Zurückweisungen an der Grenze trotz Richterspruch

"Grundpfeiler des Rechtsstaats in Gefahr"

Wie jeder Beamte muss auch ein Bundespolizist oder ein Grenzschutzbeamter den Anweisungen seines Dienstvorgesetzten Folge leisten. Doch was ist, wenn massive Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anordnung bestehen? Dann geraten die Beamten in eine Zwickmühle, setzen sich sogar der Gefahr aus, sich selbst strafbar zu machen. So wie möglicherweise in den Fällen, in denen Flüchtlinge an deutschen Grenzen zurückgewiesen werden. Hieran gibt es massive Kritik: Nicht nur, dass der Bundesinnenminister die Beamten zu rechtswidrigem Handeln auffordere. Sondern auch ganz grundsätzlich, dass entgegen einer gerichtlichen Anordnung hier bewusst Recht gebrochen werde.

Das Berliner Verwaltungsgericht hatte am 2. Juni in einer Eilentscheidung drei somalischen Asylsuchenden ermöglicht, nach Deutschland einzureisen. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hatte zuvor Zurückweisungen an der Grenze durch die Bundespolizei angewiesen, was auch für Asylsuchende gelten soll. Die Somalier, die auf deutschem Boden um Asyl gebeten hatten, wandten sich an das Verwaltungsgericht Berlin. Dieses gab ihnen im Eilverfahren Recht. Und machte dabei auch sehr grundsätzliche Feststellungen zur Rechtswidrigkeit von Zurückweisungen an der deutsch-polnischen Grenze. In den vom Verwaltungsgericht Berlin entschiedenen Fällen halten sich die Behörden nun zwar an die Vorgaben, den betroffenen Somaliern ein ordentliches Asylverfahren zu gewähren. Doch in anderen vergleichbaren Fällen gibt der Bundesinnenminister mit Rückendeckung des Bundeskanzlers vor, die vom Gericht als rechtswidrig eingestuften Zurückweisungen trotzdem fortzuführen.

Das Verwaltungsgericht Berlin hatte argumentiert: Deutschland ist nach der Dublin-Verordnung verpflichtet, in jedem Fall das vorgesehene Verfahren zur Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaats durchzuführen. Eine Ausnahme (Notlage) nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sei nicht gegeben, da die Bundesregierung keine hinreichende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung dargelegt habe.

Nur eine Einzelfallentscheidung?

Die Bundesregierung stellt sich auf den Standpunkt, dass es sich bei dem Berliner Richterspruch nur um eine Einzelfallentscheidung handele und diese deshalb keine allgemeine Bindungswirkung entfalte.

Zwar ist es rechtlich so, dass Urteile im Einzelfall nur für die beteiligten Parteien bindend sind. Allerdings hat das Gericht in der Begründung allgemeine Maßstäbe gesetzt und die Vereinbarkeit der Zurückweisungen mit Unionsrecht ganz grundsätzlich geprüft. Damit ist die Entscheidung für vergleichbare Fälle relevant für die Rechtmäßigkeit beziehungsweise Unrechtmäßigkeit der deutschen Zurückweisungspolitik. Felix Zimmermann, Chefredakteur des juristischen Onlineportals Legal Tribune Online ordnete die Haltung des Bundesinnenministers so ein:

"Das Einzelfall-Framing soll die Bedeutung der Entscheidungen des Verwaltungsgericht Berlin herunterspielen. Doch in Wahrheit verhüllt es, dass das Gericht in der Begründung gerade nicht auf Einzelfälle abgestellt, sondern allgemeine Maßstäbe gesetzt hat. (...) Das Einzelfall-Gerede ist also eine bloße Nebelkerze: Es führt in die Irre, weil es impliziert, dass sich das Berliner Verwaltungsgericht nicht über die Rechtslage festgelegt hätte. Das Gegenteil ist richtig: Die ausführliche Begründung des Gerichts weist über die entschiedenen Einzelfälle hinaus, auch wenn eine formelle Bindungswirkung fehlt."

Grenzschützer in der Zwickmühle

Nun kann die Marschroute des Bundesinnenministers Grenzschutzbeamte in eine auch persönlich heikle Lage bringen. Sven Hüber, stellvertretender Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), hatte gegenüber der ARD erklärt: "Wenn eine ministerielle Weisung, wenigstens nach gerichtlichen Feststellungen, rechtlich nicht zulässig ist, dann müssen die Beamten freigestellt werden von der persönlichen Verantwortung." Denn im Bundesbeamtengesetz sei geregelt, dass der Beamte für seine Handlung und damit auch für die Zurückweisung eines Asylsuchenden höchstpersönlich verantwortlich sei.

Die Partei der Humanisten hat in dem Zusammenhang mittlerweile Strafanzeige gegen Bundesinnenminister Alexander Dobrindt und den Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums Dieter Romann bei der Staatsanwaltschaft Berlin eingereicht. Der Vorwurf: Verleitung von Untergebenen zu rechtswidrigem Handeln im Amt gemäß Paragraf 357 Strafgesetzbuch (StGB). In dem Paragrafen heißt es: "Ein Vorgesetzter, welcher seine Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amt verleitet oder zu verleiten unternimmt oder eine solche rechtswidrige Tat seiner Untergebenen geschehen lässt, hat die für diese rechtswidrige Tat angedrohte Strafe verwirkt."

Sascha Klughardt, Generalsekretär der Partei der Humanisten, sagt: "Die Exekutive darf sich nicht über geltendes Recht hinwegsetzen. Eine solche Ignoranz gegenüber gerichtlichen Entscheidungen gefährdet die Grundpfeiler des Rechtsstaats." Der Bundesregierung wird vorgeworfen, mit populistisch motivierten Maßnahmen bewusst rechtsstaatliche Normen zu umgehen. Dies bringe auch Beamtinnen und Beamte in eine unhaltbare Lage zwischen Pflicht und Gesetzesverstoß. Die Partei fordert die sofortige Aussetzung der Praxis und eine rechtlich gesicherte Lösung im Einklang mit dem EU-Recht. "Wer die Gewaltenteilung ignoriert, beschädigt das Fundament unserer Demokratie", so Klughardt. Es sei hochproblematisch, wenn politische Verantwortungsträger sich auf die "Macht des Faktischen" berufen, anstatt gerichtliche Entscheidungen zu respektieren.

"Wer die Gewaltenteilung ignoriert, beschädigt das Fundament unserer Demokratie."
Sascha Klughardt, Generalsekretär der Partei der Humanisten

In einer gemeinsamen Erklärung haben verschiedene Organisationen, darunter die Humanistische Union (HU), das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., die Neue Richter*innenvereinigung (NRV) und die Vereinigung Demokratischer Jurist:innen (VDJ) unter dem Titel "Gegen Rechtsbruch und Angriffe auf die Organe des Rechtsstaats und der Zivilgesellschaft" formuliert:

"Wir kritisieren in aller Deutlichkeit die offen ausgestellte Bereitschaft des Kanzlers und von weiteren Mitgliedern der Bundesregierung, angekündigt und bewusst Recht zu brechen und Entscheidungen von Gerichten zu ignorieren. Die Angriffe aus den Reihen von CDU und CSU sowie der Bundespolizei auf Anwält*innen und Menschenrechtsorganisationen erinnern an ähnliche Diffamierungen und Kriminalisierungen in Staaten wie Ungarn oder Italien. Diese Politik ist ein systematischer Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik. Das betrifft die Ignoranz gegenüber höherrangigem, europäischem Recht ebenso wie die Gleichgültigkeit gegenüber den Institutionen des Rechtsstaats. Es betrifft aber auch die Diffamierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und formellen Verfahren. Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass staatliche Gewalt nur im Rahmen der geltenden Gesetze ausgeübt werden darf und dass die Exekutive an die Entscheidungen der Judikative gebunden ist. Diese Grenzen sind von der Regierung wissentlich und willentlich und mit Ankündigung überschritten worden. Das Vorgehen aus den Reihen der Regierung und ihrer Fraktionen ist der offenkundige Versuch, vom eigenen europa- und grundrechtswidrigen Verhalten an der Grenze abzulenken. Wir fordern als Konsequenz aus den Beschlüssen, die rechtswidrigen Zurückweisungen an allen Grenzen umgehend einzustellen."

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