Kommentar: Verfassungsgericht kippt Klimagesetz

Die Erdbeben-Entscheidung

In einem unerwarteten Urteilsspruch hat das Bundesverfassungsgericht vergangene Woche Teile des 2019 erlassenen Klimaschutzgesetzes kassiert. Es fehle ein Maßnahmenkatalog für die Zeit nach 2030, was die "künftige Freiheit" der Klagenden in Gefahr bringe, so das Gericht. Die Entscheidung etabliert zweierlei: Zum einen die Unabweisbarkeit des anthropogenen Klimawandels, zum anderen die Verantwortung der Parlamente in einem globalen Geflecht von Nationalstaaten. Ein Kommentar zur Argumentation des höchsten deutschen Gerichts.

Einige haben sich im Vorfeld sicherlich gewünscht, das Bundesverfassungsgericht (BverfG) hätte das gesamte Klimaschutzgesetz (KSG) hops genommen. Dies ist nicht passiert, den aktuellen Klimaschutzmaßnahmen attestieren die Richter:innen Verfassungskonformität. Stattdessen serviert das BVerfG eine Entscheidung, in der zwischen dem Amtsdeutsch eine schallende Ohrfeige für die klimapolitische Lethargie der Großen Koalition mitschwingt.

Die Freiheit der künftigen Generationen

Das KSG definiert minutiös, welche Emissionen bis 2030 von welchem Ressort ausgestoßen werden dürfen, für die Zeit ab 2031 herrscht bleiernes Schweigen. Die Emissionswerte für diesen Zeitraum seien ab 2025 zu definieren. Hierauf entgegnet das Verfassungsgericht in der Pressemitteilung:

"[Es genügt jedoch nicht], die Bundesregierung lediglich dazu zu verpflichten, einmal – im Jahr 2025 – durch Rechtsverordnung eine weitere Festlegung zu treffen. Vielmehr müsste zumindest geregelt werden, in welchen Zeitabständen weitere Festlegungen transparent zu treffen sind. So erscheint bereits zweifelhaft, dass die erste weitere Festlegung von Jahresemissionsmengen in Zeiträumen nach 2030 im Jahr 2025 rechtzeitig käme."

Eben jene "Rechtzeitigkeit" weiterer Emissionsreduktionen ist der Knackpunkt. Je länger wir hier und jetzt einen fossilen Lebensstil führen, je später wir uns Gedanken darüber machen, wie wir den Modus Operandi der Industriegesellschaft auf Umweltverträglichkeit trimmen, desto einschneidender werden die Maßnahmen sein müssen.

"Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030", schreibt das Bundesverfassungsgericht. Kurz gesagt: Je mehr Freiheiten wir uns jetzt nehmen, umso mehr Freiheiten werden wir unseren Kindern wegnehmen müssen.

"Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind. Der Gesetzgeber hätte daher zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern." (BVerfG)

Die Verantwortung der Nationalstaaten und Parlamente

Denen, die stets mit mahnendem Zeigefinger in Richtung China, Indien oder Vereinigte Staaten deuten, erteilt das Bundesverfassungsgericht einen veritablen Korb: "Aus der spezifischen Angewiesenheit auf die internationale Staatengemeinschaft folgt vielmehr umgekehrt die verfassungsrechtliche Notwendigkeit, eigene Maßnahmen zum Klimaschutz tatsächlich zu ergreifen und für andere Staaten keine Anreize zu setzen, das erforderliche Zusammenwirken zu unterlaufen."

Dieser Satz hat es in sich. Nicht nur verlangt das BVerfG vom Staat Deutschland aktive Maßnahmen zum Klimaschutz, es verlangt auch einen Blick über den, "Grenze" genannten, Tellerrand und fragt, welche globalen Auswirkung unser Wirtschaften hat. Keine Anreize, die "das erforderliche Zusammenwirken unterlaufen", zu setzen, ist nämlich ziemlich diffizil.

Paradebeispiel für einen solchen Anreiz wäre die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen europäischem Rindfleischkonsum und illegaler Tropenabholzung in Brasilien. Mensch könnte nun berechtigterweise fragen, ob sich denn "legale" und "illegale" Abholzung von Regenwäldern überhaupt unterschiedlich aufs Klima auswirken, doch lassen wir diese peinliche Frage mal beiseite. Fakt ist: Der europäische Appetit auf Rind führt zu einer Menge – teilweise illegaler – Tropenrodung. An dieser Stelle sei folgende Anmerkung gestattet: Das Soja, von dem die Rede ist, wird nicht etwa von Millionen der Völlerei verfallenen Veganer:innen verzehrt. Es wird zur Tiermast verwendet.

Solcherart sind die "Anreize, die das erforderliche Zusammenwirken unterlaufen". Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Ab jetzt ist es nicht nur von der Logik, sondern auch verfassungsrechtlich geboten, unseren Konsum und unsere Produktion auf externe Effekte außerhalb des europäischen Subkosmos hin zu überprüfen.

Interessanterweise bemängelt das Bundesverfassungsgericht auch die Art, wie das Klimaschutzgesetz zustande kam. Ausgearbeitet vom Klimakabinett, beschlossen von der Bundesregierung und vom Bundestag lediglich abgenickt ist es ein hundertprozentiges Produkt der Exekutive und somit eigentlich eine Verordnung, kein Gesetz.

Das Verfassungsgericht bemängelt, dass "eine schlichte Parlamentsbeteiligung durch Zustimmung des Bundestags zu Verordnungen der Bundesregierung ein Gesetzgebungsverfahren bei der Regelung zulässiger Emissionsmengen nicht ersetzen [kann], weil hier gerade die besondere Öffentlichkeitsfunktion des Gesetzgebungsverfahrens Grund für die Notwendigkeit gesetzlicher Regelung ist".

Heißt übersetzt: Da es beim Klimaschutz um öffentliche Güter geht (Luft, Wasser et cetera einerseits, Freiheitsrechte andererseits), sind die Büger:innen über den Fortschritt des Gesetzgebungsverfahrens und die konkurrierenden Auffassungen transparent zu informieren. Die öffentliche parlamentarische Diskussion ist – zumindest in der Theorie – eine der primären Quellen der Meinungsbildung.

Diese, "Öffentlichkeitsfunktion" genannte, Aufgabe kommt in einer gewaltengeteilten Demokratie dem Parlament zu. Ein Ausschuss wie das Klimakabinett tagt schließlich nicht öffentlich – was bei einem Thema mit dieser Tragweite absolut inakzeptabel ist.

Anthropogener Klimawandel existiert, punkt.

Das Bundesverfassungsgericht legt Artikel 20a Grundgesetz so aus, dass die jetzt lebenden Generationen die Pflicht haben, die "Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren können". Weiter heißt es hierzu in der Pressemitteilung: "Danach darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde."

An dieser Stelle muss mensch sich darüber wundern, dass dieser Mechanismus immer noch nicht allgemein anerkannt ist. Da gibt es die, die die ominösen Selbstheilungskräfte des Marktes beschwören und die schlimmsten antizipierten Szenarien bereits jetzt durch noch zu erfindende, futuristische Technologien abgewendet wissen wollen. Und dann gibt es jene, die partout nicht an einen anthropogenen (also menschengemachten) Klimawandel glauben wollen, selbst dann nicht, wenn er vor ihrer eigenen Haustür stattfindet.

Glücklicherweise ist der anthropogene Klimawandel nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nun endlich ein Fakt, der hier und jetzt – und nicht erst irgendwann in der Zukunft – bekämpft werden muss. Die Erderwärmung lässt sich nur im Zaum halten, "wenn die anthropogene CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre nicht mehr weiter steigt." Qua justitia, könnte man sagen, wurde nun festgelegt, was uns die Forschung seit Jahrzehnten verzweifelt mitzuteilen versucht: Der Klimawandel "kommt" nicht wie irgendein diffuses Gespenst eines Tages durch die Tür. Er ist facettenreich und er ist längst da.

Ein neuer Generationenvertrag

Dass das Verfassungsgericht sich auf die "künftige Freiheit" der "zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden" beruft, ist ein perspektivischer Game Changer. Die europäischen Kulturen, die deutsche eingeschlossen, haben sich in den letzten zweitausend Jahren nicht unbedingt durch Futurologie, sondern zuvorderst durch einen Hang fürs Gruftige ausgezeichnet. Die Gräber unserer Vorfahren pflegen wir über Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte, doch nie haben wir einen Tempel für unsere künftigen Kinder gebaut. Wir respektieren die Wünsche von Toten hinsichtlich ihrer Bestattung und ihres Vermögens, doch waren die jungen Generationen die längste Zeit nur Kanonenfutter in der Artillerie militaristischer alter Männer. Unser Blick in die Zukunft ist gar so vernebelt, dass wir reihenweise Geburtsstationen schließen, weil sie im Hier und Jetzt nicht genügend Profit abwerfen.

Was das Verfassungsgericht nun fordert, ist ein Blick nach vorne. Die Erkenntnis, dass es ein Ende der Treibhausgasemissionen gibt – geben muss. Und dass diese herkulische Aufgabe, anders als oft getönt, keine Verantwortung auf den Schultern des Individuums ist, sondern eine auf den Schultern aller Menschen, repräsentiert durch ihre Parlamente. "Die Herausforderung liegt nicht darin, zum Schutz der Grundrechte regulatorisch mit Entwicklung und Erkenntnis Schritt zu halten, sondern es geht vielmehr darum, weitere Entwicklungen zum Schutz der Grundrechte regulatorisch überhaupt erst zu ermöglichen", schreibt das Bundesverfassungsgericht.

Wir erfanden einst den Generationenvertrag "Rentenversicherung". Aus Respekt vor denen, die vor uns kamen und jetzt alt sind, geben wir, die arbeiten können, ihnen seitdem ein Stück der Früchte unserer Arbeit ab. Vielleicht brauchen wir jetzt den Generationenvertrag "Klimaversicherung", der da lautet: aus Respekt vor denen, die nach uns kommen und noch nicht sind, geben wir ein Stück der Früchte unserer Arbeit ab. "Wir" jedoch, das sind in diesem Gedankenspiel nicht nur wir Individuen, sondern alle Instanzen menschlichen Wirtschaftens, all die obskuren "juristischen Personen", die sich auf Erden tummeln. Denn der allerkleinste gemeinsame Nenner "unserer" Bedürfnisse ist ein intakter Planet.

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