Späte Schwangerschaftsabbrüche: Ein fast unbekanntes Thema

"Nicht der Rollstuhl ist das Problem"

Vergangenen Mittwoch wurde die Veranstaltungsserie des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) zum Thema Schwangerschaftsabbrüche fortgesetzt. Während es in der ersten Veranstaltung vorrangig um Abbrüche innerhalb der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft ging und der damit verbundenen Abwägung zwischen dem Frauenrecht einerseits und einem Fötenschutz andererseits, wurde am 29. Januar über Spätabbrüche diskutiert. Ein Thema, über das außerhalb einer kleinen Gruppe von (meist weiblichen) Menschen kaum etwas bekannt ist.

Spätabbrüche werden immer dann relevant, wenn Frauen entweder im Zuge einer pränatalen Diagnose erfahren, dass ihr zukünftiges Kind möglicherweise mit schweren Erkrankungen oder behindert zur Welt kommen wird, oder Frauen erst sehr spät eine Schwangerschaft wahrnehmen und den Fötus ablehnen, weil er – wie anhand eines Falles diskutiert – das Ergebnis einer Vergewaltigung ist.

Es waren mehr als 30 Gäste bei der Veranstaltung; darunter – was auffiel – kein einziger Mann. Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) hatte eingeladen, um wichtige Fragen zum späten Schwangerschaftsabbruch anzusprechen und die bestehende Gesetzeslage zu diskutieren. Auf dem Podium vertrat Gita Neumann die Haltung des HVD selbst zu dieser Thematik: Ein Großteil der Spätabbrüche erfolgt nach einem pränatal diagnostischen Befund. Durch die verbesserte Diagnostik steigt die Zahl dieser Abbrüche aufgrund eines fetopathischen Befundes seit Jahren an. Die sogenannte medizinische Indikation im Paragraphen 218a StGB wird heutzutage in der Praxis so ausgelegt: Die Gesundheit der jeweils abtreibungswilligen Schwangeren sowie zukünftigen Mutter wäre dadurch unzumutbar gefährdet, dass der Fetus pränatal als behindert oder organisch krank diagnostiziert worden ist. Eine solche "embryo-/fetopathische" Selektion sollte aber seit 1995 gerade mit der vielbeschworenen "Kompromissversion" des Paragraphen 218 StGB ausgeschlossen werden: "Dies geschah damals auf Druck von Behindertenverbänden mit massiver Unterstützung von Kirchen und der CDU. Wer es mit dem Schutz ungeborenen Lebens tatsächlich so ernst meint wie propagiert, dürfte sich auch aus besagtem Grund einer Reform des Schwangerschaftsabbruchs nicht länger verweigern. Die Strafrechtsregelungen in Paragraph 218 f. StGB sind in sich durch und durch widersprüchlich und haben sich auch in der jüngsten Bundestagsdebatte von Befürwortern des Status Quo als argumentativ nicht mehr vertretbar gezeigt."

Neumann erinnerte daran, dass im vergangenen Jahr ein breites Bündnis von Organisationen sich für eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bis zur 20./22. Schwangerschaftswoche ohne Beratungspflicht (mit der Möglichkeit zur freiwilligen Beratung) stark gemacht habe.

Sozialwissenschaftler*in und Journalist*in Kirsten Sasha Achtelik widmete sich zu Beginn der Frage, "wie selbstbestimmt die Entscheidung für den Abbruch einer grundsätzlich gewollten Schwangerschaft bei einem Befund bei der pränatalen Diagnostik (PND) in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft getroffen werden kann." Achtelik wies darauf hin, dass Behinderung trotz allem Reden von Inklusion vielfach immer noch ausschließlich mit Sorgen, Leid, Belastung und Schmerzen assoziiert werde. "Durch die Defektorientierung der pränatalen Diagnostik, die sowieso verbreitete Angst vor Behinderung und den Schock der Diagnose wird das werdende Kind nur noch mit dieser Beeinträchtigung identifiziert, alle anderen Vorstellungen treten dahinter zurück. In den auf Mängel ausgerichteten Blick gerät nur, was 'so ein Kind' vermeintlich alles nicht können wird." Dabei, so Achtelik, sollte es nicht darum gehen, ob ein Mensch im Rollstuhl sitzt oder nicht. Sondern darum, dass die Gesellschaft inklusiver wird. "Nicht der Rollstuhl ist das Problem, sondern dass der Rollstuhl ein Problem ist."

In einem sehr interessanten Vortrag berichteten Judith Hennemann und Dr. Marina Mohr von der Beratungsstelle zu Schwangerschaft und Pränataldiagnostik Cara (Bremen) zum Thema "Späte Schwangerschaftskonflikte in der Beratung. De jure medizinisch, de facto fetopathisch". In ihrem Vortrag betonten sie: "Nicht jeder Schwangerschaftskonflikt endet bis zur zwölften Woche. Die derzeitige Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in der Zeit nach der zwölften Woche ist unhaltbar. Wo laut Gesetz die Gesundheit der schwangeren Person den Ausschlag für einen Abbruch geben sollte, erleben wir in der Praxis in den meisten Fällen eine Fortführung einer eugenischen/fetopathischen Indikation. Eine Neuregelung des Spätabbruchs muss dieses Ungleichgewicht dringend beseitigen." Sie berichteten, dass Gutachten auch dann eine Gefahr für die Gesundheit der Frauen bescheinigen, wenn es um eher ethische und/oder psychische Belastungen der schwangeren Person gehe. Das jedoch sei im Gesetz nicht vorgesehen.

In der anschließenden Podiumsdiskussion wurde merklich um eine Annäherung zweier deutlich unterschiedlicher und sich scheinbar ausschließender Positionen gestritten. So zum Beispiel wies Mohr darauf hin, dass es einen großen Unterschied mache, aus welchen Gründen sich Frauen für eine Spätabtreibung entscheiden würden. Während es meist Wunschkinder sind, bei denen die pränatale Diagnostik die werdenden Mütter in tiefe psychologische Krisen stürzen, gibt es auch Fälle wie der oben geschilderte nach einer Vergewaltigung, in denen schwangere Menschen keinerlei Bindung zu dem Fötus aufbauen, sondern ihn als "Parasit" oder "das Ding" bezeichnen. Schon allein diese beiden grundlegend anderen Voraussetzungen für den Wunsch nach einem Spätabbruch zeigten auf, wie komplex das Problem sei. Und wie wenig das durch die geltenden Gesetze abgebildet werde. Hinzu käme noch, dass die Pränataldiagnostik nicht ganz so genau sei, wie vielfach angenommen. Sondern sich Mediziner auf Erfahrungswerte und Wahrscheinlichkeiten verlassen müssten.

Silke Koppermann, die auf dem Podium den Arbeitskreis Frauengesundheit vertrat, hob hervor, dass die embryopathische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch aus gutem Grunde abgeschafft wurde: "Es kann immer nur die Belastung der Schwangeren und damit eine individuelle medizinische Indikation die Begründung sein. Die Schwere der Belastung kann nur die Schwangere selbst bewerten. Mit der Bewertung ihrer Gründe sollten wir uns zurückhalten. Andererseits liegt es auch an dem Ableismus und fehlender Inklusion, dass für Schwangere bei vermuteter Fehlbildung häufig nur der Abbruch der Schwangerschaft als Ausweg gesehen wird. Der medizinisch-pränataldiagnostische Komplex zusammen mit einem gesellschaftlichen Druck und den individuellen Ansprüchen der Schwangeren befördert eine Praxis in der Schwangerenvorsorge, die in der Summe zu einer Selektion führt."

Dr. Rebecca Maskos, Professorin für Disability Studies an der Alice Salomon Hochschule Berlin vertrat die Auffassung, dass schwangeren Personen von der Gesellschaft zunehmend die individuelle Verantwortung dafür aufgebürdet werde, ein "gesundes" Kind zur Welt zu bringen – entspricht es nicht den gesellschaftlichen Erwartungen nach normativem Funktionieren, müssen sie sich rechtfertigen. "Statt den Trend zu einer Individualisierung von Behinderung zu unterstützen, sollten wir akzeptieren, dass es behinderte Menschen immer geben wird, egal wie viele Techniken der pränatalen Diagnostik wir einführen." Maskos hat die Glasknochenkrankheit und ist selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. "Wenn wir eine Gesellschaft der Vielfalt als Realität anerkennen, müssen wir endlich ernst machen mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Etwa durch gesicherte Finanzierung von Assistenz und Unterstützung, gut ausgestattete inklusive Schulen, Barrierefreiheit und Teilhabe in Arbeit und Freizeit. Erst durch einen alltäglichen Kontakt zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen wird die Prognose einer Behinderung nicht mehr Angst und Abwehr auslösen", sagte sie auf dem Podium.

Die Veranstaltung hat aufgezeigt, wie komplex das Thema Spätabbrüche ist. Es ist nicht nur die individuelle Abwägung, ob man ein behindertes oder ungewünschtes Kind gebiert, sondern es ist vor allem auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Was innerhalb der Gesellschaft bislang kaum diskutiert wird.

Der HVD schrieb im Nachgang zu der Veranstaltung: "Die Frage von Spätabbrüchen bei schweren Behinderungen des Fötus ist ein besonders sensibler Aspekt. Diese Debatte erfordert einen differenzierten, ethisch verantwortlichen Blick. Eine humanistische Haltung bedeutet, beides anzuerkennen: Die Rechte und die Würde von Menschen mit Behinderung sowie die Selbstbestimmung der Schwangeren über ihren eigenen Körper und ihr eigenes Leben."

Letztlich aber – und dabei wurden sich alle einig – letztendlich ist und bleibt es die Entscheidung des schwangeren Menschen, ob eine Spätabtreibung gewählt wird. Egal aus welchen Gründen. Und dass jeder einzelne Fall einzeln entschieden werden muss.

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