Mitgliedschaft out – Zugehörigkeit in

Gott* mit Genderstern gegen weiteren Zulauf bei Konfessionsfreien? (Teil 1)

Bezieht sich das Phänomen emotionaler, moralischer und rationaler Distanzierung auf den Kern christlichen Glaubens oder auf die Institution Kirche? Welche innovativen Strategien verfolgen deren Verteidiger gegen die rasante Austrittswelle?

Die zunehmende Zahl von Kirchenaustritten ist inzwischen keine aufregende Meldung mehr. Interessanter scheint da – etwa am Beispiel der folgenden Persönlichkeiten –, wie Glaubensvertreter*innen unterschiedlicher Professionen und Generationen den Mitgliederschwund ihrer Kirche bekämpfen wollen – bei aller Kritik, Skepsis und Unzufriedenheit, ohne die sie sich von vornherein ja unglaubwürdig machen würden.

Büttenrede zu Karneval vom "Glutkern" des Glaubens

Da ist als westfälische Frohnatur etwa der Diakon und Kabarettist Willibert Pauels (68), der im Karneval zum überraschenden Ende jeder seiner Büttenreden einen "Glaubenskern" anspricht. Es gehe zentral um die zu vermittelnde Botschaft, "dass der Tod nicht das letzte Wort hat, dass der Mensch eine Seele hat, dass es eine Dimension gibt, die die materielle unendlich übersteigt." Das Bedürfnis danach gebe es auch in seinem atheistischen Freundeskreis, wobei 80 Prozent seines Kabarett-Publikums eher Kirchenferne seien, die rationale Vorbehalte hätten. Aber "aus atheistischer Sicht", hält Pauels ihnen auf der Bühne entgegen, "endet alles auf dem kosmischen Abfallhaufen des NICHTS, in einem Universum, welches völlig gleichgültig in Myriaden von Sternenhaufen, ohne tieferen Sinn vor sich hin rollt." Alles sei dann letztlich nur eine reagierende Materie, und auch Liebe laut Richard Dawkins "nur ein Trick der Evolution, ein biochemischer Prozess im limbischen Gehirnlappen zwecks Erhaltung der Art".

Und Pauels legt dann weiter los: Wann und warum sei zum Beispiel ein bestimmter Pfarrer so beliebt? "Weil er authentisch ist. Sein Talent ist es, ganz nah bei den Menschen, vor allem den Armen und Abgehängten, zu sein." Kurz gesagt, die Kirchen müssen auf ihre beiden Hauptkompetenzen, den "Glutkern des Glaubens", zurückgreifen: SPIRITUALITÄT und BARMHERZIGKEIT. Er rate den Kirchen zudem dringend, "verschont uns mit der Belehrung von Moral … Die Kirchen müssen aufhören, Antworten zu geben auf Fragen, die überhaupt nicht gestellt wurden. Zum Beispiel interessiert es die Menschen nicht, ob das Lehramt praktizierte Homosexualität verurteilt. … Das gilt auch für gesellschaftliche Themen wie den Klimawandel. Das könnn Greta und Greenpeace viel besser und dafür brauche ich keine Religion."

Die Pfarrerin Corinna Zisselsberger (37) sieht alles ganz anders, wenn sie von ihrer Marienkirche in Berlin-Mitte (dem ältesten bestehenden Gebäude der Hauptstadt) als dem "Haus des Lichts" spricht. Weniger als zehn Prozent der Menschen im ehemaligen Ostberlin gehörten ihrer Kirche an. Im Interview mit der Zeit (vom 15.12.2022) erklärt Zisselsberger, dass der Nachweis der Mitgliedschaft gar nicht im Vordergrund stehe – und dass sie selbstverständlich durchgehend gendere, konsequent in ihren Predigten und religiösen Texten. Auch "Jesus schließt keinen aus, das passt nicht zu einer einladenden Kirche", betont sie. Dabei sei zu bedauern, "dass die Aversion gegen die Kirche wächst." So bekämen sie in ihrer Gemeinde "wütende Briefe von Austrittswilligen", aber nicht nur von solchen, die sich verständlicherweise an patriarchalischen und hierarchischen Strukturen stören. Vielmehr gebe es darunter zurzeit viele, die nicht ertragen, dass die evangelische Kirche mit den – auch sich festklebenden – Klimaaktivisten solidarisch sei. "Jetzt treten reihenweise Leute aus, weil sie nichts mit 'Klima-Chaoten' zu tun haben wollen." Gemeint sind die der sogenannten Letzten Generation – deren Forderung, nur noch 100 Kilometer pro Stunde auf der Autobahn zu fahren, sei für die Bischöfe der evangelischen Kirche beschlossen worden.

Gegenderter Segensspruch und Bild-Titel vom "modernen Ablasshandel"

Die Mission von Pfarrerin Zisselsberger enthält keinen gegen den Atheismus gerichteten Glaubenskern mehr, als sie zum Jahresende in der Zeit verkündet: "und im nächsten Jahr machen wir Pop-up-Taufen". Damit sollen erwachsene Menschen ermuntert werden, sich ganz spontan zu einer unkonventionellen Taufe zu entschließen – herausgelöst aus dem Kirchenraum. Ein bei der Kindestaufe obligatorisches elterliches Bekenntnis oder eine sonstige Vorbereitung gibt es dabei nicht, es genügt, den Personalausweis mitzubringen. (Offen bleibt allerdings, ob sich eine Kirchensteuerpflicht daran anschließt.)

Das Gendern entspreche ihrer theologischen Überzeugung, im Aaronitischen Segen Gottes sage sie zum Beispiel wahlweise "ihr" und "sein" Angesicht: "Gott* lasse ihr Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig, Gott erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden." Sie würde auch stets – worüber queere und modern orientierte Menschen erfreut, die meisten Mitglieder aber entsetzt seien – den Namen Gott mit einem entsprechenden Sternchen versehen. Entscheidend sei der Glaube, ganz im Sinne des großen Theologen Schleiermacher, der im 19. Jahrhundert die Religion als eine "Provinz im Gemüt" bezeichnet hat, die auch für die Gebildeten unter den Kirchenverächtern mit "Sinn und Geschmack fürs Unendliche" anziehend sei.

Dieses Selbstverständnis wird konfrontiert mit dem letzten Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung für Deutschland. Dieser besagt: Sogar 48 bis 49 Prozent der Kirchenmitglieder finden, dass die Kirchen zu viel Macht und ungerecht viele Privilegien haben. Für ihre Sonderrolle angeführt werden zum Beispiel der Religionsunterricht, der Einzug der Kirchensteuer durch die Finanzämter und das spezielle Arbeitsrecht für kirchliche Mitarbeiter*innen (welches auch für die großen Wohlfahrtsorganisationen der Kirchen Caritas und Diakonie gilt – die sich allerdings weiterhin allgemeiner Wertschätzung als gesellschaftlich vermeintlich "unverzichtbar" erfreuen).

Erst in jüngster Zeit ins öffentliche Bewusstsein hinzugetreten sind die gigantischen, nicht zweckgebundenen Sonder-Staatsleistungen und deren mögliche endgültige Ablösung in Milliardenhöhe. Diese stellte immerhin die Bild (vom 16.12.2022) als unglaublichen Skandal so dar: "Weil den Kirchen im Jahr 1803 fette Pfründe (Fürstentümer, Ländereien) abgenommen wurden, kriegen sie bis heute Staatsleistungen als Entschädigung: satte 550 Mio. Euro pro Jahr!" "Evangelische und katholische Kirche schachern mit der Bundesregierung in diesen Wochen um zig Milliarden Euro – moderner Ablasshandel".

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