Deutschland und die Geschichte der Euthanasie

Pirna: Wo das Vergessen zu Hause ist

Deutschland tut sich unter anderem deshalb mit dem Thema Sterbehilfe so schwer, weil es eine sehr unrühmliche Vergangenheit hat. Im "Dritten Reich" wurden Menschen, die nicht in das Menschenbild der Zeit passten, aussortiert und letztlich ermordet. So auch in Pirna, einer pittoresken Stadt in Sachsen.

Pirna ist eine wunderschöne kleine Stadt südlich von Dresden. Die Elbe ist das Rückgrat der Stadt. Die Altstadt sieht aus wie frisch gewaschen; die alten Häuser sind nach den beiden letzten Hochwassern erst kürzlich restauriert worden und atmen trotzdem Geschichte. Man muss schon ein wenig genauer hinschauen, um einen Teil der unrühmlichen Vergangenheit Pirnas zu sehen: Auf dem Pflaster der Stadt, manchmal kräftig, manchmal bereits verblasst, finden sich kleine farbige Kreuze. Wenn man ihnen folgt, erreicht man die heutige Gedenkstätte auf der Burg Sonnenstein. "Jedes Kreuz erinnert an ein Opfer. Die kleinen farbigen Kreuze werden mit Schablonen auf den Boden aufgesprüht. Da sie durch Wind und Wetter verblassen, müssen sie immer wieder erneuert werden. Das Sprühen der Kreuze gehört zum pädagogischen Angebot der Gedenkstätte." (Quelle: Wikipedia)

Foto: © Frank Nicolai
Kleine farbige Kreuze auf dem Pflaster der Stadt führen zur heutigen Gedenkstätte auf der Burg Sonnenstein. Foto: © Frank Nicolai

Dort, am Ende des Weges, wurden fast 14.000 körperlich und/oder geistig behinderte Menschen unter dem Vorwand der "Rassenhygiene" ermordet. Hier bekam der Begriff Euthanasie seinen schlechten Ruf.

Euthanasie bedeutet im Wortsinne "der schöne Tod". Hierzulande hat der Begriff – anders als zum Beispiel in den Niederlanden oder in Belgien – einen eher anrüchigen Ruf: In der heutigen Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein wurde unter dieser Bezeichnung "lebensunwertes Leben" vernichtet.

In der bereits 1811 als "Anstalt für als heilbar angesehene Geisteskranke" errichteten Einrichtung waren mit Unterbrechungen bis 1928 Menschen mit psychischen Erkrankungen untergebracht. Die Einrichtung zählte seinerzeit zu den modernsten des Landes. Nur durch diesen guten Ruf, den die Anstalt hatte, ist zu begreifen, dass es Eltern gab, die freiwillig ihre behinderten Kinder dorthin schickten: In ein Haus, in dem inzwischen gemordet wurde. Über einen solchen und ähnliche Fälle gibt das Archiv der Gedenkstätte Auskunft.

Bereits im Jahr 1928 wurde Hermann Paul Nitsche zum Direktor der zu diesem Zeitpunkt auf über 700 Patienten angewachsenen "Heilanstalt Sonnenstein" berufen. Mit seinem Antritt – also noch vor der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten! – begann die systematische Ausgrenzung der chronisch psychisch kranken Menschen. Als ausdrücklicher Befürworter der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" und der "nationalsozialistischen Rassenhygiene" setzte er Zwangssterilisationen, fragwürdige "Zwangsheilbehandlungen" und "Verpflegungssparrationierungen" gegen "erbkranke" Patienten durch. Auch das erzählen die Tafeln in der Gedenkstätte.

Gedenkstätte, Foto: © Frank Nicolai
Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Foto: © Frank Nicolai

Es war genau diese Menschenverachtung, die den Weg zur Vernichtung von Menschen im Zuge der sogenannten "Aktion T4" ebnete. Allein in Pirna wurden von Juni 1940 bis August 1941 13.720 Patienten sowie mehr als 1.000 KZ-Häftlinge vergast. Die meisten Opfer stammten aus psychiatrischen Anstalten, Heimen für geistig behinderte Menschen sowie Alters- und Pflegeheimen. An manchen Tagen wurden so mehr als 200 Menschen getötet.

Daran erinnerte viele Jahre nichts in der Stadt. Man hatte sich eingerichtet und arrangiert. Nach 1941 wurde die Burg Sonnenstein ein Lazarett; nach Kriegsende wurden dort Flugzeugturbinen gebaut. Die ehemaligen Gaskammern und Krematorien wurden als Werkzeuglager genutzt; die anderen Gebäude als Werkstätten und Büroräume. Es schien, als hätte Pirna diesen Teil seiner Geschichte vergessen.

Erst ab Herbst 1989 wurde die Geschichte der Burg Sonnenstein verstärkt thematisiert. Und erst seit Juni 2000 beherbergt das Gebäude, in dessen Keller sich die Gaskammer und die Krematorien befanden, eine Gedenkstätte.

Blick über Pirna, Foto: © Frank Nicolai
Blick über Pirna, Foto: © Frank Nicolai

Pirna ist ein Ort mit einer beinahe verloren gegangenen schmerzhaften Erinnerung. Doch wie ist es erklärbar, dass in einer Stadt wie dieser, die in der jüngsten Vergangenheit mindestens zweimal durch Bundes- und EU-Mittel wieder aufgebaut wurde, die AfD bei Wahlen die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte? Und sogar den deutschlandweit ersten AfD-Bürgermeister stellt? Man ist in Pirna – trotz bunter Kreuze auf den Straßen – offenbar gut darin, Geschichte zu vergessen.

Der hpd hat bereits vor 15 Jahren über diesen Teil der Geschichte Pirnas berichtet: "Denkmal der Grauen Busse"

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