Das Berliner Neutralitätsgesetz bleibt erhalten

Der Koalitionsvertrag von Rot-Grün-Rot in Berlin ist geschlossen und der neue Senat mit Franziska Giffey als Regierender Bürgermeisterin hat seine Arbeit aufgenommen. Mit Spannung war erwartet worden, auf welche Position sich die drei Koalitionsparteien zum Berliner Neutralitätsgesetz einigen würden.

Bekanntlich gibt es um dieses Gesetz seit Jahren erhebliche Auseinandersetzungen in der Stadt, sogar eine zivilgesellschaftliche Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz hatte sich gebildet und maßgeblich in die Auseinandersetzungen eingegriffen; und innerhalb der Parteien, insbesondere bei Bündnis 90/Die Grünen, wurden umfangreiche Diskussionen geführt.

Mehrere Prozesse vor Arbeitsgerichten waren anhängig, die mit einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 2020 gegen die staatliche Neutralität im Schulbereich endeten. Würde es bei dieser Entscheidung bleiben, wäre eine Anpassung des Neutralitätsgesetzes für den Schulbereich unausweichlich. Eine "Anpassung" – mehr aber auch nicht, keine Einschränkung der Reichweite, keine Abschaffung.

Neutralitätsgesetz: Vereinbarung im Koalitionsvertrag

Im Koalitionsvertrag heißt es zum Neutralitätsgesetz: "Die Koalition passt das Berliner Neutralitätsgesetz in Abhängigkeit von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an".

Von einer Abschaffung des Gesetzes ist somit keine Rede (mehr). Eine Abschaffung war vor der Wahl von verschiedenen Politiker*innen in Bündnis 90/Die Grünen und der Linken gefordert worden. Auch eine Herausnahme des Schulbereichs aus dem Gesetz wurde im Koalitionsvertrag nicht vereinbart. Lediglich eine Anpassung könnte kommen, sofern es eine entsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geben sollte, die eine solche Korrektur verlangt.

Über die erwähnte Formulierung im Koalitionsvertrag hatte es zunächst einige Spekulationen gegeben. Dabei irritierte vor allem die Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Frage war: Handelt es sich um das Urteil von 2015 ("Kopftuch II"), das von den Befürworter*innen des demonstrativen Zeigens religiöser Symbole durch Lehrerinnen im Schulalltag gerne angeführt wird? Diese damalige nicht direkt auf Berlin bezogene Entscheidung legt fest, dass nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr (konkrete Störung des Schulfriedens) ein Verbot religiöser Bekleidung während der Dienstzeit gerechtfertigt sein dürfte, nicht jedoch bereits bei der Annahme einer abstrakten Gefahr (aufgrund einer allgemeinen Einschätzung der Situation an den Schulen).

Das Berliner Neutralitätsgesetz in seiner geltenden Fassung lässt eine abstrakte Gefahr ausreichen, um für das gesamte Bundesland Berlin ein Verbot des Tragens und Zeigens (auffälliger) religiöser Symbole während der Diensttätigkeit in den Schulen auszusprechen.

Warten auf ein neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2015 ist von der Koalition jedoch nicht gemeint, wie mittlerweile aus Verhandlerkreisen bekanntgeworden ist. Bettina Jarasch (Grüne, Berliner Bürgermeisterin) hat sich zudem im Migazin, einem Medium, in dem linksidentitäre Positionen zur Migration und Integration vertreten werden, dementsprechend geäußert: Die Berliner Koalitionsparteien warteten auf ein "Kopftuchurteil" des Bundesverfassungsgerichts.

Im Klartext: Es geht um eine erst in der Zukunft zu erwartende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über ein jetzt anhängiges Berliner Verfahren. Die bisherige Berliner Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte gegen das bereits erwähnte Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom August 2020 zum Neutralitätsgesetz ein Verfahren zum Bundesverfassungsgericht eingeleitet.

Herummachen am Neutralitätsgesetz: Auf die lange Bank geschoben

Von der Regierungskoalition wird somit erst einmal gar nichts gegen das Gesetz unternommen, sondern lediglich abgewartet. Wann das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beendet sein wird, ist derzeit nicht abschätzbar. Bekanntlich können Verfahren vor dem höchsten deutschen Gericht lange dauern.

Die im Koalitionsvertrag erwähnte "Anpassung" bezieht sich zudem ausschließlich auf den Schulbereich, denn nur über diesen Bereich wird das Bundesverfassungsgericht im jetzigen Verfahren zu entscheiden haben und nicht über die anderen vom Neutralitätsgesetz erfassten Bereiche wie etwa Justiz, Polizei, Justizvollzug.

Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des Neutralitätsgesetzes oder gar seine völlige Abschaffung gibt eine solche auf den Schulbereich beschränkte gerichtliche Entscheidung nicht her und wird es in dieser Legislaturperiode in Berlin nicht geben.

Sogenanntes "Bündnis gegen Berufsverbote" ist düpiert

Ein sogenanntes "Bündnis gegen Berufsverbote"(!) in Berlin, das für eine vollständige Schleifung des Neutralitätsgesetzes eintritt, hat in einem Offenen Brief der rot-grün-roten Koalition eine "politische Verschleppung" bei der Abschaffung des Neutralitätsgesetzes vorgeworfen. Die Betreiberinnen dieses Bündnisses erklären, die Koalitionsparteien entzögen sich ihrer Verantwortung. Es heißt in dem Brief weiter, eine Kehrtwende sei nötig, um eine angebliche "Diskriminierung" muslimischer Frauen umgehend abzustellen. Bislang konnte das "Bündnis" nicht schlüssig erklären, worin eigentlich die angebliche Diskriminierung liegen soll. Es geht bekanntlich nicht darum, muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, den Eintritt in den Schuldienst zu verwehren. Es geht lediglich darum, dass sie für die Zeit ihrer dienstlichen Tätigkeit kein Kopftuch tragen sollen; was sie außerhalb des Dienstes in dieser Hinsicht machen, spielt dabei keine Rolle. Sie sind nicht bereit, die staatliche Neutralität in religiösen Angelegenheiten zu akzeptieren.

Von "herber Enttäuschung" über den neuen Senat ist die Rede. Dabei hätten vor der Wahl doch maßgebliche Berliner Politiker*innen wie etwa der bisherige Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) erklärt, bei dem jetzigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht handele es sich um reine "Prozesshanselei". Die vor der Wahl in Teilen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken geäußerten Bedenken gegen das Neutralitätsgesetz (Hinweis: es sei verfassungswidrig, obwohl kein deutsches Gericht es jemals für verfassungswidrig erklärt hat) seien in den Koalitionsverhandlungen "wohl verstummt". In der Tat hatten der bisherige Justizsenator Behrendt, aber auch einige andere Politiker*innen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken in Berlin, in der Vergangenheit immer wieder vollmundig die Beseitigung des Neutralitätsgesetzes gefordert und damit bei den interessierten Kreisen die Vorstellung hervorgerufen, das Ende dieses Gesetzes sei nahe herbeigekommen. Behrendt ist jetzt nicht mehr Senator und das Ende des Gesetzes kommt auch nicht.

Sogenanntes "Bündnis gegen Berufsverbote" jetzt größenwahnsinnig

Um das Ziel, die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes, doch noch kurzfristig zu befördern, werden vom "Bündnis" in ultimativem Duktus Konsequenzen gefordert: nämlich eine sofortige Überarbeitung des Koalitionsvertrages! Als hätte die Koalition nichts Besseres zu tun, als sich mit den Forderungen dieses "Bündnisses" zu beschäftigen. Da dürfte eher wohl eine irrationale maßlose Überschätzung der eigenen Bedeutung die Feder geführt haben. Für das "Bündnis" ist diese Koalitionsaussage trotz vielfältiger "Agitprop"-Anstrengungen verständlicherweise außerordentlich enttäuschend. Eine Überarbeitung des Koalitionsvertrages wird jedoch nicht kommen.

Vermutlich hatten sich die Mitglieder des "Bündnisses" aufgrund von Politiker*innenaussagen vor der Wahl in die Vorstellung hinein halluziniert, das Berliner Neutralitätsgesetz werde kurzfristig abgeschafft. Dem ist jedoch nicht so.

Neutralitätsgesetz: möglicherweise Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs?

Jetzt gilt es abzuwarten, was das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Und: dann gibt es auch noch den Europäischen Gerichtshof ….

Bereits die Wahlprogrammaussagen von Bündnis 90/Die Grünen ließen kein besonders vitales Interesse an einer Änderung oder gar Abschaffung des Neutralitätsgesetzes erkennen. Es gab innerparteilichen Widerstand, wobei – auch über Umfragen bestätigt – deutlich wurde, dass jedenfalls ein ganz erheblicher Teil der Grünen-Mitglieder keine Änderung des Gesetzes will.

Wahlprogrammaussagen der drei Koalitionsparteien

Die Wahlprogrammaussage der SPD – bei unbedingtem Bekenntnis zum Bestand des Neutralitätsgesetzes – lautete, dass gegebenenfalls eine Anpassung des Gesetzes vorzunehmen sei. Letztlich hat man sich im Koalitionsvertrag auf diese Formulierung geeinigt. Begonnen wird damit aber keinesfalls sofort, sondern frühestens nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Schon etwa seit Frühsommer 2021 war klar, dass eine gravierende Änderung des Neutralitätsgesetzes nicht kommen würde. Bei Bündnis 90/Die Grünen konnten sich Anträge zum Wahlprogramm, die auf eine (sofortige oder baldige) Beseitigung des Gesetzes abzielten, nicht durchsetzen. Nach umfassenden intensiven Verhandlungen bei der Erstellung des Wahlprogramms kam dann folgender Kompromiss heraus: "Wir setzen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts um und sind von der Prämisse der Antidiskriminierung geleitet. Daher kann das Neutralitätsgesetz so keinen Bestand haben." Die Säkularen Grünen, die grüne Landesarbeitsgemeinschaft Christ*innen und Mitglieder aus der säkularen Parteiszene hatten Anträge zum Erhalt des Gesetzes gestellt. Nach vielem Hin und Her mit immer neuen Vorschlägen für einen innerparteilichen Kompromiss konnte insbesondere aufgrund des enormen Einsatzes und des Verhandlungsgeschickes der säkularen Verhandlungsführerin, Katrin Schaar (Bezirksverband Charlottenburg/Wilmersdorf), ein Kompromiss vereinbart werden, der ausdrücklich keine Festlegung auf eine Abschaffung des Neutralitätsgesetzes enthält.

Die Formel "so keinen Bestand haben" bedeutet nichts anderes, als dass nötigenfalls für den Schulbereich eine Regelung zur Anpassung des Gesetzes an die Rechtsprechung erfolgen müsste. Der Kerngehalt dieser Aussage enthält letztlich nichts wesentlich anderes als das, was die Berliner SPD in ihrem Wahlprogramm mit einer "Anpassung" des Gesetzes "im Lichte der aktuellen Rechtsprechung" ausgedrückt hat. Hätte es keinen tragbaren Kompromiss gegeben, wäre von den Säkularen Grünen auf eine nach der Parteisatzung vorgesehene Urabstimmung sämtlicher Parteimitglieder orientiert worden.

Voraussehbar: Am Neutralitätsgesetz würde keine Koalition rot-grün-rot scheitern

Lediglich die Linke teilte in ihrem Wahlprogramm mit, dass das Verbot des Tragens religiös konnotierter Kleidung von Lehrerinnen im Schulunterricht aufgehoben werden müsse. Diese Partei konnte sich, ohnehin politisch geschwächt, in den Koalitionsverhandlungen damit nicht durchsetzen, sofern sie es überhaupt versucht haben sollte. Und daran sind erhebliche Zweifel angebracht.

Ohnehin war bereits im Sommer klar, dass niemand wegen der strikten Orientierung der SPD auf Beibehaltung des Gesetzes daran eine Koalition würde scheitern lassen. Das war bereits einige Zeit vor der Wahl Konsens.

Position "Pro Neutralitätsgesetz" nach Regierungsbildung gestärkt

Nach der Wahl sind die Verfechter*innen staatlicher Neutralität im Schulbereich in der Regierung gestärkt. Die SPD hat mit Astrid-Sabine Busse eine Frau zur neuen Schulsenatorin gemacht, die sich schon in ihrer bisherigen Tätigkeit als Vorsitzende des Interessenverbands Berliner Schulleitungen (IBS) ohne Wenn und Aber für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes ausgesprochen hat. Sie kommt aus der Schulpraxis und kennt die Probleme religiösen Mobbings an Schulen aufgrund eigener Anschauung.

Damit ist noch nicht alles: Tilman Wedekind-Kötterheinrich, bislang Leiter eines Gymnasiums in einem der Berliner "Problembezirke" in Neukölln, erhält nun eine Leitungs- und Koordinierungsfunktion im Stab der Schulsenatorin. Wedekind-Kötterheinrich ist ein bekannter vehementer Unterstützer des Berliner Neutralitätsgesetzes und spricht sich deutlich gegen das demonstrative Zeigen und Tragen religiöser Symbole durch Lehrende an Schulen aus. Vor kurzem erst äußerte er gegenüber den Medien, seine große Sorge sei, dass "teils wichtige Grundwerte in Frage gestellt würden" und bezog sich damit vor allem auf Schüler*innen mit arabischen, türkischen und auch bosnischen Wurzeln.

Es zeigt sich: die Situation "Pro Neutralitätsgesetz" ist nach der Wahl besser als zuvor.

Die jetzige Koalitionsaussage ist eine herbe Klatsche für diejenigen, die aus religiösen, identitären und kulturrelativistischen Gründen religiöse und weltanschauliche Bekundungen in Schulen, bei der Polizei und in der Justiz deutlich voranbringen und die staatliche Neutralität zurückdrängen wollen. Deren Träumereien von einem sofortigen Ende des Neutralitätsgesetzes haben sich zerschlagen.

Alle, die sich für den vollständigen Erhalt des Berliner Neutralitätsgesetzes einsetzen, haben demgegenüber allen Grund zur Zuversicht.

Wachsamkeit ist allerdings weiterhin geboten: die, die sich für die Schleifung des Neutralitätsgesetzes stark machen, werden sicherlich nicht mit ihrer agressiven Agitation gegen das Berliner Gesetz und gegen die Verfechter*innen der staatlichen Neutralität aufhören.

Die Propaganda beispielsweise gegen Tilman Wedekind-Kötterheinrich hat bereits begonnen, indem er – selbstverständlich ohne jede Begründung – als antimuslimisch bezeichnet wird. Dieses Totschlagargument ist zur Genüge bekannt. Es zeigt sich auch hier das, was bei Reichsbürgern, Coronaleugnern und Co. Usus ist: rationale Argumentation wird durch substanzlose Beschimpfungen ersetzt.

Man sieht: es gibt noch einiges zu tun. Von der Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz ist zu hören, dass sie ihre Arbeit gegen religiöse Indoktrination und für staatliche Neutralität im Schulbereich fortsetzen wird – dies ist die Gesellschaft den Kindern schuldig.

Unterstützen Sie uns bei Steady!