zur Intrige. Ich habe solche Spannungen nachhaltig erlebt und neige inzwischen dazu, sie als unüberwindbar einzuschätzen." Die Zukunft der Kirche beurteilte er pessimistisch: "Ich erkenne keinen Masterplan und würde mich hüten, wohlfeile Konzepte zu verkünden. Es ist alles zu komplex." (Mitteilung des Bistums Limburg, 21.01.2021; Christ in der Gegenwart, 21.01.2021)

Hinzu kommen die Unfähigkeit zu Reformen und ein unerschütterliches Beharrungsvermögen. Zu dieser Einschätzung kamen auch die beiden Initiatorinnen und Mitgründerinnen der Kirchenreformbewegung "Maria 2.0", Elisabeth Kötter und Andrea Voß-Frick aus Münster. Sie erklärten ihren Austritt aus "der öffentlich-rechtlichen Institution römisch-katholische Kirche", ohne deshalb ihren Glauben aufzugeben. Dies sei die Konsequenz aus der Einsicht, es sei "unmöglich, die Hierarchien und Machtstrukturen in der katholischen Kirche zu ändern". Auch aus der Kölner Gruppe von "Maria 2.0" wurden Kirchenaustritte bekannt, wie das ZDF dokumentierte (Evangelischer Pressedienst, 30.03.2021; Heinrichsblatt der Diözese Bamberg, 04.04.2021).

Papst und Vatikan-Behörden bestätigten diese Einsicht prompt: Die vatikanische Glaubenskongregation stellte fest, dass "Paaren aus Personen des gleichen Geschlechts" kein katholischer Segen erteilt werden kann. Eine Segnung homosexueller Paare sei daher "unerlaubt". Der Papst "gab sein ausdrückliches Einverständnis" zur Veröffentlichung dieses Dokuments. Radio Vatikan sei im Wortlaut zitiert: Dies betrifft die Wahrheit und den Wert der Segnungen. Diese sind "Sakramentalien", liturgische Handlungen der Kirche, und erfordern, dass das, was gesegnet wird, "objektiv darauf hingeordnet ist, die Gnade zu empfangen und auszudrücken, und zwar im Dienst der Pläne Gottes, die in die Schöpfung eingeschrieben sind". Beziehungen, auch dauerhafte, die "eine sexuelle Praxis außerhalb der Ehe einschließen" – also außerhalb der "unauflöslichen Verbindung eines Mannes und einer Frau, die an sich für die Lebensweitergabe offen ist" – entsprechen nicht diesen "Plänen Gottes". Diese Überlegung betrifft nicht nur homosexuelle Paare, sondern alle Vereinigungen, die die Ausübung der Sexualität außerhalb der Ehe beinhalten (Vatican News, 15.03.2021; Süddeutsche Zeitung, 23.03.2021).

Diese Formulierungen machen unmissverständlich deutlich, dass sich an dieser Position auch in Zukunft gar nichts mehr ändern kann, denn diese Organisation setzt ja (nach eigenem Verständnis) nur die Pläne Gottes um, die sie offenbar als einzige ganz genau kennt. Daran ändert auch die Distanzierung mancher Kleriker außerhalb des Vatikans nichts, denn die Entscheidungen des Heiligen Stuhls sind unumstößlich und innerhalb der katholischen Kirche verbindlich.

Das alles heißt aber nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen können. Auch wenn inzwischen sogar die obersten Kirchenrepräsentanten eingesehen haben, dass der unaufhaltsame Schwund der Kirchen langfristig zu sektenähnlichen Größenordnungen (und wohl auch Strukturen) führen wird, ist der Einfluss der Kirchen noch lange nicht gebrochen. Ihre Vertreter besetzen in weit überproportionalem Verhältnis einflussreiche gesellschaftliche Spitzenpositionen. Sie sorgen damit auf weit unauffälligere Weise als früher für eine Zementierung kirchlicher Macht, wie unter anderem das Buch "Kirchenrepublik Deutschland" von Dr. Carsten Frerk aufgedeckt hat.

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