Nach dem kürzlich veröffentlichten Kommentar zum Bürgergeld folgt hier ein weiteres sozialpolitisches Thema, das wiederum von der Politik selbst aufgeworfen wurde: die Eingliederungshilfe nach Sozialgesetzbuch (SGB) und die Jugendhilfe nach SGB IX als "Kostenproblem". Bundeskanzler Friedrich Merz deklariert den Primat der Kassenlage – und offenbart damit ein tiefes Missverständnis sozialstaatlicher Verantwortung. Denn Gerechtigkeit ist kein Luxus und kein haushaltspolitischer Verfügungsgegenstand. Sie ist normativer Kern unseres Grundgesetzes – und im Sinne der modernen Sozialphilosophie, etwa bei Martha Nussbaum, der Maßstab für politischen Anstand. Warum es sich lohnt, an diesem Maßstab festzuhalten – darum geht es in diesem Beitrag.
Friedrich Merz hat gesprochen – und wie so oft sprach er nüchtern, kühl, bilanzierend. Die Ausgaben in der Jugend- und Eingliederungshilfe seien in den letzten Jahren stark gestiegen, sagte der Kanzler, und fügte hinzu: "Das kann so nicht weitergehen." Eine Botschaft, scheinbar sachlich, in Wahrheit brandgefährlich. Denn sie markiert – ob absichtsvoll oder fahrlässig – eine Grenzverschiebung im politischen Denken: Gerechtigkeit wird nicht mehr als politischer Grundsatz, sondern als Kostenfaktor verstanden.
Natürlich steigen Ausgaben in sozialen Bereichen. Sie steigen nicht zuletzt deshalb, weil demokratische Gesellschaften beschlossen haben, mehr Teilhabe, mehr Inklusion, mehr Chancengleichheit zu ermöglichen – im Wissen darum, dass auch Menschen mit Unterstützungsbedarf ein selbstbestimmtes Leben zusteht. Die Kassenlage ist dabei kein Gegenargument, sondern Anlass zur Priorisierung. Wer das umkehrt – wer der Kassenlage einen normativen Primat einräumt –, verkehrt Grundrechte in Ermessensspielräume.
Wenn Gerechtigkeit zur Verfügungsmasse wird
Die politischen Folgen sind nicht nur abstrakt, sie sind konkret – täglich spürbar für Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Wer mit Einrichtungen der Eingliederungshilfe oder mit Pflegeeinrichtungen für junge Menschen im Austausch steht, erlebt die Folgen dieser Politik nicht als Statistik, sondern "live und in Farbe".
Ein junger, halbseitig gelähmter Bewohner einer Wohn- und Betreuungseinrichtung wartet seit fast einem Jahr auf einen individuell angepassten Rollstuhl. Solange nutzt er – was nicht selbstverständlich ist – ein von der Einrichtung bereitgestelltes Leihmodell – groß, schwer, für ihn komplett unbeweglich. Ohne dieses Leihgerät hätte er das gesamte Jahr über im Bett verbringen müssen wie zuvor in der akuten Krankheitsphase – und wäre von mancher therapeutischen Leistung und den sozialen Verbindungen der Einrichtung ausgeschlossen gewesen. Er wird nun einen individuellen Rollstuhl bekommen, bei dem jedoch fraglich ist, ob ihm das wirklich einen Zuwachs an Mobilität bringt, denn er hat ja nur den rechten Arm zur Verfügung. Ein elektrischer Rollstuhl wäre die Lösung – doch der wird nicht genehmigt. Begründung: Nur für bestimmte neurologische Diagnosen vorgesehen. Die Tatsache, dass eine Hirnblutung für seine Behinderung ursächlich war, interessiert nicht. Das Wort "zu teuer" fällt öfter als das Wort "gerecht".
Ein anderes Beispiel: Ein aktuelles Pflegegutachten verweist auf beachtliche Fortschritte eines jungen Bewohners und sieht Chancen, dass er mit gezielter medizinischer Rehabilitation sogar wieder eingeschränkt mobil werden könnte. Die Reha sei aus fachlicher Sicht wünschenswert, ja geboten. Doch zugleich wird festgehalten: Eine Finanzierung aus Mitteln der Pflegekasse komme nicht in Betracht. Der Vorschlag sei "der Krankenkasse zugeleitet" worden – eine klassische Formulierung für: Wir sind raus.
Was hier wie Verwaltungsroutine klingt, ist in Wahrheit Ausdruck eines Ethos, das keines ist. Die Lebensrealität der Betroffenen – ihre Potenziale, ihre Entwicklungschancen, ihre Würde – spielen im System der sozialpolitischen Verschiebebahnhöfe nur eine Nebenrolle. Zuständigkeiten werden hin und her geschoben, bis die Verantwortung im Nirwana verschwindet. Und es ist keine Seltenheit, dass selbst die Leistungsträger gegenüber den Antragstellern offen mit "kein Geld" argumentieren.
Und anderswo? Alternativlosigkeit
Besonders zynisch wird diese Logik, wenn man den Blick auf andere politische Felder richtet. Etwa auf geplante Unternehmenssteuersenkungen oder neue Abschreibungsregelungen für Investitionsgüter. Hier ist von "Wachstumsimpulsen" und "Standortstärkung" die Rede – Maßnahmen also, deren Wirksamkeit keineswegs erwiesen ist, deren Kosten aber als "Investition" gefeiert werden. Im sozialen Bereich dagegen ist nicht einmal mehr der Nutzen ein Kriterium – sondern allein der Preis.
Damit wird der Diskurs verschoben. Gerechtigkeit ist nicht mehr das Ziel politischer Gestaltung, sondern ein Posten in der Haushaltsdebatte. Das ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich – es ist ethisch unhaltbar.
Martha Nussbaum hat Recht
Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum, deren Werk "Die Grenzen der Gerechtigkeit" inzwischen als Standardtext zur politischen Ethik gilt, hat dafür klare Worte gefunden. In ihrem Capabilities Approach fordert sie ein Verständnis von Gerechtigkeit, das nicht auf formaler Gleichheit beruht, sondern auf realer Befähigung. Eine Gesellschaft ist nur dann gerecht, wenn sie allen Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Fähigkeiten im Rahmen eines menschenwürdigen Lebens zu entfalten – auch, wenn das unterschiedlich viele Ressourcen erfordert.
Wenn also Eingliederungshilfe oder Jugendhilfe zur fiskalischen Verfügungsmasse erklärt werden, geht es nicht um "weniger Geld", sondern um die Einschränkung realer Teilhabemöglichkeiten – und damit um eine faktische Verletzung fundamentaler Gerechtigkeitsprinzipien.
Genau hier liegt die Brisanz der Merz'schen Aussagen: Wer pauschal behauptet, "das könne nicht so weitergehen", verabschiedet sich von jedem an Nussbaum geschulten Gerechtigkeitsbegriff. Denn das heißt im Klartext: Der Aufwand ist uns zu groß. Der Mensch zu teuer. Die Würde zu kostspielig. Natürlich stellt sich auch immer die Priorisierungsfrage – aber Merz spricht sie nicht einmal an. Er räumt das von ihm identifizierte "Problem" gleich ganz ab.
Es geht ums Ganze
Man kann sich über die Zahlen streiten. Über die Frage, welche Leistungen durch wen getragen werden sollen. Aber die Grundfrage, ob ein Staat sich am Maßstab der Gerechtigkeit orientiert oder an der Kassenlage, ist keine betriebswirtschaftliche – sie ist politisch, moralisch und verfassungsrechtlich zentral.
Friedrich Merz ist nicht als Finanzbeamter ins Amt gewählt worden. Sondern als Kanzler eines Landes, das sich in seiner Verfassung zur Würde jedes Einzelnen bekennt – nicht zur Haushaltsdisziplin als ethischer Leitlinie.
Es wäre Zeit, dass nicht nur er das wieder zur Kenntnis nimmt.







5 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Vermutlich wird Merz diesen Artikel nicht lesen und weiterhin seine Klientel bevorzugen,
von den Bürgern abzuwenden und nach besten Gewissen für alle Friede und Wohlstand
zu ermöglichen. (Sinngemäß)
H. Lambert am Permanenter Link
Der Artikel lässt ausser Acht, dass bei allen ethischen Forderungen, ob Plato oder Nussbaum, in der Realität die gesellschftlichen Verhältnisse und Möglichkeiten zu berücksichtigen sind.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Wenn ich mich nicht verzählt habe, kommt im Artikel zwei Mal der Begriff "Priorisierung" vor.
awmrkl am Permanenter Link
"bei allen ethischen Forderungen, ob Plato oder Nussbaum, in der Realität die gesellschftlichen Verhältnisse und Möglichkeiten zu berücksichtigen sind ...
... Abwägung gegen andere Interessen
Da wirds so richtig hässlich zynisch.
Wo, in welcher Umgebung lebt Mensch, Gesellschaft, Menschheit denn?
Die Frage ist doch: WIE wollen hier gemeinsam leben, in welchem Umfeld?
- In einem wirtschaftsoptimierten, technokratischen, auf max Profit für Wirtschaft ausgerichteten, an das Mensch sich auszurichten hat
- oder einem vorrangig am Menschen, der Gesellschaft orientierten!?
Verkürzt: Arbeiten um zu leben - oder leben um zu arbeiten?
Zudem ist in unserer Verfassung KEINE Wirtschaftsform vorgegeben, ja nicht mal in Ansätzen angesprochen! Auch nicht die seit >40 Jahren (Lambsdorff) grassierende, radikalisierte, PUR auf "!!!DIE WIRTSCHAFT!!!" (INSM&Co), an "schwäbischer Hausfrau" orientierter, volkswirtschaftlich völlig hirnrissiger Prinzipien (schwarze Null!) Schwachmaten-Haltung.
Da werden seit langem betriebswirtschaftliche Prinzipien auf Volkswirtschaft übertragen - komplette Idiotie!
Und Mensch, als DER Mittelpunkt (der Verfassung), zunehmend bis völlig übergangen.
Ich (wie wohl auch Bernd Kammermeier) werde nicht aufhören, gegen diesen Schwachmaten-Unsinn zu kämpfen. Leider stehen uns nicht die gigantischen Propaganda-Mittel zur Verfügung wie INSM&Co, obwohl lt Verfassung die Würde des Menschen" im Mittelpunkt steht - und nicht "DIE WIRTSCHAFT" ...
Anke am Permanenter Link
... "eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Merz noch einmal Christ wird"...