Deutschland tut sich unter anderem deshalb mit dem Thema Sterbehilfe so schwer, weil es eine sehr unrühmliche Vergangenheit hat. Im "Dritten Reich" wurden Menschen, die nicht in das Menschenbild der Zeit passten, aussortiert und letztlich ermordet. So auch in Pirna, einer pittoresken Stadt in Sachsen.
Pirna ist eine wunderschöne kleine Stadt südlich von Dresden. Die Elbe ist das Rückgrat der Stadt. Die Altstadt sieht aus wie frisch gewaschen; die alten Häuser sind nach den beiden letzten Hochwassern erst kürzlich restauriert worden und atmen trotzdem Geschichte. Man muss schon ein wenig genauer hinschauen, um einen Teil der unrühmlichen Vergangenheit Pirnas zu sehen: Auf dem Pflaster der Stadt, manchmal kräftig, manchmal bereits verblasst, finden sich kleine farbige Kreuze. Wenn man ihnen folgt, erreicht man die heutige Gedenkstätte auf der Burg Sonnenstein. "Jedes Kreuz erinnert an ein Opfer. Die kleinen farbigen Kreuze werden mit Schablonen auf den Boden aufgesprüht. Da sie durch Wind und Wetter verblassen, müssen sie immer wieder erneuert werden. Das Sprühen der Kreuze gehört zum pädagogischen Angebot der Gedenkstätte." (Quelle: Wikipedia)
Dort, am Ende des Weges, wurden fast 14.000 körperlich und/oder geistig behinderte Menschen unter dem Vorwand der "Rassenhygiene" ermordet. Hier bekam der Begriff Euthanasie seinen schlechten Ruf.
Euthanasie bedeutet im Wortsinne "der schöne Tod". Hierzulande hat der Begriff – anders als zum Beispiel in den Niederlanden oder in Belgien – einen eher anrüchigen Ruf: In der heutigen Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein wurde unter dieser Bezeichnung "lebensunwertes Leben" vernichtet.
In der bereits 1811 als "Anstalt für als heilbar angesehene Geisteskranke" errichteten Einrichtung waren mit Unterbrechungen bis 1928 Menschen mit psychischen Erkrankungen untergebracht. Die Einrichtung zählte seinerzeit zu den modernsten des Landes. Nur durch diesen guten Ruf, den die Anstalt hatte, ist zu begreifen, dass es Eltern gab, die freiwillig ihre behinderten Kinder dorthin schickten: In ein Haus, in dem inzwischen gemordet wurde. Über einen solchen und ähnliche Fälle gibt das Archiv der Gedenkstätte Auskunft.
Bereits im Jahr 1928 wurde Hermann Paul Nitsche zum Direktor der zu diesem Zeitpunkt auf über 700 Patienten angewachsenen "Heilanstalt Sonnenstein" berufen. Mit seinem Antritt – also noch vor der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten! – begann die systematische Ausgrenzung der chronisch psychisch kranken Menschen. Als ausdrücklicher Befürworter der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" und der "nationalsozialistischen Rassenhygiene" setzte er Zwangssterilisationen, fragwürdige "Zwangsheilbehandlungen" und "Verpflegungssparrationierungen" gegen "erbkranke" Patienten durch. Auch das erzählen die Tafeln in der Gedenkstätte.
Es war genau diese Menschenverachtung, die den Weg zur Vernichtung von Menschen im Zuge der sogenannten "Aktion T4" ebnete. Allein in Pirna wurden von Juni 1940 bis August 1941 13.720 Patienten sowie mehr als 1.000 KZ-Häftlinge vergast. Die meisten Opfer stammten aus psychiatrischen Anstalten, Heimen für geistig behinderte Menschen sowie Alters- und Pflegeheimen. An manchen Tagen wurden so mehr als 200 Menschen getötet.
Daran erinnerte viele Jahre nichts in der Stadt. Man hatte sich eingerichtet und arrangiert. Nach 1941 wurde die Burg Sonnenstein ein Lazarett; nach Kriegsende wurden dort Flugzeugturbinen gebaut. Die ehemaligen Gaskammern und Krematorien wurden als Werkzeuglager genutzt; die anderen Gebäude als Werkstätten und Büroräume. Es schien, als hätte Pirna diesen Teil seiner Geschichte vergessen.
Erst ab Herbst 1989 wurde die Geschichte der Burg Sonnenstein verstärkt thematisiert. Und erst seit Juni 2000 beherbergt das Gebäude, in dessen Keller sich die Gaskammer und die Krematorien befanden, eine Gedenkstätte.
Pirna ist ein Ort mit einer beinahe verloren gegangenen schmerzhaften Erinnerung. Doch wie ist es erklärbar, dass in einer Stadt wie dieser, die in der jüngsten Vergangenheit mindestens zweimal durch Bundes- und EU-Mittel wieder aufgebaut wurde, die AfD bei Wahlen die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte? Und sogar den deutschlandweit ersten AfD-Bürgermeister stellt? Man ist in Pirna – trotz bunter Kreuze auf den Straßen – offenbar gut darin, Geschichte zu vergessen.
Der hpd hat bereits vor 15 Jahren über diesen Teil der Geschichte Pirnas berichtet: "Denkmal der Grauen Busse"
9 Kommentare
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Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ich glaube nicht das es um Geschichte vergessen geht, sondern eher darum an die Macht
der damaligen "Regierung" zu erinnern, wenn dort ein AfD Bürgermeister das sagen hat!
herum wie man an den Wahlergebnissen dort sehen kann.
K. am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Baierlei, es fällt mir sehr schwer höflich zu bleiben. Sie massen sich an, viele Ostdeutsche mit nationalistischen Gedankengut gleichzusetzen!
Frank Nicolai am Permanenter Link
Das, Herr Baierlein, ist eine sehr einseitige und oberflächliche Sichtweise. Nur zu Ihrer Kenntnis: Auch ich (der Autor des Textes) bin ostsozialisiert.
Im Übrigen ist die AfD auch im "Westen" sehr stark und in vielen Orten die zweitstärkste Kraft geworden. Es ist also Augenauswischerei, auf "die Anderen, die Ossis" zu verweisen und das eigene Umfeld dabei zu vernachlässigen. Damit, Herr Baierlein, machen Sie das Gleiche wie die AfD: Zu versuchen, die Menschen gegeneinander ausspielen.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
@ K. und F.Nikolai: Sie dreschen jetzt beide auf mich ein, warten Sie doch mal ab was in der
Dass ich Menschen gegeneinander ausspiele ist eine Unterstellung welche ich als eingefleischter Atheist und Humanist ablehnen muß.
Ich hoffe meine Antwort wurde jetzt besser verstanden als meine erste Darstellung.
Frank Nicolai am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Baierlein, ich "dresche" nicht auf Sie ein - ich habe Sie darauf hingewiesen, dass Ihre Vereinfachung einfach falsch ist.
Daran ändert auch Ihr Versuch nichts, die Sachlage jetzt anders darzustellen oder erklären zu wollen. Noch einmal: Die AfD ist keine reine "Ostpartei" (schauen Sie mal, woher die Führungsspitze der Partei kommt), sondern fast ebenso stark im "Westen". Sie sollten sich wirklich einmal die Mühe machen, sich die Wahlergebisse der letzten BTW anzusehen. https://www.bundeswahlleiterin.de/dam/jcr/5316c01c-8a1e-44d0-8075-eab495f466b6/btw25_heft3.pdf Dann merken Sie vielleicht, dass das, was Sie hier als "Fakt" bezeichnen mitnichten ein solcher ist.
Und ich bitte Sie: Schreiben Sie wenigstens meinen Namen korrekt. So häufig, wie Sie hier kommentieren und den hpd lesen sollte nach mehr als 15 Jahren mein Name auch von Ihnen korrekt buchstabiert werden können.
Real Human am Permanenter Link
„Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“, schrieb Karl Marx, in „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ 1859.
Als „gelernter DDR-Bürger“ habe ich noch einen Schuldirektor erlebt, der früher das Hakenkreuz-Abzeichen trug, danach „entnazifiziert“ wurde und schließlich das SED-Abzeichen am Revers hatte. (Meine entsprechende Dorfchronik durfte nicht erscheinen!) Viel Neues brauchte der ansonsten „gute“ Lehrer nach seiner „Entnazifizierung“ nicht hinzuzulernen.
Das Kernproblem scheint mir die Erziehung zur „autoritären Persönlichkeit“ zu sein, die schon im Religionsunterricht richtig zuschlägt. (z.B. in Paulus, Römer 13) Man studiere bitte den entsprechenden Wikipedia-Artikel zu „Autoritäre_Persönlichkeit“!
Das Ende der DDR liegt erst knappe 35 Jahre zurück. Kaum etwas hassen die Höckes & Co. mehr als die westdeutsche 68-er Bewegung! Nein, die AfD ist keine „reine Ostpartei“! Aber ihr VÖLKISCHES Gedankengut trifft in einem ehemaligen Satellitenstaat der – auch postzaristischen! – Sowjetunion auf fruchtbareren Boden als im Westen! … Großer Vaterländischer Krieg ...
Heribert Wasserberg am Permanenter Link
M.W.n.wurde der "Euthanasie"-Begriff nicht von den Nationalsozialisten der "tausend" Jahre für die Krankenmorde benutzt. Oder gibt es Belege dafür, dass diese Arbeitsthese falsch ist?
Michael Luger am Permanenter Link
Diktatoren sind abhängig von Unterstützung. Der fatale Glaube, sie könnten jemanden „zwingen“ etwas zu tun, ist – streng betrachtet – falsch.
Die sog. „Euthanasie“ der Nazis hat - neben Unterstützung - viel und erfolgreichen(!)Widerstand hervorgebracht, obwohl sie aufwändig verschleiert wurde, und konnte nicht so wie geplant bis zum Ende durchgezogen werden. Familien und Heimleiter haben sich z.T. erfolgreich widersetzt, Kirchenobere mit staatlichen Akteuren und auch öffentlich darüber kommuniziert, ein Richter (Lothar Kreyssig) erstattete sogar Anzeige gegen den „Reichsleiter“ wegen Mordes.
Michael Luger am Permanenter Link
Ich bin ein potentielles Opfer der Nazis; aktuell aber ein Opfer sturer Lebensschützer.
Der andauernde unbarmherzige „Schutz“ meiner Existenz ist für mich persönlich schlimm - im Gegensatz zu meinem Tod (den manche Nazis in ihrer Überheblichkeit gewollt hätten).
Und heutige Juristen, Wissenschaftler und andere schweigen oder unterstützen Benachteiligungen, indem sie das Konstrukt „Freiverantwortlichkeit“, z.T. eindeutig inkorrekt, gegen die Selbstbestimmung anwenden, Suizidhelfer anklagen und Leitlinien zur Sterbehilfe erarbeiten, die die Ausgrenzung sehr vieler behinderter Menschen festschreiben sollen.