Die Kulissen, das Bühnenbild sind längst entsorgt, das Theaterstück hatte nie seine Premiere. Denn es wurde abgesetzt von der Intendanz des Theaters Osnabrück. Und doch geben sich die vom Intendanten gefeuerten Köpfe hinter dem abgesagten Stück nicht geschlagen. Dem Stück, in dem es um den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und die jahrelange Vertuschung gehen sollte. Ein Offener Brief an die Kommunalpolitiker der niedersächsischen Stadt setzt aktuell das Thema erneut auf die Tagesordnung. Und vielleicht wird es demnächst von einem anderen Schauspielhaus auf die Bühne gebracht.
Mit "Ödipus Exzellenz" sollte die neue Spielzeit am Theater Osnabrück eröffnet werden. Doch überraschend strich Intendant Ulrich Mokrusch das Stück aus dem Spielplan. Der hpd hat hier darüber berichtet. Und auch über den Protest, den der Aktionskünstler David Farago von der Giordano-Bruno-Stiftung zusammen mit dem Regie-Team dagegen organisiert hatte.
Am 21. August waren vor dem Theater rund 200 Protestierende zusammengekommen, um gegen die Absetzung zu demonstrieren. Sowohl bei der Podiumsdiskussion auf einer Bühne als auch lautstark und mit Plakaten, auf denen zu lesen war: "Kunst ist, wenn starke Bilder wehtun." – "Kein Publikum braucht Schutz vor der Kunst."
Doch am Rauswurf der Macher des Stücks konnte dies nichts ändern. Im Gespräch mit dem hpd sagt Karl Haucke, der zur künstlerischen Leitung gehörte: "Der Regisseur Lorenz Nolting, die Dramaturgin Sofie Boiten und die für das Bühnenbild, die Kostüme und die Musik zuständigen Teammitglieder – wir alle wurden gekündigt."

Foto: © Christine Fenzl
Der 1951 geborene Karl Haucke ist Betroffener körperlicher, sexualisierter und spiritueller Gewalt in einem katholischen Ordensinternat. Der Sozialwissenschaftler ist aktiv in verschiedenen Betroffenen-Initiativen und Gründungsmitglied des Vereins Umsteuern! Robin Sisterhood mit einer Beratungsstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt. Haucke wirkt bundesweit in mehreren Aufarbeitungsprojekten mit.
Im letzten Akt des Stückes hätte er sich von der Bühne ans Publikum gewandt und gefragt, ob sich im Publikum wohl auch Leute befänden, die weggeschaut haben. Ja, man müsse der Gesellschaft auch etwas zumuten, sagt er. Doch dazu kam es nicht. Fassungslos fragt Haucke: "Wo war des Intendanten Vertrauen in Willen und Fähigkeit 'seines' Publikums, sich mit den Gewaltverbrechen in ihrer Kirche auseinanderzusetzen, um damit die Basis für eine tragfähige Prävention zu schaffen? Wie kann er sich auf die unterkomplexe Idee versteigen, die Reduktion eines gesellschaftlich relevanten Konfliktes im eigenen Hause auf 'künstlerische Differenzen' trage zu der von ihm selbst propagierten Aufarbeitung sexualisierter Gewalt bei?"
Und Haucke kritisiert auch die Osnabrücker Oberbürgermeisterin Katharina Pötter (CDU), die sich hinter den Intendanten gestellt und gesagt hatte: "Kunst darf zur Diskussion anregen, aber es hat eben auch alles seine Grenzen und von daher finde ich es auch sehr richtig, wenn man auch die Gefühle, den Respekt und die Toleranz gegenüber den gläubigen Menschen auch in der katholischen Kirche weiterhin gelten lässt." Dem hält Haucke entgegen: "Nein. Die sexualisierte Gewalt im Bereich der Kirche hatte keine Grenzen. Die sakrale Macht der Täter, die spirituell begründete Unterwerfung der Minderjährigen waren grenzenlos. Die Auswahl 'heiliger' Gegenstände, mit denen mein Täter mich an 26 Tatorten in der Klosterschule penetrierte, war grenzenlos. Und deshalb muss auch Aufarbeitung dieser Gewalt grenzenlos sein. Das Bagatellisieren, das Verdecken, das Verschweigen muss endlich begrenzt werden. Das bedeutet: Die Taten, die Täter, die ermöglichenden Strukturen müssen benannt werden. Dies ist auch einer Oberbürgermeisterin im Publikum zumutbar."
Während die Macher des Stückes gekündigt wurden, arbeitet das fest angestellte Schauspieler-Ensemble weiter am Theater Osnabrück. Doch auch die Schauspielerinnen und Schauspieler wollten die Absetzung nicht klaglos hinnehmen. An dem Abend, an dem eigentlich die Premiere von "Ödipus Exzellenz" stattfinden sollte, wandten sie sich nach Ende der Ersatzaufführung an das Publikum und verliehen ihrem Protest mit deutlichen Worten Ausdruck. Ihre Sicht der Dinge ist auch auf der Internetseite des Theaters nachzulesen.
Karl Haucke
Zunächst stellt dort Intendant Mrokusch seine Perspektive dar: Dabei beschreibt er zunächst sachlich, was geplant war: "Es ging um das systemische Versagen der katholischen Kirche und deren Repräsentanten sowie die Kritik an diesen. Ein zentrales Anliegen war es, den Betroffenen von sexualisierter Gewalt eine Stimme zu geben."
An der Frage, wie ein katholischer Gottesdienst auf der Bühne künstlerisch umgesetzt werden sollte, habe sich ein Konflikt entzündet über die grundsätzliche Kunstfreiheit des Teams. Diese sei zu jedem Zeitpunkt gegeben gewesen. Der Intendant schildert den Ablauf der Dinge aus seiner Sicht so:
"Das Theater verwahrt sich gegen die völlig haltlose Unterstellung, es habe in Abstimmung mit dem Bistum Osnabrück gehandelt. Das ist nie passiert. Die Darstellung des Gottesdienstes war letztlich auch im Sinne der Intendanz und hätte Teil der Inszenierung sein können. Der Intendant hatte eine Diskussion darüber angestrebt, wie das dramaturgisch umgesetzt werden könnte. Die Absage erfolgte also nicht wie zum Teil unterstellt, um dem Thema Missbrauch und katholische Kirche auszuweichen, sonst hätte das Theater diese Produktion nicht beauftragt und auch nicht so prominent am Spielzeitbeginn mit diesem Team in den Spielplan gestellt. Das Regieteam hat die gemeinsame Arbeit daran verweigert. Das Theater hat die Zusammenarbeit daraufhin beendet."

Die Schauspieler sehen das ganz anders und formulieren:
"Uns, den Mitgliedern der Sparte Schauspiel ist es ein Anliegen, dem Statement des Theaters zur abgesagten Produktion 'Ödipus Exzellenz' unsere Sichtweise gegenüberzustellen. Wir teilen nicht die öffentliche Stellungnahme des Hauses. 'Ödipus Exzellenz', ein Theaterabend über das Wegschauen und Vertuschen von sexualisierter Gewalt an Minderjährigen in der katholischen Kirche, wurde zurückgezogen und hat dadurch erneutes Wegschauen und Vertuschen produziert. Genau dort hinzusehen und deutlich zu machen, wo diese Missstände herrschen – so verstehen wir unseren künstlerischen Auftrag.
Unsere Überzeugung ist es, dass der Schutz von Gläubigen nicht über dem der Betroffenen stehen kann. Was muss eigentlich der größere Skandal sein? Wie 'Ödipus Exzellenz' geworden wäre oder die Verbrechen, um die es hätte gehen sollen?
Künstlerische Differenzen können und dürfen immer Teil eines kreativen Prozesses sein. Diese gilt es gemeinsam auszuhalten und darüber in den Austausch zu gehen. Immer dort, wo sich Macht auf eine einzelne Person konzentriert, ist die Gefahr von autoritären Entscheidungen gegeben. Wie auch in diesem Fall.
Wenn kein Raum für Diskurs vorhanden ist, wird künstlerisches Arbeiten unmöglich, denn dazu braucht es kreative Freiheit, die Möglichkeit des Scheiterns und gegenseitiges Vertrauen. Leider haben die Beteiligten der Produktion 'Ödipus Exzellenz' die Option zur Diskursbereitschaft seitens der Intendanz zu spät und nur mit Einschränkungen erlebt.
Übrig bleibt eine schmerzhafte Leerstelle auf allen Seiten: Für alle Beteiligten der Produktion – Künstler:innen, Techniker:innen und Mitarbeiter:innen aus allen Gewerken – deren leidenschaftliche und intensive Arbeit keine Premiere erlebt hat. Für das Publikum dieser Stadt, dem mit dem Argument geschützt werden zu müssen, die Möglichkeit der eigenen Meinungsbildung vorenthalten wurde.
Aber vor allem für die unzähligen Betroffenen sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche. Ihren Stimmen hätte an diesem Abend die Bühne gehört.Wir möchten an dieser Stelle den Betroffenen Karl Haucke zitieren: 'Warum sollte die Aufarbeitung des Missbrauchs weniger wehtun als der Missbrauch selbst?' Wir, die Sparte Schauspiel, hätten uns und Ihnen diesen Abend gerne zugemutet."
Stellungnahme der Schauspieler am Theater Osnabrück
Am Abend des abgesagten Stückes, an dem dem Osnabrücker Publikum "leichtere Kost" serviert wurde, lag ein von Haucke verfasstes Flugblatt auf jedem Sitz des Theaters, in dem er die Kritik an der Absage und den Reaktionen noch einmal zusammenfasst. Sie finden das Flugblatt im Anhang dieses Textes.

In einem dem hpd vorliegenden Offenen Brief, der von 578 Personen aus der Osnabrücker Stadtgesellschaft unterzeichnet wurde und sich in diesen Tagen an die Politikerinnen und Politiker im Stadtrat richtet, heißt es:
Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Pötter, sehr geehrte Vorsitzende der Ratsfraktionen, sehr geehrte Ratsmitglieder der Stadt Osnabrück,
wir möchten mit diesem offenen Brief auf die Notwendigkeit aufmerksam machen, die aktuellen Ereignisse um die Absage der Produktion "Ödipus Exzellenz" am Theater Osnabrück auf politischer Ebene zu diskutieren und fordern eine grundsätzliche politische Debatte über die Entscheidungs- und Arbeitsstrukturen an den Städtischen Bühnen. Nur so lässt sich weiterer Schaden vom Theater und dem Kulturstandort Osnabrück abwenden.
Das Theater gehört nicht der Intendanz allein. Sie ist zwar die künstlerische Leitung, ist aber ebenso für die Bewahrung der Kunstfreiheit verantwortlich. Das Theater ist ein Ort der Gemeinschaft, des Zusammenkommens, des Gesprächs und des Streits. Es kann ein Ort für eine lebendige und gelebte Demokratie mit all ihren Widersprüchen sein – wenn das Theater allen gehört: dem Publikum, den Mitarbeitenden, der Leitung, der ganzen Stadt. Aufgabe der Intendanz ist es, diesen Raum zu ermöglichen und zu schützen.
Doch seit diesem Juni wissen wir, dass der Intendant Ulrich Mokrusch ein anderes Verständnis von Theater vertritt. Die geplante Premiere von "Ödipus Exzellenz" am 31. August fand nicht statt, das Regieteam wurde entlassen, das Bühnenbild entsorgt. "Ödipus Exzellenz" war eine Produktion, in der die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, und im Bistum Osnabrück im Speziellen, im Zentrum stand. Das Stück, welches das Schweigen brechen und zur jahrelang versäumten Aufarbeitung beitragen wollte, wurde nun selbst zum Schweigen gebracht und damit auch die Stimmen der Betroffenen.
Der Intendant bekundete mehrfach öffentlich, das Osnabrücker Publikum vor diesem Stück "schützen" zu wollen. Doch brauchen und wollen wir diesen Schutz? Durch die Entscheidung des Intendanten sind nicht nur die Mitarbeitenden des Theaters, das entlassene Regieteam und die Betroffenen übergangen, sondern auch die Osnabrücker*innen von der Möglichkeit einer offenen Debatte ausgeschlossen worden (...).
In seiner Studie "Macht und Struktur im Theater" benennt Thomas Schmidt (Professor und Leiter des Studiengangs Theater- und Orchestermanagement an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt) die Mechanismen, die Entscheidungen wie jene von Intendant Mokrusch ermöglichen: "Struktur und Macht sind zwei prägende und miteinander verknüpfte Aspekte des deutschen Theaterbetriebes. Er beruht auf der streng hierarchischen Organisation von 1900 und hat seitdem strukturell kaum Veränderungen erfahren. Das beeinträchtigt nicht nur die Innovationsfähigkeit dieser wichtigen Institution, sondern führt auch zu unangemessen starken Machtpositionen der Intendanten, zu Konflikten mit den Ensembles und Mitarbeiter*innen und behindert die Entfaltung und Erneuerung der künstlerischen Potentiale dieser Kulturtechnik."
Was das bedeutet, haben wir im Falle der abgesagten Premiere von "Ödipus Exzellenz" hautnah miterlebt. Der Fall hat bundesweit und international Schlagzeilen gemacht. In der medialen Öffentlichkeit wurde intensiv über die Unterdrückung der Kunstfreiheit in der "Provinz" debattiert. Zur Diskussionsveranstaltung der Giordano-Bruno-Stiftung mit dem Schauspieler Thomas Kienast, der künstlerischen Leitung der Produktion Karl Haucke, Lorenz Nolting und Sofie Boiten sowie der Grünen-Politikerin Kristina Pfaff kamen neben Presse und Fernsehen über 200 Menschen.
Wir wollen diesen Skandal nicht auf sich beruhen lassen. Wir wollen ihn zum Anlass nehmen für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Strukturen, die hier versagt haben, und ein Gespräch anstoßen über neue Formen der Zusammenarbeit, der Beteiligung und Verantwortlichkeit am Theater Osnabrück.
Wir fordern,
- dass Sie die Diskussion um die Machtstrukturen im Theater, die bereits in der Stadtgesellschaft und unter den Theatermitarbeitenden stattfindet, auf politischer Ebene kritisch weiterführen. Stadt und Kulturverwaltung tragen Verantwortung für den Kunst- und Kulturstandort Osnabrück und insbesondere das Theater als städtischen Kulturbetrieb.
- dass Sie in der Diskussion die Perspektive der von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche Betroffenen mitdenken. Sie sehen in der Absage der Produktion "Ödipus Exzellenz" ein Fortführen der kirchlichen Vertuschungsmechanismen.
- dass Sie sich – auch mit Blick auf die Besetzung der nächsten Intendanz – für neue Beteiligungsmöglichkeiten im Theater einsetzen. Eine Demokratisierung dieser Institution ist dringend notwendig.
- dass Sie sich klar zu der im Grundgesetz verankerten Kunstfreiheit bekennen. Auch Sie tragen Verantwortung dafür, dass die Integrität künstlerischer Vorhaben geschützt wird, potenziell kontroversen Themen in der Öffentlichkeit Raum gegeben wird und autoritäre Gesten nicht das letzte Wort behalten.
Es gibt Handlungsbedarf. Auch hier in Osnabrück und gerade jetzt!"
Ob der Brief angesichts der verhärteten Fronten in Osnabrück zu einem Umdenken führen wird, ist offen. Aber die breite öffentliche Wahrnehmung der Ereignisse von Osnabrück auch in den überregionalen Medien könnte dazu führen, dass das Stück demnächst andernorts aufgeführt wird. Karl Haucke jedenfalls ist optimistisch, dass es im nächsten Frühjahr, wenn die Theater in Deutschland in die Planung für ihre neue Saison gehen, Anfragen geben wird. "Wir sehen solchen Anfragen gern entgegen, auch wenn es nahe liegt, dann die zu schildernden Muster der sexualisierten Machtübernahme der jeweiligen Aufklärungsstudie im Bistum anzupassen."






3 Kommentare
Kommentare
Klaus Bernd am Permanenter Link
Respekt ???
»...Osnabrücker Oberbürgermeisterin Katharina Pötter (CDU), ...die Gefühle, den Respekt und die Toleranz gegenüber den gläubigen Menschen auch in der katholischen Kirche weiterhin gelten lässt." «
Ich frage mich, mit welcher Bedeutung das Wort Respekt hier und auch in anderen ähnlichen Zusammenhängen gebraucht wird. In den beiden relevanten Bedeutungen, die im Duden genannt werden jedenfalls nicht.
Duden:
„1. auf Anerkennung, Bewunderung beruhende Achtung“
In diesem Sinne ist Respekt ja kein Menschenrecht, das man einfordern könnte, sondern etwas was man sich verdienen muss durch eine besondere Leistung.
„2. vor jemandem aufgrund seiner höheren, übergeordneten Stellung empfundene Scheu, die sich in dem Bemühen äußert, kein Missfallen zu erregen“
In diesem Sinne ist es noch nicht mal eine Haltung, die unbedingt wünschenswert ist, beinhaltet sie doch ein Geschmäckle von taktischer Unterwürfigkeit. Ist das nicht diese Art von Respekt gegenüber der „Geistlichkeit“, die mit zu den systemischen Ursachen des Kindesmissbrauchs durch Priester gehört ?
Vielleicht sollte man die Definition dahingehend erweitern, dass man damit auch nur die Wahrnehmung eines anderen als Mensch versteht ? Mehr kann man schließlich von niemandem verlangen.
Einen Angriff auf die Toleranz (allen) gläubigen Menschen gegenüber kann ich im übrigen in der ganzen Causa nicht erkennen.
Assia Harwazinski am Permanenter Link
Weshalb sollten die Gefühle unverletzter Gläubiger ein schützenswerteres Rechtsgut sein als die Gefühle der real und konkret Verletzten, seien diese nun (noch) gläubig oder nicht?
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Bei dem Thema Kindesmissbrauch rennen Sie gegen eine Wand des Schweigens und Vertuschen. Religion affine Politiker werden aus Gründen des Machterhalts dieses Thema