Kommentar

Zwischen religiösen Schriften und praktiziertem Glauben

KONSTANZ. (hpd) Wenn Politiker nach den Sorgen in der deutschen Bevölkerung vor einem wachsenden Einfluss des Islam in der Bundesrepublik gefragt werden, bedienen sie sich nicht selten eines Vergleiches, der nicht nur hinkt, sondern auch gefährlich sein kann. Erst kürzlich war es wieder eine Vertreterin von Bündnis 90/Die Grünen, die in einer Talkshow feststellte: Ängste seien deshalb unbegründet, weil ja nicht nur der Koran voll sei von Gewalt und Hass. Die Bibel sei es mindestens genauso. Und Christen würden deshalb ja auch nicht zu radikalen Kämpfern, die den Staat bedrohten.

Man möchte nicht nur dieser Politikerin nahelegen, sich nochmals mit der Geschichte zu befassen. Alle Religionen waren oder sind über lange Zeiten hinweg Auslöser von Kriegen und Auseinandersetzungen gewesen. Durch verschiedenste Einflüsse gelang es einigen Weltanschauungen, sich einer Säkularisierung zu unterziehen. Der teilweise mühsame Weg der Auslegung "Heiliger Schriften" ist auch im Christentum bis heute nicht vollends abgeschlossen. Und auch nicht überall hat die Aufklärung dazu geführt, Menschen zu befähigen, Aufzeichnungen aus der Vergangenheit so zu interpretieren, dass nicht das geschriebene Wort, sondern die daraus wirkende Botschaft symbolhaft als Handreichung dienen soll, die stets einer Reflexion durch unseren Verstand bedarf.

Die islamische Welt hat bis heute kaum die Möglichkeit gehabt, sich diesen "vernünftigen" Blick auf ihren Koran anzueignen. Exegese ist nicht gewollt und deshalb auch nicht praktiziert. Ob man "den Muslimen" dafür eine Verantwortung geben kann, mag dahingestellt bleiben. Manche Beobachter sagen, das Christentum habe das "Glück" gehabt, mit der Demokratie in Berührung gekommen zu sein. Erst dadurch sei es unumgänglich gewesen, rechtsstaatliche Werte und Normen über religiöse Bestimmungen zu stellen – und das von großen Teilen der Gesellschaft auch akzeptiert. Allerdings zeigen Erfahrungen der letzten Jahre, dass der Versuch, Menschenrechte zu oktroyieren, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, solange die Zeit nicht ausreichte, um das Begreifen dieser Zusammenhänge auch bis in die Tiefen der verschiedenen Völker zu tragen.

Religionen scheinen besonders dann anfällig, missbraucht zu werden, wenn ihr Machtanspruch nicht durch geistliche Autoritäten relativiert wird. Fehlender Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, wirtschaftliche und soziale Nöte sowie Perspektiven für das Leben, die sich allein auf dem Glauben begründen, sind Katalysatoren für eine besonders extreme und offensive Verteidigung der eigenen Überzeugung. Nein, all das kann, soll und darf Anhänger einer Weltanschauung nicht in Schutz nehmen, wenn sie im Namen ihrer Religion zu Unfrieden anstiften. Denn auch wenn der humanistische Einfluss Schwierigkeiten hat, in den Regionen mit überwiegend islamischer Prägung überhaupt Fuß zu fassen und nur von einzelnen Minderheiten, Strömungen oder Einzelpersonen geteilt wird, die wiederum in Angst vor den radikalisierten Kämpfern leben, kann ich auch von letztgenannten Extremen, die Respekt und gar Unterordnung einfordern, erwarten, den Erdball als einen Ort zu begreifen, an dem es aus reiner Vernunft nur im Miteinander funktioniert. Es sei denn, ich muss mir eingestehen, dass große Breiten des Islams einem Fanatismus unterworfen sind, dem mit Rationalität nicht zu begegnen ist.

Man kann sicher feststellen, dass einem nicht geringen Teil der islamischen Welt, der (wie die meisten anderen Religionen auch) – und das durchaus verständlich – seine Grundlagen in den religiösen Schriften findet, die Fähigkeit zur Selbstkritik, die die notwendigste Eigenschaft für eine gesunde Weltanschauung ist, zum jetzigen Zeitpunkt fehlt. Wer dagegen hält und entsprechend Vergleiche zwischen den Religionen bemüht, vergisst, dass die Trennung zwischen Buchstabentreue eines religiösen Bekenntnisses und der gelebten Praxis der Gläubigen zwar für weite Teile des Christentums gelten mag, aber deswegen keinesfalls für den Islam selbstredend ist. Wer vermischt und leugnet, dass zwischen Theorie und Anwendung von Auffassungen natürlicherweise nicht unterschieden wird, der gewährt einer Vielzahl von Muslimen einen ungerechtfertigten Vorschuss an Vertrauen.

Die Naivität, zu denken, was im Christentum normal sei, könne auch von anderen Religionen abverlangt werden, setzt voraus, von gleichen Standpunkten aus zu argumentieren. Und natürlich sind es wiederum nicht "alle Muslime" und auch nicht der "gesamte Islam", die unserer Kultur und dem unsrigen Verständnis von der Welt vollkommen abgeneigt wären. Positive Erfahrungen zeigen, dass eine geordnete Integration durchaus in der Lage ist, auch Gläubige aus dem Islam, die bereits mit Bildung und Weitsicht in unserem Land um Aufnahme bitten, von einem säkularisierten Gesellschaftsmodell zu begeistern, in dem eine Verfassung gilt, die zwar auch schon in die Jahre gekommen ist und immer wieder neu eine zeitgemäße Deutung braucht – aber eben bereits unter einer Atmosphäre entstand, in der Religion und Staat eine klare Rangfolge einnahmen.

Uns steht es keineswegs zu, aus Begeisterung über unseren Glauben oder unsere Weltanschauung gleichsam der restlichen Welt diese Errungenschaften aufzuzwingen. Doch eines können wir verlangen: Wer zu uns kommt, darf nicht den Genuss der Freiheit kosten, den wir so lieben, ohne dafür auch Verpflichtungen einzugehen. Und der kleinste Nenner bleibt dabei die Achtung vor einer Tradition, einer Geschichte und einer Staatsform, über die wir nicht verhandeln können.

Praktizierter Glaube muss sich in dieses Geflecht aus Grundsätzen einfinden – auch wenn Schriften etwas Anderes verheißen. Wer diesen Spagat nicht bewältigen kann, wird immer wieder in Konflikt mit Gesetz und Gesellschaft geraten. Und auch diejenigen, die in ihrer Fürsorglichkeit jedem neuen Mitbürger in unserem Land pauschal diese Fertigkeit zusprechen, sind mitverantwortlich für Sorgen über eine "Islamisierung" in der Bundesrepublik, die letztlich nichts Anderes beschreibt als unter anderem auch die Furcht vor dem Verlust über Jahrhunderte errungener säkularer Rechte.

Gutgläubigkeit passt eben einfach nicht in Epochen, in denen ein Umbruch stattfindet.