ifw-Beirat im Interview zum Münchner Missbrauchsgutachten

"Eine ehrliche Aufarbeitung verdient den Namen nur dann, wenn es unabhängige Experten gibt"

Vor knapp drei Wochen wurde ein von der Erzdiözese München und Freising beauftragtes juristisches Gutachten zu begangenem sexuellen Missbrauch der Öffentlichkeit präsentiert. Der hpd hat darüber mit Holm Putzke gesprochen; er ist Strafrechtsprofessor an der Universität Passau und war Initiator der ifw-Strafanzeigen wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger gegen alle deutschen Diözesen von 2018. Im Interview findet er klare Worte zur Passivität staatlicher Strafverfolgungsorgane, der zögerlichen Haltung der Politik und zur Zukunft der katholischen Kirche.

hpd: Kürzlich wurde das von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl verfasste Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising vorgestellt. Was halten Sie davon, wenn einzelne Diözesen Kanzleien mit der Erstellung solcher Gutachten beauftragen?

Holm Putzke: Eine ehrliche Aufarbeitung verdient den Namen nur dann, wenn es unabhängige Experten gibt, die sich damit befassen und ohne Rücksicht auf Rang und Namen die zu analysierenden Sachverhalte bewerten. Inzwischen hat wohl – leider nicht selten erst auf Druck sowohl der eigenen Mitglieder als auch der Öffentlichkeit – selbst die Mehrheit der deutschen Bischöfe begriffen, dass allein maximale Transparenz den ramponierten Ruf der Institution Kirche vor noch größerem Schaden bewahren kann, selbst wenn dadurch Personen ins Visier geraten, die heute noch hohe Ämter bekleiden, wie etwa der Münchner Prälat Lorenz Wolf.

Ich befürchte allerdings, dass es weder dem im Einflussbereich der katholischen Kirche begangenen Unrecht gerecht wird noch optimal ist, um Vertrauen zurückzugewinnen, wenn jedes Bistum sein eigenes Süppchen kocht. Von der Kirche ins Leben gerufene Aufarbeitungskommissionen gibt es noch immer nicht flächendeckend. Deshalb begrüße ich den Vorschlag, staatlicherseits eine unabhängige "Wahrheitskommission" einzurichten, weil damit eine einheitliche Linie gefunden und der unbefriedigende Flickenteppich bei der Aufarbeitung, wenn nicht beseitigt, so doch wesentlich ergänzt werden könnte.

Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl erklärte, sie habe "diejenigen Fälle, die Gegenstand des zu veröffentlichenden Berichts sein sollen und zumindest auch noch lebende kirchliche Leitungsverantwortliche betreffen, Anfang August 2021 der Staatsanwaltschaft München I zur Prüfung einer möglichen strafrechtlichen Relevanz übergeben" und diese ermittle. Was kritisieren Sie an diesem Vorgehen?

Der Kanzlei ist nichts vorzuwerfen – es gibt mit Blick auf die hier in Rede stehenden Straftaten grundsätzlich keine Anzeigepflicht. Vorzuwerfen ist aber den Strafverfolgungsorganen, dass sie in ihren Büros sitzen und darauf warten, irgendetwas übergeben zu bekommen, obwohl spätestens seit der mit Datum vom 27. Februar 2020 von der Erzdiözese München und Freising veröffentlichten Pressemitteilung bekannt ist, dass eine Kanzlei Beweismittel auswerten wird, die im Zusammenhang mit Sexualstraftaten stehen. Sobald ein Staatsanwalt oder Polizist von solchen Informationen Kenntnis erhält, etwa aus den Medien, ist er verpflichtet, von sich aus tätig zu werden, weil allein dies angesichts der konkreten Umstände genügt, um einen Anfangsverdacht gegen Unbekannt zu begründen.

Ob ein Anfangsverdacht zu bejahen ist, sprich zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat vorliegen, richtet sich nach der kriminalistischen Erfahrung. Inzwischen dürfte es sich doch bis zu jedem Streifenpolizisten herumgesprochen haben, dass unter dem Dach der katholischen Kirche sexueller Missbrauch in tausenden Fällen stattgefunden hat, dies über Jahrzehnte hinweg mit hoher krimineller Energie vertuscht wurde und trotz Kooperationszusagen immer wieder plötzlich neue Akten mit Verdachtsfällen auftauchen und an Staatsanwaltschaften übergeben werden. Nach kriminalistischer Erfahrung und angesichts des bekanntermaßen großen Dunkelfeldes drängt es sich doch geradezu auf, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten anzunehmen sind, wenn eine Kanzlei von der katholischen Kirche Akten erhält zwecks Erstellung eines Gutachtens, worin sie unter anderem beauftragt wird zu untersuchen, in wie vielen Fällen strafbare Handlungen vorliegen.

Wenn die Staatsanwaltschaft eine von der katholischen Kirche beauftragte Kanzlei gleichwohl erst einmal ermitteln lässt, ohne sofort eigene Ermittlungen aufzunehmen und ohne die der Kanzlei übergebenen Akten unverzüglich eigenhändig auszuwerten, verletzen die Strafverfolgungsbehörden das Legalitätsprinzip, nämlich die Pflicht, bei einem Anfangsverdacht sofort Ermittlungen aufzunehmen. Der Erstzugriff bei Straftaten ist nicht das heilige Recht der Kirchen und ihrer Bevollmächtigten, sondern die gesetzliche Pflicht der Strafverfolgungsbehörden! Nicht selber zu ermitteln, sondern dies zunächst einmal Privatpersonen zu überlassen, ist offensichtlich dienstpflichtwidrig und kann im Einzelfall sogar eine Strafvereitelung im Amt darstellen.

"Vorzuwerfen ist (...) den
Strafverfolgungsorganen,
dass sie in ihren Büros sitzen
und darauf warten, irgendetwas
übergeben zu bekommen"

Der gern erhobene Einwand, dass doch sowieso viele Taten verjährt seien, greift zu kurz: Denn die Staatsanwaltschaften können ja gar nicht wissen, ob etwas verjährt ist, wenn sie das nicht selber geprüft haben. Nicht allein wegen der komplexen Verjährungsregeln darf man so etwas weder den Kirchen noch ihren Gutachtern überlassen. Ob einzelne Taten verjährt sind, das muss vielmehr erst ein Ermittlungsverfahren klären.

Abgesehen von der katholischen Kirche ist kein ähnlicher Fall bekannt, bei dem die Strafverfolgungsorgane sich derart zögerlich verhalten haben. Man stelle sich nur vor, bei der Aufklärung des VW-Abgasskandals hätte die Staatsanwaltschaft die Aufklärung der möglichen Straftaten zunächst einmal irgendeiner von VW beauftragten Kanzlei überlassen und währenddessen die Hände in den Schoß gelegt. Das wäre ein veritabler Skandal. Es gibt keinen sachlichen Grund, warum dies bei der katholischen Kirche anders sein sollte und diese in den Genuss einer Sonderbehandlung kommt. Die sonst nicht gerade für Zurückhaltung bekannte Behörde, die wegen ihres energischen Auftretens oft zugespitzt auch als "Kavallerie der Justiz" bezeichnet wird, hat bei der Verfolgung von Sexualstraftaten in der katholischen Kirche anscheinend ihren Biss verloren.

Oft ist als Rechtfertigung auch zu hören, dass die Kirchen relevante Unterlagen ja freiwillig herausgeben würden, man nicht "ins Blaue hinein" nach Tätern suchen dürfte und die Anforderungen an Durchsuchungen hoch seien. Wie ist da die Rechtslage?

Niemand verlangt, dass ein Bischofssitz mit einer Hundertschaft Polizisten gestürmt wird. Wer solche Bilder produziert, will durch völlige Überzeichnung Forderungen nach einem konsequenteren Vorgehen gezielt diskreditieren. Es ist doch so: Immer wieder hat sich gezeigt, dass irgendwelche Akten "vergessen" wurden zu übergeben. Oft wurde in der Vergangenheit auch nur das zugegeben oder herausgerückt, was zu leugnen nicht mehr möglich war. Und wer befindet eigentlich darüber, was strafrechtlich relevant ist und was nicht? Das ist ureigene Aufgabe der Staatsanwaltschaft!

Nochmals zurück zur Wirtschaftskriminalität: Keine einzige Staatsanwaltschaft hätte den Heimweg angetreten und sich bei VW oder der Deutschen Bank mit der Erklärung zufriedengegeben, dass es sich bei freiwillig übergebenen Akten um alles handelt, was man habe. Vertrauen, von mir aus auch Gottvertrauen, ist gut und schön – aber doch bitte nicht gegenüber einer Institution, die dieses Vertrauen durch das jahrzehntelange Vertuschungsverhalten ihrer irdischen Vertreter grundlegend verspielt hat.

Niemand wäre bei einem Automobilkonzern auf die Idee gekommen, Untätigkeit und unterlassene Durchsuchungen damit zu rechtfertigen, dass dies "Ermittlungen ins Blaue hinein" gewesen wären. Fakt war doch: Es wurde manipuliert, aber am Anfang der Ermittlungen kannte ja auch niemand irgendeinen konkreten Täter. Diese wurden erst ermittelt, nachdem man die Akten ausgewertet hatte.

Wirklich niemand ist da auf die Idee gekommen, die Notwendigkeit von Durchsuchungen infrage zu stellen. Wer angesichts dessen behauptet, man dürfe doch nicht "ins Blaue hinein" ermitteln, verkennt die Rechtslage und misst mit Blick auf die katholische Kirche offensichtlich mit zweierlei Maß.

Auch der teils erhobene Einwand, dass bei Durchsuchungen bei Nichtbeschuldigten nach Paragraph 103 Absatz 1 Satz 1 der Strafprozessordnung erhöhte Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit gelten, ignoriert die insoweit klare Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach gelten nur dann erhöhte Anforderungen, wenn jemand auch aus Sicht der Ermittlungsbehörden in keiner Weise Anlass zu den Ermittlungsmaßnahmen gegeben hat. Also bei aller Liebe: Wenn in einer Bank jahrzehntelang Straftäter ihren Geschäften hätten nachgehen können, Vorgesetzte die straffälligen Angestellten gedeckt und die Straftaten vertuscht hätten, Jahre nach der partiellen Aufdeckung noch immer neue Fälle auftauchen und Verantwortliche ihre Hände in Unschuld waschen würden, dann wäre der Einwand, die Institution habe "in keiner Weise Anlass zu den Ermittlungsmaßnahmen gegeben" an Lächerlichkeit kaum zu überbieten.

Keine gegen eine angeordnete Durchsuchung erhobene Beschwerde hätte jemals Aussicht auf Erfolg. Wenn angesichts dieser überwältigenden Sachlage jetzt noch jemand behauptet, Durchsuchungen seien rechtlich nicht möglich, bestätigt dies die Aussage des Philosophen Arthur Schopenhauer, dass offensichtlich die Absicht der Einsicht im Weg steht.

Dr. Holm Putzke ist seit 2010 Professor für Strafrecht an der Universität Passau und seit 2016 zudem außerplanmäßiger Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden. Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer hat er sich bundesweit einen Namen als Strafverteidiger gemacht. Zudem ist er Richter beim Bundessport- und Schiedsgericht des Bundes Deutscher Radfahrer e. V. und Beirat des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw).

Wie ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Justizminister zu bewerten und wie verhält es sich als oberster Dienstherr mit dem Weisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften?

Auch hier liegt es mir fern zu verallgemeinern. Ich finde es auch richtig, wenn Justizminister bei Kritik nicht gleich von den Mitarbeitern abrücken, sondern sich hinter sie stellen. Allerdings darf dies nicht dazu führen, gegen Recht und Gesetz zu verstoßen. Wenn etwa die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza nach der Ende September 2018 vorgestellten Studie "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz", worin das beauftragte Forschungskonsortium tausende Missbrauchsfälle fundiert belegt hat, das Vorliegen eines Anfangsverdachts mangels konkreter Täter pauschal bestritten hat, kann man darüber als Jurist nur den Kopf schütteln.

Was das Weisungsrecht betrifft, ist es zwar geboten, dabei größte Zurückhaltung zu üben, weshalb viele Justizminister darauf auch ganz verzichten. Aber wann sollte die Weisungsbefugnis denn ausgeübt werden, wenn nicht in Fällen, in denen es Staatsanwaltschaften pflichtwidrig unterlassen, bei erneuten Anhaltspunkten systemisch bedingten sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen zu verfolgen! Wer als Minister die Weisung zur Aufnahme von sofortigen Ermittlungen unterlässt, nachdem zum Beispiel eine Kanzlei von einem Bistum Akten zur Prüfung der Strafbarkeit erhalten hat, worauf in einer Pressemitteilung sogar hingewiesen wird, und daraufhin die Staatsanwaltschaft untätig bleibt, macht sich selbst zum Teil des Systems, das der Aufklärung schwerster Straftaten entgegensteht und das Täter zu neuen Taten ermutigt, weil sie mit staatlichem Einschreiten nicht unbedingt rechnen müssen.

In einer dpa-Meldung haben Sie gefordert, alle kirchlichen Einrichtungen, die mit Kindern zu tun haben, unter Beobachtung zu stellen oder gar über einen Entzug der Trägerschaft nachzudenken. Das hat vor allem in den betroffenen Kreisen Empörung ausgelöst. Wurden Sie missverstanden?

Es handelt sich um ein altbewährtes Rezept, mit unliebsamer Kritik umzugehen: Eine Position lässt sich dann besonders gut kritisieren, nachdem man sie zuvor verfälscht oder sie im denkbar schlechtesten Sinn so interpretiert hat, dass die Kritik passt. So auch hier: Nicht die Kritik passt zu meiner Position, sondern die Kritiker haben eine Position, die nicht meine ist, ihrer Kritik angepasst.

Es lässt sich ja heute gar nicht mehr ernsthaft bestreiten, dass in den Einrichtungen der katholischen Kirche in großem Ausmaß Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht wurden, dass Verantwortliche massiv vertuscht und dadurch weitere Straftaten ermöglicht haben, dass die Aufarbeitung oftmals nur schleppend geschieht und die Institution damit erkennbar überfordert ist, was auch den Umgang mit der Entschädigung von Opfern angeht, und dass es mit Blick auf die Eliminierung von Tatgelegenheitsstrukturen und Präventionsmaßnahmen bei den 27 Bistümern unterschiedliche Ansätze und Geschwindigkeiten gibt. Wenn dann ein weiteres Gutachten dies alles wieder genau so bestätigt, dann ist es höchste Zeit, alle strukturellen Ermöglichungsbedingungen und bereits ergriffenen Maßnahmen zu evaluieren, nicht zuletzt, um dem massiven Vertrauensverlust entgegenzuwirken. Nichts anderes habe ich zur Diskussion gestellt.

"Vertrauen, von mir aus auch
Gottvertrauen, ist gut und schön – aber doch bitte nicht gegenüber einer Institution, die dieses Vertrauen durch das jahrzehntelange Vertuschungsverhalten ihrer irdischen Vertreter grundlegend verspielt hat."

Ich habe nicht gesagt, dass man nun alle Mitarbeiter unter Beobachtung stellen sollte, sondern die kirchlichen Einrichtungen. Das ist ein grundlegender Unterschied. Wer nun von einem Generalverdacht spricht, will entweder von etwas ablenken oder aber er sucht gezielt nach einem Anlass, sich zu empören. Es ist völlig absurd und auch verleumderisch zu behaupten, ich würde jeden einzelnen Mitarbeiter für einen potentiellen Sexualstraftäter halten. Der Vorwurf, es sei ein Generalverdacht über Mitarbeiter der kirchlichen Einrichtungen verhängt worden, ist entweder perfide oder dümmlich. Er hilft nur denen, die von notwendigen Maßnahmen ablenken wollen.

Auf meine Forderung kann man nun in zweierlei Art und Weise reagieren: Souverän, indem man offen dazu einlädt, alles anzuschauen, weil es nichts zu verbergen gibt und die Fortschritte sich sehen lassen können, oder aber empört-hysterisch, wodurch freilich eher der Eindruck entsteht, dass nur getroffene Hunde bellen. Was klüger ist, mag jeder selber beurteilen.

Hat Sie die Kritik überrascht, die vor allem aus den kirchlichen Einrichtungen kam, etwa von der Caritas?

Das hat mich allein deshalb überrascht, weil ich nur das gefordert habe, was ohnehin geltendem Recht entspricht. Sich darüber zu echauffieren, offenbart ein seltsames Rechtsverständnis. Um beim Beispiel der Kita zu bleiben: Ein Träger bedarf zum Betrieb einer Kita eine Erlaubnis. Diese Erlaubnis darf nur dann erteilt werden, wenn der Täger die erforderliche Zuverlässigkeit besitzt. Die zuständige Behörde ist nach Erteilung der Erlaubnis nach den Erfordernissen des Einzelfalls verpflichtet zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Erteilung der Erlaubnis weiter bestehen. Im Rahmen dessen können beispielsweise auch jederzeit unangemeldet örtliche Prüfungen erfolgen. Niemand käme auf die Idee, jemanden, der auf die Anwendung geltenden Rechts hinweist, zu bezichtigen, er würde damit einen Generalverdacht gegen die Mitarbeiter verhängen. Allein das zeigt, wie wenig die Rechtslage bekannt ist und wie sehr die Aufregung inszeniert war.

Und Körperschaften des öffentlichen Rechts können bei begründeten Zweifeln an ihrer Rechtstreue auch ihre Körperschaftsrechte und die damit verbundenen Privilegien entzogen werden. Warum die altkorporierten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gegenwärtig von dieser Möglichkeit des Entzugs des Körperschaftsstatus ausgenommen sind, erschließt sich nicht. Hier sehe ich den Gesetzgeber in der Pflicht. Aufgrund der Förderung von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen in der hier vorliegenden Form und all den Vertuschungsaktionen ist die Frage nach der Rechtstreue zweifellos zu stellen. Zumal ja selbst höchste Würdenträger der katholischen Kirche, wie Kardinal Marx, ein "systemisches Versagen" der Institution betonen.

Die Menschen sind erschüttert über die neuesten Enthüllungen aus München, dort zeichnet sich bereits ein neuer Kirchenaustrittsrekord ab. In wütenden Online-Kommentaren wird gefordert, die katholische Kirche zur kriminellen Vereinigung zu erklären, zu enteignen oder gar zu zerschlagen. Wie realistisch beziehungsweise sinnvoll sind solche Forderungen?

Ich verstehe die emotionalen Reaktionen. Wenn ausgerechnet die Mitarbeiter einer Institution abgrundtief sündigen, die gleichzeitig in Sonntagspredigten höchste moralische Ansprüche vertreten und von anderen unter Androhung von Fegefeuer und ewiger Höllenqual entweder ein sündenfreies Leben oder aber ein reuiges Sündenbekenntnis verlangt, dann trifft sie die geballte Verachtung und gesellschaftliche Ächtung ja zu Recht. Doppelmoral kommt nirgendwo gut an, auch nicht bei eingefleischten Katholiken.

Man muss aber immer auch die Kirche im Dorf lassen: In strafrechtlicher Hinsicht handelt es sich natürlich nicht um eine kriminelle Vereinigung, wenngleich ich – wie gesagt – nach all dem verursachten Leid allemal Verständnis dafür habe, dass umgangssprachlich davon gesprochen wird.

Enteignungs- oder Zerschlagungsforderungen sind – ungeachtet rechtlicher Realisierbarkeit – fehl am Platz. Ich halte die katholische Kirche für einen wichtigen gesellschaftlichen Faktor. Zum einen gibt der Glaube vielen Menschen Halt, zum andern übernehmen viele Gläubige wertvolle Aufgaben, die der Staat allein kaum schultern könnte. Wer meint, der Gesellschaft etwas Gutes zu tun, indem er den beiden großen Glaubensgemeinschaften den Niedergang wünscht, verkennt, bei aller berechtigten Kritik mit Blick auf Strukturen und eine viel zu enge Verquickung zwischen Kirche und Staat, deren Bedeutung für viele Gläubige, für die vielen unbescholtenen kirchlichen Mitarbeiter und nicht zuletzt für unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben.

Holm Putzke
Holm Putzke (Foto: © privat)

Die Bundesregierung hat die katholische Kirche zur "vollständigen Aufklärung" und "umfassenden Aufarbeitung" aufgerufen. Das klingt nicht nach einer aktiven Rolle des Staates. Was sagen Sie dazu? Ist das erneuter Ausdruck der "Beißhemmung" des Staates gegenüber den Kirchen, von der Sie vergangenes Jahr im hpd-Interview sprachen?

Ich befürchte, dass die Politik, wie so oft, nur heiße Luft produziert. Zum einen sind viele Politiker selber viel zu eng mit den Kirchen verbunden, um unbefangen zu agieren. Man stelle sich nur vor, ein Bundestagsabgeordneter wäre eng mit einem Automobilunternehmen verbandelt und müsste eine Entscheidung darüber treffen, wie hart das Unternehmen angesichts der Manipulation von Abgaswerten zur Rechenschaft gezogen wird. Es käme dabei vermutlich nicht viel für die Verbraucher heraus, weil Lobbyisten selten unbefangen urteilen und entscheiden.

Nicht anders verhält es sich oftmals mit Politikern, die Mitglied einer Kirche sind und sich dort engagieren. Auch bei ihnen besteht die Besorgnis der Befangenheit. Zudem haben viele Politiker Angst vor den Kirchen, weil sie Liebesentzug fürchten und damit zugleich einen Verlust an Wählerstimmen. In diese Kategorie fällt auch der Söder'sche Kreuzerlass, eine Aktion, die völlig nach hinten losging, weil dies selbst führende Kirchenvertreter und viele Gläubige als anmaßend und übergriffig empfunden haben.

Wegen diverser Abhängigkeiten schweigen die meisten Politiker lieber zu kirchlichen Skandalen oder geben Banalitäten von sich. Um nicht missverstanden zu werden: Ich wünsche mir als Politiker weder Kirchenhasser noch Kirchenlobbyisten – in staatlichen Parlamenten hat der Glaube nichts zu suchen, erst recht hat die Gesetzgebung in einem weltanschaulich neutralen Staat frei zu sein von religiösen Einflüssen.

Der ehemalige Papst Benedikt XVI. wurde durch die Gutachter überführt, in seiner Stellungnahme unwahre Tatsachen behauptet zu haben. Wären strafrechtliche Konsequenzen dafür und für das ihm zur Last gelegte Fehlverhalten denkbar?

Wer sich den gesamten Sachverhalt anschaut, wird keine vorsätzliche Falschaussage erkennen, schon gar keine strafbare. Eine andere Frage ist es, wenn jemand einen aktenkundigen Missbrauchstäter an eine Stelle versetzt oder, obwohl er dies hätte verhindern können, versetzen lässt, bei der dieser Missbrauchstäter erneut mit Kindern Kontakt hat. Kommt es dann zu Sexualstraftaten, sind strafrechtliche Konsequenzen auch für verantwortliche Führungskräfte in Betracht zu ziehen.

"Wer (...) behauptet, man dürfe doch nicht 'ins Blaue hinein' ermitteln, verkennt die Rechtslage und misst mit Blick auf die katholische Kirche
offensichtlich mit zweierlei Maß."

Hat die Kirche verstanden, dass Straftaten keine rein internen Angelegenheiten sind, sondern primär das weltliche Strafrecht gilt?

Verstanden haben das inzwischen vermutlich alle, aber es steht auf einem anderen Blatt, ob es auch von jedem Kirchenfunktionär für richtig gehalten wird. Genau an dieser Stelle kommt es zum Schwur, nämlich, ob es eine "Kultur" des Wegsehens und Vertuschens gibt oder aber eine klare Kante gegen sexuellen Missbrauch mit allen Konsequenzen auch für "Glaubensbrüder". Einen Mentalitätswechsel zu erreichen geht meistens nicht von heute auf morgen. Das braucht Zeit. Ob die Katholiken ihrer Kirche diese Zeit zu geben bereit sind, daran dürfen leise Zweifel angemeldet werden. Die derzeitige Austrittswelle ist eine Abstimmung mit den Füßen und trifft die ohnehin immer schwächer werdende Kirche mit voller Wucht. Obwohl in den letzten Jahren zweifellos schon viel Positives geschehen ist, was sicher auch bei vielen Funktionären zu einem Mentalitätswechsel geführt hat, ist der Erosionsprozess in vollem Gange und ich habe große Zweifel daran, ob es der Kirche gelingt, ihn zu verlangsamen, geschweige denn aufzuhalten. Bezogen auf die Führungsebene der Kirche ist der jetzt beschrittene "Synodale Weg" bei Lichte betrachtet ein Verzweiflungsakt im Angesicht über kurz oder lang drohender Marginalisierung.

Einer der Gutachter zitierte auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der Münchner Missbrauchsstudie folgenden Satz aus den Akten: "Wir können froh sein, dass die Sache bei einem guten katholischen Richter gelandet ist, sonst wäre sie viel schlimmer ausgegangen." Es gebe keinen Grund zur Annahme, dass es sich dabei um einen Einzelfall handele, ergänzte er. Wird auch dann noch mit zweierlei Maß gemessen, wenn es zu einer Gerichtsverhandlung gegen kirchliche Straftäter kommt?

Ich bin kein Freund von Pauschalisierungen. Aber es gibt auch eine Evidenz der Einzelfälle. Es wäre nicht nur an der Zeit, einmal die Verstrickungen von Politik und Kirchen näher in den Blick zu nehmen, sondern auch das Verhältnis der Kirchen zur Justiz und zu den Medien.

Und bei der Gelegenheit ist es auch Zeit dafür, die kirchlichen Sonderrechte unter die Lupe zu nehmen. Einmal abgesehen vom diskriminierenden kirchlichen Arbeitsrecht ist es ein Skandal, dass heutzutage, vor allem basierend auf dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, immer noch Staatsleistungen an die Kirchen gezahlt werden, im Jahr 2021 mehr als 500 Millionen Euro, etwa 100 Millionen in Bayern, allein an die evangelische und katholische Kirche, obwohl es seit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung von 1919 einen Verfassungsauftrag zur endgültigen Beendigung sämtlicher Staatsleistungen durch einmalige Ablösung gibt, der 1949 in unser Grundgesetz übernommen wurde. Die Kirchen haben bereits mehr erhalten, als ihnen jemals an Entschädigungen für Enteignungen zustand. Es ist unerträglich und empörend, dass die Kirchen sich vom Staat wider die Verfassung überentschädigen lassen, sie selbst aber die Opfer des eigenen Schweige- und Vertuschungssystems mit unangemessen niedrigen "Anerkennungsleistungen" abspeisen.

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