Interview

"Nicht auszuschließen, dass irgendwann ein Querdenker zur Waffe greift"

Sie nennen sich "QAnon" oder "Querdenker": Sammelbecken für Verschwörungstheorien gab es schon immer. Doch durch die Corona-Pandemie bedingt herrscht Goldgräberstimmung im Lager der selbsternannten Verschwörungstheoretiker. Harmlose "Schwurbelei" oder Gefahr für die Demokratie? "Wir sehen, dass sich ein Großteil der Querdenkerszene offen gegen unsere Demokratie positioniert", sagt Deutschlands führender Experte für Verschwörungstheorien Prof. Michael Butter im Interview mit der Initiative Gesichter der Demokratie, betont aber zugleich: "Die Querdenker sind eine Minderheit, die wir nicht größer machen sollten, als sie ist!"

Sven Lilienström: Herr Prof. Dr. Butter, schön, dass Sie als Experte für Verschwörungstheorien die Zeit für ein Interview haben. Zu allererst interessiert uns: Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Prof. Michael Butter: Demokratie bedeutet für mich die Teilhabe aller und geregelte Verfahrensweisen, um den Übergang von einer Regierung zur nächsten zu regeln. Gleichzeitig aber eben kein Diktat der Mehrheit, sondern auch das Anerkennen und Schützen der Rechte von Minderheiten. Insofern bedeutet Demokratie für mich immer liberale Demokratie.

Die Pandemie zeigt: Weltweit sind Menschen anfällig für Falschnachrichten und Verschwörungstheorien. Warum glauben "wir" an Falschnachrichten?

Wir alle haben einen sogenannten "Confirmation Bias". Heißt: Wir neigen dazu, Dinge zu glauben, die unsere Ansichten bestätigen. Haben wir beispielsweise ein negatives Bild von Angela Merkel oder Real Madrid, dann glauben wir Nachrichten, die dieses Bild bestätigen. Selbst dann, wenn die Informationen aus unseriösen Quellen stammen. Denn diese bestätigen, was wir ohnehin über Frau Merkel oder Real Madrid dachten.

Bei Verschwörungstheorien kommt hinzu, dass diese unsere Welt bedeutsam, verständlich und teilweise einfacher machen. Verschwörungstheorien schließen Zufall und Chaos aus. Verantwortlich ist immer eine Gruppe von Menschen, die "all das geplant hat". Dies ist für viele Menschen offensichtlich leichter zu glauben, als dass Dinge zum Teil "einfach so" passieren. Man hat eine Erklärung und weiß, auf wen man mit dem Finger zeigen kann. Man hat Sündenböcke und damit die Aussicht, dass sich die Lage einigermaßen schnell beenden lässt – nämlich indem man den Verschwörern das "Handwerk legt".

Gibt es Menschen, die anfälliger dafür sind als andere oder lässt sich das nicht so genau sagen?

Michael Butter ist Professor für amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Zwei seiner Forschungsschwerpunkte sind Verschwörungsideologien und Populismus. Seit April 2020 leitet er ein vom Europäischen Forschungsrat gefördertes Projekt zu diesen Themen.

Natürlich gibt es Menschengruppen, die besonders empfänglich sind für Verschwörungstheorien. Das sind zum einen Menschen, die das Gefühl haben, einen Macht- und Kontrollverlust erlitten zu haben und sich die Position der vermeintlichen Machtlosigkeit mit der Annahme einer "großen Verschwörung" erklären. Weil genau das diesen Menschen erlaubt, Kontrolle zurückzugewinnen. Man hat sozusagen endlich verstanden, was "vor sich geht". Hinzu kommen Menschen, die schlecht mit Unsicherheit und Ambivalenz umgehen können. Verschwörungstheorien versprechen Eindeutigkeit und lösen Ambivalenz auf.

Das sind die psychologischen Profile. Demografisch gesehen lassen sich nur gewisse Tendenzen feststellen: Männer glauben eher an Verschwörungstheorien als Frauen. Und wir wissen, dass Bildung zu einem gewissen Grad vor Verschwörungstheorien schützt. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine gebildeten Menschen gibt, die an Verschwörungstheorien glauben – es sind statistisch gesehen aber weniger.

Für Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind selbst bewiesene Fakten Teil der Verschwörung. Wie kann man diese Menschen dann erreichen? Macht es Sinn, mit Verschwörungstheoretikern zu diskutieren?

Entscheidend ist, wie sehr die- oder derjenige bereits an eine Verschwörungstheorie glaubt und in welchem Verhältnis wir zu diesem Menschen stehen. Generell gilt: Menschen, die nur eine gewisse Neigung zu Verschwörungstheorien haben, können wir sehr wohl mit Fakten erreichen. Das sind Menschen, die beispielsweise etwas weiterleiten, was sie im Internet gefunden haben. Denen können wir sagen: "Du, ich glaube es handelt sich um eine Verschwörungstheorie. Schau mal hier, bei diesen Faktencheckern wird das Thema gerade auseinandergenommen."

Bei überzeugten Verschwörungstheoretikern hingegen kommen wir mit Fakten nicht weiter. Fremde haben ohnehin keine Chance. Da muss man auf der persönlichen Ebene ran. Wenn ein persönliches Verhältnis besteht, kann man sagen: "Du bist mir wichtig, ich möchte verstehen, warum du die Welt so fundamental anders siehst." Es ist wichtig, Fragen zu stellen: "Wieso vertraust du dieser Quelle?" oder "Weshalb lehnst du diese Quelle ab?" "Warum hältst du diejenige für eine Expertin/denjenigen für einen Experten – andere hingehen nicht?" Ziel ist, durch die Fragen einen Prozess der Selbstreflexion auszulösen. Das ist schmerzhaft, langwierig und leider nicht immer erfolgreich.

Erschwerend ist zudem, wenn Verschwörungstheorien einen antisemitischen oder rassistischen Bezug haben. In diesem Fall kann ein Gespräch – auch wenn ein persönliches Verhältnis besteht – problematisch werden. Weil dann unter Umständen die Grenzen des Sagbaren überschritten werden. Anstatt zu fragen "Warum glaubst Du, dass die Juden dahinterstecken", beschließt man vielleicht eher zu sagen: "Du, das ist Antisemitismus, darüber möchte ich nicht reden!" Das muss letztendlich jeder für sich entscheiden.

Ich erhalte viele E-Mails von Menschen, die teils sehr höflich formuliert sind, teils passiv-aggressiv. Eigentlich bräuchte ich gar nicht antworten und auf die Faktenlage verweisen. Das mache ich natürlich trotzdem! Die Menschen möchten wahr- und vor allem ernst genommen werden. Und damit ist dann – auch im Hinblick auf ein demokratisches Miteinander – schon wieder ein wenig gewonnen.

"Die Menschen möchten wahr- und vor allem ernst genommen werden."

Stichwort "Querdenker": In einem Interview sagten Sie: "Wer medizinisches Wissen leugnet, bringt andere in Gefahr". Wie meinen Sie das und wie gefährlich ist die "Querdenken-Bewegung" für die Demokratie?

Es gibt drei Ausprägungen, die Verschwörungstheorien gefährlich machen. Alle drei sehen wir – zumindest vom Potenzial her – in der Querdenken-Bewegung.

Zunächst einmal sind Verschwörungstheorien deshalb gefährlich, weil sie als Motor für eine weitere Radikalisierung dazu führen können, dass Menschen Gewalt ausüben. Das haben wir in Christchurch gesehen. Das haben wir in Halle gesehen. Und das haben wir an einigen anderen Orten der Welt gesehen. Fakt ist: Auch bei den Querdenkern gibt es diese Tendenzen. Die Stimmung ist sehr aggressiv. Sachbeschädigungen gab es bereits. Es ist nicht auszuschließen, dass irgendwann ein Querdenker zur Waffe greift. Das muss man leider so sagen!

Darüber hinaus können Verschwörungstheorien "medizinischer Ausprägung" gefährlich sein, denn wer etabliertes medizinisches Wissen leugnet, kann sich und andere – wenngleich oft ungewollt – in Gefahr bringen. Wer denkt, das Virus ist völlig ungefährlich oder existiert gar nicht, wird sich nicht schützen. Nicht nur, weil sie/er es nicht für nötig erachtet, sondern auch, weil sie/er den Verzicht auf einen Mund-Nasen-Schutz sowie Mindestabstand als Form zivilen Ungehorsams begreift. Dieses Verhalten kann wiederum dazu beitragen, dass sich das Virus verbreitet. Dass sich jemand ansteckt, einen schweren Verlauf hat und vielleicht sogar daran stirbt!

Drittens können Verschwörungstheorien eine Gefahr für die Demokratie sein. Nämlich dann, wenn sie das Vertrauen in demokratische Institutionen und Prozesse nachhaltig beschädigen. Ganz besonders, wenn eine kritische Masse erreicht wird, die schlimmstenfalls von politischen Entscheidungsträgern zusätzlich befeuert wird.

Prof. Michael Butter
Prof. Michael Butter
(Foto: © Initiative Gesichter der Demokratie)

Alle drei Ausprägungen lassen sich – fast in Reinkultur – beim Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar beobachten. Menschen mit Waffe in der Hand, ohne Mund-Nasen-Schutz und ohne Mindestabstand akzeptieren das Ergebnis einer demokratischen Wahl nicht, weil sie denken, da wurde betrogen. Auch in Deutschland erleben wir dieses Potenzial der Radikalisierung, eine Radikalisierung, die auch zu Gewalt führen kann. Wir sehen, dass sich ein Großteil der Querdenkerszene bereits offen gegen unsere Demokratie positioniert.

Auf die gesamte Bundesrepublik betrachtet sehe ich die Querdenker noch nicht als eine Bedrohung für die Demokratie an. Die Demokratie in Deutschland ist sehr stabil – die Bewegung hingegen recht klein. Zu den Demonstrationen wird wochenlang im Internet aufgerufen. Die Menschen reisen aus dem ganzen Bundesgebiet an. Wenn dann "ein paar Tausend" auf der Straße sind, ist das für sich betrachtet sehr viel und nicht schön. Bedenkt man jedoch, wie viele Menschen in Deutschland leben, wird schnell klar, dass wir von einer sehr kleinen Minderheit sprechen. Eine Minderheit, die wir ernst nehmen müssen. Aber eben auch eine Minderheit, die wir nicht größer machen sollten, als sie ist!

Egal ob Facebook, YouTube oder Twitter: Welche Rolle spielen Soziale Netzwerke bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien und warum nutzen immer mehr Verschwörungstheoretiker ausgerechnet Telegram?

Das Internet hat dazu geführt, dass Verschwörungstheorien sichtbarer und verfügbarer geworden sind – insbesondere in den Sozialen Medien. Jeder kann seine Ideen posten und man findet sie ganz leicht. Vor 20 oder 30 Jahren war es viel schwieriger, Verschwörungstheorien zu verbreiten. Wahrscheinlich haben in den 80er-Jahren weniger Menschen an Verschwörungstheorien geglaubt als 2010. Klar ist auch: Die Sozialen Medien bestärken uns in unseren Überzeugungen. Wir alle haben die Tendenz, uns in unseren Überzeugungen der Umwelt anzupassen. Niemand möchte so ganz alleine dastehen. Querdenker sein macht nur Spaß, wenn es auch andere Querdenker gibt!

Telegram ist im Verlauf des letzten Jahres für deutsche Verschwörungstheoretiker immer wichtiger geworden. Das liegt auch daran, dass die anderen Plattformen – einigermaßen rigide – gegen die Szene vorgegangen sind. Auf Facebook, YouTube oder Twitter werden User, die Verschwörungstheorien verbreiten, immer wieder gesperrt, Postings mit Warnhinweisen versehen oder gelöscht. Das hat eine Abwanderung zu Telegram zur Folge. Die Gefahr dort: Während es bei Facebook zumindest teilweise Widerspruch in den Kommentarspalten gab, widerspricht bei Telegram keiner mehr! Hinzu kommt, dass der Meinungsaustausch in Telegram-Gruppen zunehmend unter dem Radar der Öffentlichkeit stattfindet.

Argumente, die eigentlich dagegen sprechen, Verschwörungstheoretiker auf Plattformen wie Facebook, YouTube oder Twitter zu löschen. Für eine Löschung spricht allerdings, dass zahlreiche Menschen dort erstmalig mit Verschwörungstheorien konfrontiert und "zufällig" rekrutiert werden können. Das passiert nicht, wenn die Szene ausschließlich auf Telegram aktiv ist. Sie sehen: Der Umgang mit Verschwörungstheoretikern in den Sozialen Medien ist somit ganz klar ein zweischneidiges Schwert – niemand hat bisher eine wirklich gute Antwort darauf!

Letztendlich ist das Verbreiten von Verschwörungstheorien in Deutschland auch nicht verboten. Gott sei Dank, denn die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut in einer Demokratie! Verboten ist, wenn man den Holocaust leugnet, zu Gewalt aufruft oder eine Form von Hassrede betreibt. Aber einfach nur zu sagen: "Corona ist ein Komplott der Eliten". Das ist nicht verboten – auch nicht in den Sozialen Medien!

"Das Internet hat dazu geführt, dass Verschwörungstheorien sichtbarer und verfügbarer geworden sind"

Auch sogenannte "alternative Medien" wie RT Deutsch grenzen sich gerne vom verhassten Mainstream ab, indem sie die vermeintliche "Wahrheit" verbreiten. Wie bewerten Sie diese?

"Alternative Medien" sind sehr wichtige Akteure für die verschwörungstheoretische Szene. Zum einen, weil Sender wie Russia Today (RT) den deutschen Verschwörungstheoretikern immer wieder ein Forum bietet und dabei hilft, ihre Positionen weiterzutragen. Zum anderen – und das wurde mittlerweile mehrfach untersucht – verbreitet Russia Today Verschwörungstheorien bewusst als Fake News. Ein zynisches Handeln aus rein politischem Kalkül. Denn die allermeisten Verschwörungstheorien sind zunächst einmal keine Fake News, da die Menschen wirklich glauben, was sie verbreiten.

Dann gibt es noch Internetseiten wie beispielsweise "Privatinvestor". Hier ist die Motivation der Betreiber meist unklar. Glauben sie daran, was sie verbreiten oder handeln sie ausschließlich aus rein finanziellem Kalkül? Fazit: Wir haben im Internet eine äußerst problematische Gemengelage aus Menschen, die das Verbreiten von Verschwörungstheorien als lukratives Geschäftsmodell betreiben – im englischen "Conspiracy Entrepreneurs" genannt –, staatlichen Stellen, die auf Desinformation abzielen, und 100-prozentig überzeugten Verschwörungsgläubigen.

Herr Prof. Dr. Butter, gerne möchten wir zum Schluss noch etwas Persönliches über Sie erfahren: Welche Ziele haben Sie sich für die nächsten fünf Jahre gesetzt?

Wir wissen bislang nur wenig von Verschwörungstheorien außerhalb der westlichen Welt und von Verschwörungstheorien in historischer Perspektive. Insbesondere die arabische Welt fasziniert mich diesbezüglich. Existieren dort Verschwörungstheorien? Gab es ebendort im 18. oder 19. Jahrhundert Verschwörungstheorien und wenn ja, welche? Sofern hierfür Forschungsgelder bereitgestellt werden sollten, möchte ich mich unbedingt der Beantwortung dieser Fragen widmen.

Vielen Dank für das Interview, Herr Prof. Dr. Butter!

Das Interview in voller Länge findet sich auf der Website der Initiative Gesichter der Demokratie.

Unterstützen Sie uns bei Steady!