Lale Akgün im Interview

"Die Feuerwehr ist wichtig, aber sie kommt oft erst, wenn es schon brennt"

Der SPD-Arbeitskreis Säkularität und Humanismus (AKSH) fordert die Wiedereinsetzung des "Expertenkreis Politischer Islamismus". Für Lale Akgün, Mitglied im Vorstand des AKSH und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete, braucht es eine dauerhafte Beschäftigung mit dem Islamismus.

hpd: Sie setzen sich dafür ein, dass der "Expertenkreis Politischer Islamismus", den Horst Seehofer einst ins Leben rief und der 2022 von Nancy Faeser nicht verlängert wurde, wiedereingesetzt wird. Warum?

Lale Akgün: Weil wir so eine Einrichtung brauchen. Ein Arbeitskreis, der sich mit den Phänomenen des Politischen Islam oder Islamismus beschäftigt, Konzepte entwickelt und kontinuierlich an dem Thema arbeitet. Ob er nun "Expertenkreis Politischer Islam", "Taskforce Islamismusprävention" oder anders heißt – das ist mir eigentlich egal. Im Koalitionsvertrag steht, dass so etwas kommen soll, und ich bin optimistisch, dass es auch kommt.

Am 1. Oktober 2024 hat ja bereits eine neue Taskforce ihre Arbeit aufgenommen – als Reaktion auf den Anschlag in Solingen. Mir ist aber wichtig, dass es nicht nur um Sicherheit geht, wie es das Innenministerium oft betont, sondern um ein umfassenderes Verständnis. Wir brauchen Konzepte, die das Thema in seiner ganzen gesellschaftlichen Breite erfassen – von problematischen Vereinen im Stadtteil bis zur globalen Ebene. Dafür wäre eine dauerhafte Einrichtung besser geeignet als eine Taskforce – so, wie es der ursprüngliche Expertenkreis war.

Eine Taskforce ist ja eher eine Art Feuerwehr – schnell einsatzbereit, aber nicht unbedingt dauerhaft angelegt.

Genau. Und Feuerwehr ist wichtig, aber sie kommt oft erst, wenn es schon brennt. Wir brauchen Prävention – also Strukturen, die sich frühzeitig mit Entwicklungen beschäftigen, die nicht erst bei einem Anschlag aktiv werden. Warum der damalige Expertenkreis nicht verlängert wurde? In Deutschland herrscht schnell die Meinung, dass man mit solchen Initiativen Muslime unter Generalverdacht stellt. Denken Sie an die aktuelle Debatte bei den Berliner Jusos: Dort soll das Wort "Islamismus" nicht mehr verwendet werden, um keine pauschale Stigmatisierung zu erzeugen.

Ich halte das für falsch. Es geht uns doch gar nicht um Muslime allgemein, sondern um den Politischen Islam. Und wenn wir nicht mehr sagen dürfen, worum es geht, können wir das Problem auch nicht benennen – geschweige denn bekämpfen. Der Vorschlag, stattdessen von "religiös motiviertem Extremismus" zu sprechen, ist zu unspezifisch. Es geht hier nicht um katholischen oder protestantischen Fundamentalismus, sondern um den Politischen Islam – das muss man auch sagen dürfen.

Warum tut sich gerade die politische Linke mit diesem Thema so schwer?

Das frage ich mich auch oft. Eigentlich ist die Linke historisch antiklerikal geprägt – das müsste sie in diesem Fall auch bleiben. Viele Probleme lassen sich nur lösen, wenn man Religion und ihre Rolle in der Gesellschaft grundsätzlich diskutiert.

Ein Beispiel: Der islamische Bekenntnisunterricht. Man kann dieses Thema eigentlich nur behandeln, wenn man überhaupt mal über den Bekenntnisunterricht an sich spricht – und das geht nur, wenn man eine säkulare Perspektive einnimmt.

Ich habe den Eindruck, die Gesellschaft ist heute viel säkularer, als es die Politik wahrhaben will. Aber gerade beim Islam dominiert immer noch die Angst, man könnte jemanden stigmatisieren oder als rassistisch gelten. Das ist nicht zielführend – und nebenbei bemerkt: Es gibt keine "islamische Rasse".

Der Islam ist eine Religion. Ein radikaler Fundamentalist wie Pierre Vogel stammt aus dem Rheinland – das hört man ihm auch an.

Ja, genau. Zum Beispiel ein ehemaliger Boxer aus dem Rheinland. Das zeigt schon: Der Islam ist eine globale Religion – er ist überall auf der Welt anzutreffen. Deshalb ist es Unsinn, den Islam pauschal als "fremde" Religion zu behandeln.

Gerade die Darstellung des Islams als "fremde Religion" ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die den Islam als Feindbild aufbauen wollen. Wir alle erinnern uns, wie es 2014 mit Pegida, "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes", losging. Eine Organisation, die gegen eine angebliche Überfremdung der Bundesrepublik sogenannte Abendspaziergänge organisiert hat. Dabei wurde der Islam bewusst zum Feindbild aufgebaut.

Aber: Es reicht nicht, dem nur mit Abwehr zu begegnen. Wir können diese Instrumentalisierung des Islams nicht bekämpfen, indem wir die realen Probleme ignorieren, die der Politische Islam in bestimmten Kontexten verursacht. Es ist nicht hilfreich, davor die Augen zu verschließen. Am Ende des Tages wissen wir nicht einmal, wie viele Muslime wirklich in Deutschland leben. Nehmen wir zum Beispiel die oft genannte Zahl von rund sechs Millionen Muslimen – wie sie etwa Frau Kaddor nennt. Da frage ich mich schon: Frau Kaddor, woher haben Sie diese Zahl? In der Regel werden dabei einfach alle Menschen zusammengerechnet, die aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern stammen – unabhängig davon, ob sie sich selbst überhaupt als Muslime verstehen. Warum, frage ich mich, übernehmen wir unkritisch dieses Wording? Warum "lesen" wir all diese Menschen automatisch als Muslime? Und warum gehen wir davon aus, dass sie eine homogene Gemeinschaft bilden?

"Wir können die Instrumentalisierung des Islams nicht bekämpfen, indem wir die realen Probleme ignorieren, die der Politische Islam in bestimmten Kontexten verursacht."

Jemand, der bei Thyssen Krupp arbeitet und einen türkischen Namen trägt, ist doch in erster Linie Vater, Stahlarbeiter – und vielleicht irgendwann auch mal Muslim, weil seine Eltern oder Großeltern aus der Türkei stammen.

Ja, genau. Und vor allem frage ich mich: Warum muss ich Menschen eigentlich immer unter ihrer Religionszugehörigkeit lesen oder definieren? Was mich dabei noch sehr stört: dieses Vorgehen wird vor allem bei Menschen mit islamischer Religionszugehörigkeit praktiziert.

Ich sage Ihnen auch, was mich daran so stört: es ist der vergebliche Versuch, eine geradezu "islamfixierte" Integrationspolitik zu betreiben – Integrationspolitik und Islampolitik werden zusammengefasst. Die Politik tut dann so, als müsste man nur den Islam integrieren – oder "die Muslime", um alle Probleme dieser Republik zu lösen. Welche oberflächliche Denkweise! Zu glauben, dass man eine Religion integrieren kann. Zur Korrektur: eine Religion lässt sich nicht integrieren, nur Menschen lassen sich integrieren.

Wo sehen Sie die dringendsten Aufgaben in einem solchen Expertenkreis zum Politischen Islam oder in einer weiterentwickelten Struktur?

Also ich denke, wir müssen zunächst einen Schritt zurücktreten. Es geht nicht nur darum, Detailfragen zu beantworten – das wird ja bereits gemacht. Wichtig ist vielmehr, grundsätzlich zu verstehen: Wo liegen eigentlich die Ursachen? Woher kommt der Politische Islam überhaupt?

Wir können dieses Problem nicht lösen, indem wir nur auf Deutschland blicken. Wir müssen auch die Länder in den Blick nehmen, aus denen der Politische Islam nach Deutschland importiert wird. Die Bandbreite ist sehr groß. Von den Golfstaaten über Iran, Afghanistan, Pakistan bis Indonesien; von der Türkei bis Bosnien, um einige der Länder zu nennen, in denen der Politische Islam an der Macht ist oder nach der Macht strebt.

Die Türkei muss man besonders in den Blick nehmen, weil Erdoğan sich zu einem Führer der islamischen Welt gemausert hat, der gleichzeitig vom Westen hofiert wird. Aus "politischen Gründen" – wie es so schön heißt. Erdoğan ist aber kein Demokrat; er steht für den Politischen Islam und ist gleichzeitig auch ein Nationalist.

Die "türkisch-islamische Synthese" ist der stehende Ausdruck für diese Doppel-Ideologie. Das ist eigentlich ein Widerspruch in sich, denn der Islam ist – wie auch das Christentum – in seiner ursprünglichen Ausrichtung universalistisch, nicht nationalistisch. Religionen wie der Islam oder das Christentum beanspruchen eine globale Gültigkeit, keine nationale Begrenzung.

Doch gerade in der türkischen Ausprägung des Islam wird dieser Nationalismus massiv betont. Er bedient sich dabei gezielt historischer Narrative, insbesondere der osmanischen Vergangenheit. Immer wieder verweist er auf die glorreiche Zeit des Osmanischen Reiches, und damit verknüpft er politische Ambitionen in Regionen wie Bosnien, Mazedonien oder bestimmten arabischen Ländern. Diese sollen kulturell und religiös erneut an die Türkei gebunden werden – als Teil eines neu gedachten osmanischen Einflussraums.

Diese Ideologie macht nicht an den Grenzen der Türkei halt. Sie wird aktiv nach Deutschland exportiert – über Moscheevereine, Kulturvereine, Bildungsangebote und durch gezielte Einflussnahme auf die türkische Community. Erdoğan nimmt über die türkische Religionsbehörde Diyanet Einfluss auf die DITIB-Moscheen, und auch auf Einrichtungen wie die Millî Görüş-Moscheen und darüber hinaus. Meiner Meinung nach behindert genau das die Entwicklung eines selbstbewussten, pluralistischen Islams in Deutschland. Es geht eben nicht um Integration in eine demokratische Gesellschaft, sondern um die Bewahrung und Festigung eines autoritär-nationalistisch gefärbten Religionsverständnisses, das mit unseren freiheitlich-demokratischen Grundwerten schwer vereinbar ist.

Wenn wir ernsthaft über Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt sprechen wollen, müssen wir auch dieses Spannungsfeld benennen – und dürfen nicht länger aus falsch verstandener Toleranz darüber hinwegsehen.

"Warum muss ich Menschen eigentlich immer unter ihrer Religionszugehörigkeit lesen oder definieren? (...) eine Religion lässt sich nicht integrieren, nur Menschen lassen sich integrieren."

Ist denn Integration überhaupt möglich?

Natürlich ist Integration möglich, aber nicht über Religion. Religion ist nichts Integratives. Denn Religion separiert – meine Religion, deine Religion – und ist parteilich für die eigene Überzeugung. Das liegt in der Natur des Glaubens. Wer wirklich eine konstruktive Integrationspolitik betreiben will, muss die Religion überwinden und andere Kriterien finden, nach denen integriert wird. Doch in diesem Land legt man großen Wert auf religiöse Differenzen. Und so kann der Islam aufblühen – auch in Formen, die mit einer offenen Gesellschaft schwer vereinbar sind.

Darüber müsste man eigentlich nachdenken. Etwa im Rahmen der Islamkonferenz, die ja nicht abgeschafft werden soll – obwohl ich sehr dafür gewesen wäre. Lautstarke Kritik an ihr kommt kaum, obwohl dort ausschließlich mit dem sogenannten Verbandsislam gesprochen wird. Und genau dieser Verbandsislam ist eben Teil des Politischen Islams.

Wenn man sich die großen Islamverbände anschaut, dann stellt man schnell fest, dass sie teilweise nur sehr wenige Mitglieder vertreten. Ich sage das seit Jahren: Die tatsächliche Zahl der organisierten Mitglieder ist oft erschreckend gering – und trotzdem werden diese Verbände von der Politik als Repräsentanten von Millionen Muslimen behandelt. Das ist nicht nur realitätsfern, sondern auch gefährlich. Denn so stärkt man Strukturen, die vielfach gar nicht auf Integration, sondern auf Abgrenzung und Machterhalt ausgerichtet sind.

Der Deutsche Fußballbund oder die IG Metall dürfte mehr muslimische Mitglieder haben als die muslimischen Verbände.

Richtig, das würde ich sofort unterschreiben. Das liegt einfach daran, dass diese Verbände künstlich großgemacht werden. Und das hat auch mit etwas anderem zu tun: Die Politik in Deutschland ist es gewohnt, mit Institutionen zu sprechen. Aber eigentlich kennt der Islam solche festen Institutionen gar nicht.

Was wir hier erleben, ist eine Art Verkirchlichung des Islams – nur damit die Politik überhaupt Ansprechpartner hat. Und diese Ansprechpartner sind dann eben die großen Verbände. Doch genau diese Verbände vertreten fast ausnahmslos den Politischen Islam. Denn sie gehen immer wieder davon aus, dass Weltanschauung, Lebensform und Religion – alles untrennbar zusammengehört. Wenn nach den Maßstäben des orthodoxen Islams vorgegangen würde, dann müssten beispielsweise Muslime besser behandelt werden als Nicht-Muslime.

Und genau das widerspricht dem demokratischen Grundprinzip der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz. Religion kennt oft eine Unterscheidung zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen – der Rechtsstaat hingegen darf das nicht tun.

Die Trennung von Kirche und Staat ist damit eine ganz zentrale Voraussetzung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Meiner Meinung nach gilt: Wo es keine Säkularität gibt, gibt es auch keine echte Demokratie und auch keine Rechtsstaatlichkeit. Denn sobald Religion in die Politik eingreift, hört die Gleichbehandlung auf. Frauen werden zum Beispiel häufig anders behandelt als Männer – da sind also schon mal 50 Prozent der Bevölkerung benachteiligt. In einem Rechtsstaat aber gilt: Für alle Bürgerinnen und Bürger, egal welcher Glaubensrichtung oder Weltanschauung, gelten die gleichen Rechte.

Die Demokratie wurde ja in Europa erst nach der Aufklärung möglich, die das Christentum in Europa domestiziert hat.

Also im Prinzip müssen Religionen tatsächlich domestiziert werden – das klingt jetzt vielleicht hart, aber sie müssen sich eben den Forderungen des Rechtstaates unterwerfen, damit sie Teil moderner Gesellschaften sein können. In ihrer Urform funktioniert das nicht. Die Religionsgemeinschaften müssen entmachtet werden. Sie müssen ihren klar abgegrenzten Bereich zugewiesen bekommen. Und das ist eben Spiritualität und Caritas, Einsatz für die Benachteiligten der Gesellschaft.

Das kann dann so aussehen, dass sie ethische Grundsätze aufstellen, dass sie sozialen Beistand leisten oder Menschen in Krisenzeiten unterstützen. Sie können auch mahnend die Stimme erheben, wenn sie gesellschaftliche oder auch politische Fehlentwicklungen feststellen. Es gibt mehr als genug Aufgaben, die Religionsgemeinschaften übernehmen können. Aber eben nicht die Gestaltung der Politik nach den eigenen religiösen Grundsätzen.

Ehrlich gesagt: Ich habe ja sogar schon Probleme damit, wenn in einem Arbeitskreis zum Thema Paragraph 218 – also zur Abtreibungsregelung – Kirchenvertreter sitzen. Das ist ein gesellschaftliches und gesundheitspolitisches Thema. Vor allem ein Frauenthema. Was haben Kirchenvertreter da zu suchen? Das ist nicht ihr Aufgabenbereich. Aber sie sitzen trotzdem da.

Die christlichen Kirchen stehen hinter den muslimischen Verbänden.

Ja, da gibt es gemeinsame Interessen. Wenn die DITIB – in Anführungszeichen – als Ansprechpartner der Politik für die Muslime gilt, dann sind natürlich die katholische und die evangelische Kirche die entsprechenden Ansprechpartner für die Christen.

Im Rechtsstaat herrscht das Gleichheitsprinzip. Also allen die gleichen Rechte zugestehen oder aberkennen. Auch bei den Institutionen. Der Staat hat keine Religion, er ist äquidistant zu allen Religionsgemeinschaften.

Wenn das so ist – und das wissen natürlich auch die Kirchen – dann bedeutet das: entweder bekommt der Islam die gleichen Rechte wie die christlichen Kirchen, oder es könnte es sein, dass die christlichen Kirchen selbst Rechte abgeben müssen. Und genau deshalb sind die Kirchen oft die größten Verteidiger der islamischen Verbände.

Die christlichen Kirchen unterstützen den muslimischen Bekenntnisunterricht, weil das den eigenen konfessionellen Religionsunterricht absichert. Auch wenn die Attraktivität des eigenen Bekenntnisunterrichtes sehr eingebrochen ist und man die Frage stellen muss: Wozu brauchen wir Bekenntnisunterricht an öffentlichen Schulen?

Ich bin eine strikte Befürworterin der Abschaffung des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts in Schulen. Schule soll über Religion unterrichten – gemeinsam für alle Kinder. Religionskunde, nicht Glaubenslehre. Das wäre die große Lösung: ein gemeinsamer Unterricht über Religionen – sachlich, historisch, weltanschaulich neutral.

Denn Bekenntnis ist Privatsache. Wer das leben will, kann das zu Hause tun – aber nicht im staatlichen Unterricht. Ich weiß, dass sich bei dieser Aussage die Befürworter des Bekenntnisunterrichtes sofort auf das Grundgesetz berufen. Da kann ich nur antworten: dann muss eben Artikel 7, Absatz 2 des Grundgesetzes reformiert werden.

Das Interview führte Stefan Laurin für den hpd.

Lale Akgün ist Teil des AK Polis, der über die Bedrohungen durch den Politischen Islam aufklärt und der Politik alternative Ansprechpartner bietet.

Unterstützen Sie uns bei Steady!