Sekten und Esoteriker in Berlin

Die Missionierung der Gottlosen

In Berlin leben viele Menschen ohne Gott. Das bewegt offenbar andere dazu, gegen diese Gottlosigkeit zu missionieren. Jedenfalls meldet die Sekteninfo des Berliner Senats einen weiteren Höchststand bei ihren Beratungsgesprächen. Während große Sekten wie Scientology oder Zeugen Jehovas an Boden verlieren, drängen Evangelikale, esoterische Verschwörer und digitale Sekten auf den Lebenshilfemarkt. Einige Klient:innen berichten von massiver Gewalt.

Immer mehr Berliner:innen haben sich zu Sekten und esoterischen Heilmethoden beraten lassen, meldet die Sekteninfo der Stadt in ihrem aktuellen Jahresbericht 2021. Mit 615 Anfragen im Jahr (2016: 366 Anfragen) ist ein neuer Hochstand erreicht worden. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Anzahl der Anfragen um elf Prozent gestiegen. Die Sekteninfo des Berliner Senats hilft Menschen, die aus Sekten und anderen destruktiven Gruppen ausgestiegen sind oder aussteigen möchten. Laut Jahresbericht ging es in den Gesprächen oft um bibeltreue Evangelikale, Schamanismus und esoterische Coachings.

"Verantwortlich für das erhöhte Beratungsaufkommen waren die vermehrten Anfragen im Phänomenbereich der Verschwörungserzählungen", heißt es im Jahresbericht. Abgenommen haben die Anfragen zu Zeugen Jehovas oder Scientology – vor einigen Jahren war Scientology die Gruppe, die am häufigsten Ursache der Anfragen war. Gestiegen sind dagegen Anfragen zu Verschwörungsphantasien: von zwei (2018) auf 86.

Einen Zuwachs gab es auch im Bereich Esoterik, bei politischen Bewegungen, wie etwa den Reichsbürgern, und den fernöstlichen Gruppen. Die Autor:innen vermuten, dass die Belastungen in der Corona-Pandemie als Treiber gewirkt hätten. Die Pandemie-Situation habe vor allem bei evangelikalen Gemeinschaften zu extremen Haltungen geführt: "Es wurde zum Beispiel berichtet, dass entweder das Virus für nicht existent erklärt oder auch behauptet wurde, dass Gott diejenigen schützen würde, die bibeltreu leben und stark genug glauben würden".

Brisant: Wenn Kinder indoktriniert werden

Dramatisch entwickelten sich die Beratungsgespräche dann, wenn Kinder mit im Spiel waren. Wenn etwa ein gläubiger Elternteil das Kind oder die Kinder indoktriniert und zu kirchlichen Veranstaltungen mitnehmen wollte. Die Sekteninfo wurde auch von besorgten Eltern kontaktiert, deren Kind von evangelikalen Sektierern erfolgreich angeworben wurde. Missionar:innen treiben sich auf der Suche nach Seelen gerne in den Sozialen Medien herum oder schalten Anzeigen in Zeitschriften, die in Naturkostläden ausliegen.

Der Bedarf nach Hilfe sei im Bereich evangelikale Gruppen, christliche Fundamentalisten und Pflingstler "extrem gestiegen", sagte Karol Küenzlen-Zielinski von der Leitstelle für Sektenfragen im Gespräch mit dem rbb. Küenzlen-Zielinski vermutet, dass Berlin bei diesen Glaubensgemeinschaften als "gottlose Stadt" verrufen sei und sie deshalb ihre Missionierungsversuche dort verstärkten. Es gibt allerdings auch Glaubensgemeinschaften, die das Wohlergehen ihrer Mitglieder daran bemessen, wie viele Seelen sie bekehrt haben. "Solche Glaubensgemeinschaften gehen gezielt auf psychisch erkrankte Menschen, Drogenabhängige oder Geflüchtete zu, alles Menschen, die Orientierung und Hilfe suchen", weiß Aussteiger:innen-Berater Jan Buschbom vom Verein Iuvenes in Berlin.

Massive körperlich und seelische Gewalt

Auch Buschbom berichtet von einem gestiegenen Beratungsbedarf. "Aus meiner Sicht zeigt die Nachfrage, dass wir es in Berlin und bundesweit mit einem unterschätzten Problem zu tun haben", sagte Buschbom dem rbb. "Die Zahl destruktiver Gruppen wächst, genauso wie die Zahl der Betroffenen". Seine Klient:innen berichteten von massiver körperlicher und psychischer Gewalt, vor allem bei Esoterikern. 80 Prozent der Menschen, die bei Iuvenes eine Beratung suchten, seien in solche Gruppen hineingeboren worden, andere in einer Sinnkrise hineingeraten. Themen bei den Gesprächen von Buschbom seien häufig Missbrauch, Kindeswohlgefährdung und Gewalt.

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