Ein neues Buch über den eigentlichen Gründer des Christentums

"Man muss Paulus wohl als Fanatiker, als Extremisten verstehen"

Mit der Lehre Jesu hatte Paulus nicht viel zu schaffen. Aber obwohl er völlig andere Positionen vertrat, prägten seine Auffassungen das Christentum. Die Idee der Sündhaftigkeit des Menschen, der christliche Antijudaismus, die Forderung nach Unterwerfung unter eine "gottgegebene Obrigkeit" oder die grundsätzliche Unterordnung der Frau – viele der reaktionären Positionen des Christentums lassen sich mit Paulus begründen. Das hat Heinz-Werner Kubitza in seinem neuen Buch "Der unterschlagene Jesus" herausgearbeitet. Der hpd sprach mit dem Buchautor, der einst in Theologie promoviert wurde.

hpd: Paulus gilt als der wichtigste Missionar des frühen Christentums und als getreuer Botschafter der Lehre Jesu. Ist dieses Bild richtig?

Heinz-Werner Kubitza: Als wichtigster Missionar hat sich Paulus zweifellos herausgestellt, wenn man den Fortgang der Geschichte der frühen Kirche betrachtet. Seine Briefe wurden bald nach seinem Tod (und vielleicht vorher schon) kopiert und unter den Gemeinden getauscht. Wer schreibt, der bleibt. So stieg die Autorität des Paulus nach seinem Tod erst so richtig an. Für spätere Generationen wurden seine Briefe und Lehren geradezu zu einem Prüfstein für Rechtgläubigkeit. Im Namen des Paulus wurden sogar Briefe gefälscht. Einige von diesen gefälschten Briefen haben es schließlich in das Neue Testament geschafft. Aber war Paulus wirklich ein getreuer Botschafter der Lehre Jesu? Dies hat man jahrhundertelang geglaubt, aber die historische Forschung sieht das heute anders. Es gibt gewaltige Unterschiede zwischen dem jüdischen Wanderprediger Jesus und dem "Weltmissionar" Paulus.

Was sind denn die wichtigsten Unterschiede zwischen einem Christentum nach Jesus und einem Christentum à la Paulus?

Jesus wollte ja gar kein Christentum, er war gläubiger Jude und dachte nicht an die Begründung einer anderen Religion. Jesus erwartete die Gottesherrschaft. Er hing der Illusion an, dass Gott selbst bald die Herrschaft in Israel übernehmen wird. Seine Lehren und viele seiner Gleichnisse schärfen das immer wieder ein. Doch in der Verkündigung des Paulus spielt das Gottesreich keine Rolle mehr. Auch sah sich Jesus nur gesandt "zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel". Mit Nichtjuden wollte er nichts zu tun haben, meidet ihre Städte, kann sie sogar als "Hunde" bezeichnen.

Doch Paulus nimmt darauf keine Rücksicht. Er will den Jesusglauben in der Welt verbreiten, und so macht er aus der rein jüdischen Jesusbewegung eine Botschaft "für die Völker". Dabei hindert ihn aber das jüdische Gesetz und auch so unappetitliche Riten wie die Beschneidung. Er erklärt dies alles einfach für abgetan. Das hätte den massiven Widerspruch von Jesus herausgefordert. Doch der war tot und konnte sich nicht mehr wehren.

Das sieht für mich so aus, als habe Paulus eine sehr ambivalente Wirkung entfaltet: Zum einen öffnet er das Christentum für die Heiden, indem er die Abkehr vom jüdischen Gesetz vollzieht; andererseits steht er für viele Positionen, an die heute gerade konservative oder fundamentalistische Gruppen anknüpfen können. Worauf konnte sich Paulus denn berufen bei seiner Neuinterpretation der Lehre des Jesus?

Man kann eigentlich gar nicht von einer Neuinterpretation sprechen. Was Paulus hier betreibt und verkündet ist ein gänzlich anderes Evangelium. Es hatte mit dem Prediger Jesus in den wesentlichen Punkten nichts mehr zu tun. Doch weil Paulus ständig von "Christus" spricht und sich als Christusnachfolger ausgibt, weil er sich als Apostel Jesu Christi sieht, hat ihm die spätere Kirche dies abgenommen. Die Kirche hat die Lehren des Paulus für die Lehren Jesu gehalten. Sie hat dann später nicht die Lehren Jesu dogmatisiert, sondern die Lehren des Paulus.

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Wenn sich Paulus so weit von Jesus entfernte, wie kam es dann zu dem Bild von Paulus als treustem Jünger Jesu?

Dies hat die Zeit bewirkt. Für die Urgemeinde in Jerusalem war Paulus fast noch ein Ketzer. Er verbreitete zwar den Glauben an Jesus, glaubt zwar wie sie noch an seine baldige Wiederkunft, aber seine Verwerfung des jüdischen Gesetzes hat scharfen Widerspruch gefunden. Es kommt zu heftigen Konflikten mit den Jüngern Jesu, mit Petrus und auch mit dem leiblichen Jesusbruder Jakobus, der inzwischen Leiter der Urgemeinde geworden ist. Die Urgemeinde sendet sogar Gegenmissionare in die Missionsgebiete des Paulus, um seine falschen Lehren, sein "anderes Evangelium" zu korrigieren. Möglicherweise war sie sogar bei seiner Verhaftung in Jerusalem negativ involviert.

Was wissen wir über den Charakter des Paulus?

Man muss Paulus wohl als Fanatiker, als Extremisten verstehen. Dies zeigt sich daran, dass er noch als frommer Jude nicht bloß anderer Meinung war als die jüdische Sekte der Jesusjünger. Nein, er will sie aktiv bekämpfen, das schreibt er selbst in seinen Briefen, er "verfolgt" sie. Als er dann selber Christ geworden ist, legt er seinen Fanatismus nicht ab. Nun verteufelt er alle, die nicht seinen Lehren folgen wollen, hält sie für Lügner und Leute, die nur "ihrem Bauch dienen". Dabei sind es doch auch Christen. Den Hauptjünger Petrus bezeichnet er schlichtweg als Heuchler. Auch mit engen Mitarbeitern seiner Mission entzweit er sich, und offenbar auch mit seiner Basisgemeinde in Antiochien, die ähnlich wie er denkt, ihm aber nicht radikal genug ist.

Paulus war also zu Lebzeiten keineswegs die unumstrittene Leitfigur des jungen Christentums; warum setzt sich das paulinische Christentum letztlich durch?

Weil es eine viel größere Zahl von Menschen ansprechen konnte als die jüdische Sekte der Urgemeinde in Jerusalem. Paulus hat seine Lehre (nicht etwa die von Jesus!) für die Welt geöffnet, das Christentum verbreitete sich rasant bei den Heiden im Osten des Reiches. Doch die Urgemeinde verschwindet aus der Geschichte. Noch vor dem jüdischen Krieg verlässt sie die Stadt und zieht ins Ostjordanland. Dort ist sie noch bis etwa 200 nachweisbar und hält sich (wie Jesus) weiter an Gesetz und Beschneidung. Von der bald gänzlich heidenchristlichen Kirche wird sie (die Jesus historisch viel näher stand als Paulus) als ketzerisch angesehen.

Zuletzt ein Gedankenspiel: Nehmen wir an, Paulus wäre kurz nach seiner Bekehrung an der Ruhr erkrankt und kein Wunder hätte ihm geholfen – wäre die Geschichte des Christentums dann nennenswert anders verlaufen?

Wenn es der Urgemeinde tatsächlich gelungen wäre, die Heidenmission zu unterbinden, dann wäre das Christentum das geblieben, was es eigentlich war, nämlich eine jüdische Sekte, die in Jesus den erwarteten Messias gesehen hat und auf seine Wiederkunft wartet. Vielleicht wäre sie im Laufe der Zeit assimiliert worden oder einfach wieder verschwunden.

Doch die Heidenmission war auch ohne Paulus um das Jahr 50 schon in vollem Gange und ließ sich nicht mehr stoppen oder verbieten. Es wäre also vermutlich auch ohne Paulus zur Ausbreitung des Christentums gekommen. Aber wer weiß, wie es sich dann ausgeprägt hätte? Wären tatsächlich so absurde Lehren entstanden wie die, dass quasi ein Halbgott blutig hingerichtet werden muss, damit die Menschheit von den Sünden erlöst wird? Sicherlich hätte das Christentum heute eine ganz andere Gestalt. So aber hat sich die Kirche immer mehr an den Briefen und den Lehren des Paulus orientiert. Das Christentum ist im Wesentlichen Paulinismus.

Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.

Heinz-Werner Kubitza: Der unterschlagene Jesus. Die Lehren des Paulus als geistige Wurzel des Abendlands. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2024, 257 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-86569-405-8

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