Über lange Phasen der Menschheitsgeschichte hinweg war diese davon geprägt, dass jede Gruppe ihre eigenen Wahrheiten als absolut erachtete und Macht das alleinige Kriterium war, nach dem "Wahrheit" definiert wurde. Von den großen Konzepten der Religionen und Weltanschauungen bis hinunter zu Gruppen und gar Einzelpersonen, die ihre "kleinen" Wahrheiten im menschlichen Zusammenleben mit Sturheit und Intoleranz durchzusetzen versuchten. Werte und Konventionen der Einen wurden als den Werten und Konventionen der Anderen überlegen verstanden. Die Folge war mindestens Verachtung, aber auch Diskriminierung bis hin zur Entmenschlichung des Anderen oder ganzer Gruppen.
Aus selbstkritischer westlicher Perspektive muss man heute feststellen, dass mit der Erringung der westlichen Vormachtstellung eine Arroganz und Geringschätzung nicht-westlicher Werte, Zivilisationen und Kulturen einherging, die Sklaverei und Kolonialismus, Ausbeutung und Genozide nicht nur legitimierte, sondern sogar beförderte.
Erst mit dem Einzug der Idee der Menschenrechte und ihrer Durchdringung der westlichen Gesellschaften begann die Selbstsicherheit, dass man die Wahrheit ausschließlich auf seiner Seite habe, langsam zu bröckeln. Zugleich sollten sich Rassismus, Eurozentrismus, christlicher Missionseifer, Sexismus und Überlegenheitsgefühle westlicher Gesellschaften noch sehr lange Zeit halten.
Die Widersprüche zwischen dem Ideal der Menschenrechte und den tatsächlichen Verhältnissen, in denen weite Kreise der Bevölkerung von allen oder zumindest einigen Menschenrechten ausgeschlossen waren, führten schließlich dennoch dazu, die eigene Sicht auf eigene Wahrheiten sowie Überlegenheitsgefühle zunehmend in Frage zu stellen.
Es entwickelte sich der Relativismus als Korrektiv zur eigenen Voreingenommenheit in Bezug auf die Konstruktion von Wahrheit, Werten und Konventionen. Gekennzeichnet war er von einer sehr starken emanzipatorischen Wirkung für zuvor benachteiligte Gruppen bis hin zu Einzelindividuen.
Zweifelsfrei ist der Grundsatz richtig, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt und insbesondere gesellschaftliche Verhältnisse an Vorbedingungen geknüpft sind, die ihrerseits auf Bedingungen der jeweiligen Umwelt und geschichtlicher Entwicklung fußen. Indes geriet der wertvolle Beitrag des Relativismus zur Weiterentwicklung der Menschheit über das Zuträgliche hinaus und entwickelte sich zu einem anti-emanzipatorischen Diskurselement.
Infragestellung der universellen Menschenrechte
Heute kann man in westlichen Gesellschaften allerorten eine Trägheit in Bezug auf die Verteidigung der Menschenrechte antreffen, die zwischenzeitlich alle Formen der Zusammenarbeit mit autoritären Machthabern, Staaten und Gesellschaften möglich macht, ohne dass sich das westliche Gewissen rührt angesichts der Verletzung von Menschenrechten. Dies gilt auf staatlicher und unternehmerischer Ebene, wie auf der Ebene des Einzelnen.
Die Menschenrechte an sich werden in einer neurassistischen Art und Weise in Frage gestellt. So als müsste man verstehen, dass die Menschenrechte als westliche Erfindung vollumfänglich zuvorderst – man denke dabei nur an die Demokratie und die Gleichstellung von Mann und Frau – für die Menschen des Westens geeignet seien, aber nicht zwingend auch für andere Staaten oder Kulturkreise.
Da die Menschenrechte stets auf das Individuum zielen und nicht auf Ethnien, Gruppen oder gar kulturelle Eigenarten als Ganzes, werden sie mit dem Argument relativiert, dass in anderen Kulturen das Individuum nicht jenen Stellenwert in der Gesellschaft habe wie im Westen. In nicht-westlichen Gesellschaften würde die Gemeinschaft höher bewertet, was eine mindestens gleichwertige ethische Position sei. Statt der Gemeinschaft als kulturelle, religiöse oder ethische Wertegemeinschaft kann auch die territoriale Staatlichkeit als Fetisch ins Feld geführt werden, um im Namen dieser angeblich mindestens gleichwertigen Position Individualrechte zu verletzen.
Der Relativismus ist zu einem Deckmäntelchen verkommen, um nicht zu Lasten von Profit und Bequemlichkeit für humane Werte einstehen zu müssen. Dabei kann man sich sogar noch großartig als Antirassist, als tolerant und aufgeklärt gerieren. Das gilt mit unterschiedlichen Schwerpunkten für die große Politik wie auch für den Einzelnen in seiner kleinen privaten Welt.
Der Relativismus hat sogar Auswirkungen hervorgebracht, die unsere wichtigste Erkenntnismaschine sabotieren. Die naturwissenschaftliche Methode als effizientestes Instrument der Erkenntnisgewinnung wird mit Eingebung und Dilettantismus relativiert, auf dass neben wissenschaftlich fundierten Aussagen auch Behauptungen stehen gelassen werden, die keinerlei Realitätsgehalt aufweisen.
Die jüngsten Ereignisse in Europa und der Welt, die Anlass zum Umdenken geben – von der Ermordung von Journalisten in Saudi-Arabien über die brutale Missachtung von Frauenrechten in Afghanistan und die Inhaftierung von Regimegegnern in der Türkei, in China und Russland bis hin zur Niederschlagung der Proteste in Belarus –, erfahren mit dem Überfall Putins auf die Ukraine gerade einen entsetzlichen Höhepunkt.
Kulturelle Unterschiede sollten kein Maßstab für den Zugang zu Menschenrechten sein
Wie lange haben wir die Augen verschlossen vor den Menschenrechtsverstößen des Regimes Putin! Jetzt, da wir zu sehen beginnen, können wir das, was in Russland geschehen ist, nicht länger "wegrelativieren". Und einmal aufgewacht müssen wir erkennen, dass wir auch das Unrecht in anderen Teilen der Welt nicht länger relativieren können.
Die Auswüchse des Relativismus sind zurückzuschneiden auf grundsätzliche erkenntnistheoretische Aspekte. Innerhalb menschenrechtsbasierter Standpunkte hat der Relativismus nichts mehr zu suchen. Diese dürfen und müssen absolut gesetzt werden.
Und weil in den letzten Jahren verschämte Versuche unternommen wurden, die Menschenrechte nicht-westlichen Kulturen dadurch schmackhaft zu machen, dass man die Wurzeln dieser Rechte, insbesondere auch durch islamische Einflüsse, in allen Kulturen auszumachen glaubte, sei endlich selbstbewusst gesagt, dass das eine Scheindebatte ist.
Selbst wenn die Menschenrechte tatsächlich eine westliche "Erfindung" sein sollten, die sich aus der westlichen Kulturentwicklung ergeben hat, so würde dies dennoch in keiner Weise eine etwaige Überlegenheit westlicher Menschen begründen. Nicht, wenn man die Menschen als eine Spezies begreift. Es wäre schlicht ein geographischer Zufall, wenn Menschen im Westen die Menschenrechte entwickelt hätten; und diese wären keineswegs biologistisch und damit rassistisch ein Produkt des "Westmenschen". So zu denken wäre in Wahrheit rassistisch.
Das Gleiche ließe sich auch zur Bedeutung der modernen Wissenschaft sagen.
Dem Menschen als Spezies sind bestimmte Dinge universal zuträglich und andere Dinge nicht. Die Menschen weltweit haben in ihrem Menschsein derart viele universelle Gemeinsamkeiten, dass die kulturellen Unterschiede nicht länger als Maßstab dafür dienen sollten, welchen Kulturen man die Menschenrechte selbstverständlich vollumfänglich zugänglich macht und bei welchen man es duldet, dass sie keinen vollständigen Zugang dazu erlangen.
Dass damit nicht einem Kreuzzug für die Menschenrechte das Wort geredet wird, sollte gutwillig selbstverständlich sein. Kreuzzüge, aus welcher Motivation heraus auch immer, sind ein Widerspruch zu den Menschenrechten an sich. Auch sind die realen gesellschaftlichen und staatlichen Machtverhältnisse eben so, wie sie sind, und man muss sich realpolitisch darauf einstellen. Aber die Stoßrichtung der anzustrebenden Entwicklung sollte ganz klar sein. Profit und Bequemlichkeit dürfen jedenfalls kein Grund sein, um sich wegzuducken und vom Relativismus einlullen zu lassen.
Erstveröffentlichung auf der Webseite der gbs-Regionalgruppe Rhein-Neckar.
14 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ein realistischer und ehrlicher Artikel zum Thema Relativismus.
Diese Thematik hat in einem Buch niemand besser beschrieben als Paul Schulz, welches den Titel trägt < COTEX ATHEOS > darin sind Lösungsmöglichkeiten für das beschriebene Dilemma dargestellt und ein überzeugendes Weltbild für zukünftige Generationen aufgezeigt.
David Z am Permanenter Link
Im grossen und ganzen schon richtig. Nur ein paar kleine Anmerkungen:
"Aus selbstkritischer westlicher Perspektive muss man heute feststellen, dass mit der Erringung der westlichen Vormachtstellung eine Arroganz und Geringschätzung nicht-westlicher Werte, Zivilisationen und Kulturen einherging, die Sklaverei und Kolonialismus, Ausbeutung und Genozide nicht nur legitimierte, sondern sogar beförderte."
Das ist sicher richtig. Aber was bringt diese Feststellung? Ist das etwas spezifisch westliches? Ich denke nicht, und erinnere nur an eines der größten Imperialistischen Staaten der Geschichte, das Osmanische Reich. Vielmehr scheint mir ein anderer Aspekt hier erwähnenswert: OBWOHL oben genanntes der Fall war, waren es die "westlichen" Staaten, die sich aus dieser chauvinistischen Denkweise befreien konnten und mit der Einführung des Sklavereiverbots und dem Konzept der Menschenrechte einen zivilisatorischen Meilenschritt gemacht haben.
"Aber die Stoßrichtung der anzustrebenden Entwicklung sollte ganz klar sein. Profit und Bequemlichkeit dürfen jedenfalls kein Grund sein, um sich wegzuducken und vom Relativismus einlullen zu lassen."
Dass jeder Mensch, egal wo er lebt bzw geboren wurde, von diesen neuen Konzepten profitieren können sollte und, theoretisch, auch kann, ist richtig. Auch das Propagieren dieser Konzepte halte ich für sinnvoll. Ich denke, zur Wahrheit gehört aber auch, dass gewisse kulturelle Prägungen und Strukturen diesen Konzepten durchaus im Wege stehen können. Mit dieser Erkenntnis muss man als Realist leben und pragmatisch umgehen. Jegliche Geschäfte mit der halben Welt einzustellen, weil diese die eigene Werte nicht teilen, erscheint mir reichlich naiv und nicht zielführend - vielleicht ist ein solcher Weg mittel und langfristig sogar kontraproduktiv.
"Zweifelsfrei ist der Grundsatz richtig, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt ..."
Die Aussage halte ich in dieser Formulierung für nicht korrekt. Selbstverständlich gibt es absolute Wahrheiten. Das Problem ist, dass wir die Wahrheiten nicht zu 100% kennen und uns ihrer mit den bekannten wissenschaftlichen Werkzeugen nur annähern können.
Frank von der Heyde am Permanenter Link
Tja, absolute Wahrheiten gibt es mit Sicherheit. Nur werden diese von dem Betrachter nur unterschiedlich wahrgenommen (Stichwort: Wahrnehmungs-BIAS) und von daher unterschiedlich interpretiert.
Manfred H. am Permanenter Link
Zu Ihrer letzten Feststellung: So habe ich auch immer gedacht. Aber absolute Wahrheiten können offenbar nur von einem absoluten Wesen überhaupt erkannt werden.
Wenn es aber gar kein derartiges Wesen gibt - welchen Sinn macht es dann noch, von absoluten Wahrheiten zu sprechen, wenn sie schon definitionsgemäß niemand erkennen kann?
David Z am Permanenter Link
Woher wollen Sie wissen, dass es kein "absolutes Wesen" gibt, das absolute Wahrheiten erkennen kann, wenn sie absolute Wahrheiten als Prämisse bereits ausschließen?
Manfred H. am Permanenter Link
Natürlich "kann" es Gott geben.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Hallo Manfred, eine Aussage welche ich auf Grund meiner 76 jährigen Lebenserfahrung und
den Ereignissen der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag, nicht befürworten kann.
Roland Fakler am Permanenter Link
Wo Menschen leiden, ist die Welt nicht in Ordnung!
D.h. wir müssen daran etwas ändern.
Gerd SIMON am Permanenter Link
Lieber Herr Winkler
als Agnostizist stimme ich Ihnen zu, bis auf Ihren Gebrauch von „absolut“ zu deutsch „los gelöst.“ Das zeigen v.a. einige Kommentare. Leider genießt der Begriff „absolut“ immer noch viele Sympathien. Seit dem modernen Agnostizismus à la Vaihinger verdankt sich diese Sympathie falsch gestellten Fragen und auf sie hereingefallenen Antworten.
Die „es gibt“ oder Existenzfragen, wie man sie in der Philosophie nennt, rechnen nämlich nicht damit, dass sie falsch gestellt sein können. Wie sich Agnostizisten, ohne in Denkfallen zu geraten, zu dem Thema erhellend äußern können, lässt sich nachlesen unter:
http://www.gerd-simon.de/fiktionen.pdf
Der Begriff „absolut“ passt vielleicht in die Zeit des Absolutismus (vor 1800), aber nicht einmal in die des Imperialismus.
Gerd SIMON
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Ein absolut hervorrangender Beitrag, bei dem ich mich dafür bedanke, dass das Wissenschaftsthema darin einen ausdrücklichen Platz gefunden hat.
SG aus E am Permanenter Link
„Kulturelle Unterschiede sollten kein Maßstab für den Zugang zu Menschenrechten sein“
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Wer die Universalität der Menschenrechte verteidigt, sollte auch deren Grundlage, ein universalistisches Menschenbild, anerkennen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ ( Art. 1 AEMR).
Praktisch heißt das: Auch Menschen aus muslimischen und/oder afrikanischen Gesellschaften sind prinzipiell fähig, mit der angestammten Bevölkerung friedlich zusammenzuleben und mögliche Konflikte gewaltfrei zu lösen. Welcher Grund bleibt also, Ukrainer, die vor Putin fliehen, Afghanen, die vor den Taliban fliehen, vorzuziehen?
Manfred H. am Permanenter Link
"Welcher Grund bleibt also, Ukrainer, die vor Putin fliehen, Afghanen, die vor den Taliban fliehen, vorzuziehen?"
Nun ja, vielleicht ein Blick auf die Landkarte.
Ein Afghane flieht nicht einfach mal in ein Nachbarland, um in Sicherheit zu sein. Es geht gezielt in die EU, und das hat dann mit "fliehen" nur noch im übertragenen Sinne etwas zu tun.
Das kann man den Menschen natürlich nicht verübeln, aber es lässt doch erahnen, warum man den ukrainischen Kriegsflüchtlingen in Polen erheblich mehr Empathie entgegenbringt als den afghanischen Flüchtlingen, die über den Flieger von Istanbul nach Minsk an der weißrussischen Grenze strandeten.
SG aus E am Permanenter Link
„Nun ja, vielleicht ein Blick auf die Landkarte.“ – Ja eben.
Da ist noch ein Zweites, was mir aufgefallen ist: Die Regionalgruppe Rhein-Neckar, der der Autor wohl angehört, hat ihre Standpunkte zum Islam veröffentlicht. Darin heißt es:
„Als Säkulare Humanisten distanzieren wir uns prinzipiell von fremdenfeindlichen Positionen! Gleichwohl vertreten wir eine Kritik des Islam als einem Glaubenssystem, das in seinen Grundpositionen mit den Allgemeinen Menschenrechten und demokratischen Formen des Zusammenlebens nicht in Einklang zu bringen ist. [...]“ (1)
Was bedeutet hier das Wort „gleichwohl“ und wie wirkt es sich auf die Rechte der Betroffenen aus? Und wenn man die Menschenrechte als Freiheitsrechte versteht, was bedeutet es dann, dass die gbs-rhein-neckar eine „Durchsetzung der Menschenrechte“ bis in die Familien hinein fordert?
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(1) https://gbs-rhein-neckar.org/PUBLIKATIONEN/STANDPUNKTE/
Manfred H. am Permanenter Link
"Keiner der Nachbarstaaten Afghanistans ist für seine besonderen Leistungen im Bereich der Menschenrechte bekannt".
Also geht es gar nicht speziell um Afghanen, sondern auch um Pakistani, Iraner, Tadschiken, Turkmenen, Usbeken und strengenommen auch noch Chinesen.
Und das auch nur, wenn ich sie wortwörtlich nehme, ansonsten ist noch lange nicht Schluss.
Eigentlich hätte Ihre Frage also heißen müssen: Welcher Grund bleibt also, Ukrainer, die vor Putin fliehen, dem Rest der Welt, vorzuziehen?
Vermutlich der, dass sie uns einfach näher sind, in jeglicher Beziehung.