Studie zu Menschen, die die Zeugen Jehovas verlassen haben

Geächtet und ausgegrenzt

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Zeugen Jehovas verteilen Informationsmaterialien
Zeugen Jehovas verteilen Informationsmaterialien

Den Zeugen Jehovas den Rücken gekehrt: Eine Studie der Universität Zürich, basierend auf den Angaben ausgetretener Mitglieder, vermittelt nicht nur erschreckende Einblicke in das Innenleben der Zeugen Jehovas. Auch werden die großen Probleme deutlich, die ein Austritt aus der religiösen Gemeinschaft zur Folge hat.

An der im ersten Halbjahr 2021 durchgeführten Online-Befragung beteiligten sich 424 ehemalige Zeugen Jehovas. Davon waren 65 Prozent weiblich und 35 Prozent männlich. 87 Prozent der Teilnehmenden wohnten in Deutschland, 8 Prozent in der Schweiz, 5 Prozent in Österreich. Die wesentlichen Ergebnisse der Studie:

Gewalt: Ehemalige Zeugen Jehovas erlebten in der Kindheit dreimal häufiger körperliche und sexuelle Gewalt als die Allgemeinbevölkerung und sechsmal häufiger emotionale Vernachlässigung beziehungsweise Gewalt.

Kontaktabbruch: Nach Verlassen der Gruppe sind 77 Prozent der ehemaligen Zeugen Jehovas von verordnetem Kontaktabbruch (Ächtung) betroffen.

Suizid: Jede dritte ausgestiegene Person hat nach Verlassen der Gruppe Suizidgedanken, 10 Prozent der Ausgestiegenen unternehmen einen Suizidversuch.

Erkrankung: Ehemalige Zeugen Jehovas sind 40 Prozent häufiger von chronischen Krankheiten und ein Drittel häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen.

Die Studienmacher analysieren die mögliche Ursache des schlechten Gesundheitszustands der ausgetretenen Mitglieder so: Dieser könne mit den negativen und belastenden sozialen Folgen zusammenhängen, die von den meisten Teilnehmenden nach dem Ausstieg berichtet wurden. Dazu gehörten Erfahrungen der Ächtung oder Ausgrenzung durch aktive Mitglieder und der Verlust von Beziehungen. Für etwa ein Sechstel der Stichprobe führte der Austritt aus der Glaubensgemeinschaft zur Beendigung einer wichtigen Beziehung, etwa einer Scheidung. Dies stelle einen großen Stressfaktor dar, der Gesundheitsprobleme nach sich ziehen könne.

Die Erkenntnisse der Studie decken sich mit denen des Vereins JZ Help. Dieser hat es sich zum Ziel gesetzt, über Menschenrechtsverstöße bei den Zeugen Jehovas zu informieren und bietet Ausstiegswilligen psychologische und rechtliche Hilfe an. In einer Analyse von JZ Help zu der Studie heißt es: "Wir erleben täglich, dass Menschen, die durch verordneten Kontaktabbruch alle ihre nächsten Menschen auf einen Schlag verlieren, auch Eltern, Kinder und Geschwister, in eine schwere Krise geraten." Die schlechte Gesundheit von Ausgestiegenen sei aber wohl nicht auf den Verlust der wichtigsten Bezugspersonen und den Zusammenbruch des eigenen Weltbildes zurückzuführen. Vielmehr wiesen die drei- bis sechsmal höheren Werte der Teilnehmenden zu erlebter Vernachlässigung und Gewalt in der Kindheit darauf hin, dass die schlechte Gesundheit auch Jahre nach dem Ausstieg eine Folge des Aufwachsens in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas sein könne.

Die Experten von JZ Help zu dem Hintergrund: "Mitglieder der Zeugen Jehovas teilen eine Realität, die sich von jener der umgebenden Gesellschaft stark unterscheidet. In dieser Realität steht das Ende der Welt mit blutigem Gericht kurz bevor. Die Mitglieder leben damit in einer akuten Bedrohungssituation, in der das Überleben nur gesichert werden kann durch strikte Befolgung der Vorgaben der Wachtturm-Organisation. In einer Gruppe, die so geschlossen und vereinnahmend ist, herrscht eine stark dichotome Weltsicht vor: Das Gute wird in der Gemeinschaft, das Böse in der Außenwelt verortet. Im Kern zielt die Sozialisation von Mitgliedern von derart engen Gruppen immer darauf ab, dass Mitglieder weder sich selber noch die Welt, in der sie leben, kennen dürfen. So steht 'die Welt' denn auch für das Schlechte, mit 'Weltmenschen', also Menschen, die in der 'Welt' leben, soll, außer bei der Mission, möglichst wenig Kontakt bestehen. Als Folge gibt es kaum enge Beziehungen zu Nicht-Mitgliedern."

So bestätigt auch die Studie der Universität Zürich: Von den befragten ehemaligen Zeugen Jehovas reduzierten drei Viertel den Kontakt zu Außenstehenden oder brachen ihn ganz ab, um den Vorgaben der Glaubensgemeinschaft zu genügen. 71 Prozent der Befragten gaben an, dass sie ausschließlich oder fast ausschließlich Beziehungen zu anderen Mitgliedern pflegten. Die von den Teilnehmenden durchschnittlich genannten 15,8 Wochenstunden für religiöse Aufgaben (neben beruflichen Verpflichtungen) lassen wenig Zeit für andere Kontakte und Tätigkeiten verbleiben.

Diese äußere Isolation bei gleichzeitiger Vereinnahmung durch die Gruppe führt laut JZ Help zu einer Einschränkung der Weltsicht und damit auch der persönlichen Wahlmöglichkeiten: Akademische Bildung oder eine ambitionierte berufliche Karriere etwa würden als ernste Gefahren für den Glauben wahrgenommen. Auch Sex vor der Ehe und homosexuelle Beziehungen seien in der Gemeinschaft undenkbar. Getaufte Mitglieder, die Zweifel an der Lehre haben oder den Vorgaben nicht entsprechen, wüssten, dass sie, wenn sie die Organisation verlassen, die meisten ihrer nächsten Menschen verlieren werden. Deshalb lebten viele Betroffene oft über Jahre mit dem Wunsch, auszutreten, verwirklichten diesen aber wegen der schwerwiegenden Konsequenzen nicht. Die Abgeschlossenheit der Gemeinschaft trage zudem dazu bei, dass Frauen in einem patriarchalen System in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung noch eingeschränkter seien als Männer. JZ Help: "Frauen haben kaum Mitspracherecht in Gemeindeangelegenheiten und leben in großer Abhängigkeit von ihrem Ehemann. Das könnte ein Grund für den höheren Stresslevel und die tiefere Lebensqualität bei den weiblichen Teilnehmerinnen der Zürcher Studie sein."

Mit Blick auf die in der Studie festgestellten Aussagen ausgetretener Mitglieder, sie hätten auch im Kindesalter körperliche Gewalt erfahren, sagen die Studienmacher der Uni Zürich zunächst vorsichtig: "Es ist sehr wichtig zu betonen, dass das vergleichsweise hohe Maß an Kindesmisshandlung in der aktuellen Stichprobe möglicherweise nicht mit der Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas zusammenhängt. Es könnte zum Beispiel sein, dass diejenigen, die nicht in die Glaubensgemeinschaft hineingeboren wurden, von Kindesmisshandlung betroffen waren, bevor sie Mitglied wurden." Andererseits habe eine beträchtliche Anzahl von Studienteilnehmern angegeben, dass der Grund für ihren Austritt aus der Glaubensgemeinschaft darin lag, dass sie Missbrauch oder Misshandlung erlebt (31 Prozent) oder beobachtet (23 Prozent) hatten. Es sei daher möglich, dass die Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas in der vorliegenden Stichprobe mit einem höheren Risiko verbunden war, Opfer von Kindesmisshandlung zu werden, fassen die Studienmacher vorsichtig zusammen.

Laut JZ Help berichten viele Ratsuchende bei der Hilfsorganisation von erlebter sexualisierter Gewalt und sexuellen Übergriffen in der Kindheit. "Die hohe Gefährdung von Kindern innerhalb der Zeugen Jehovas bezüglich sexualisierter Gewalt hat in erster Linie mit organisationalen Vorgaben zu tun, die Täter auf Kosten der Opfer schützen. Zur Verbreitung sexualisierter Gewalt gegen Kinder tragen aber auch das patriarchale System, der geforderte absolute Gehorsam und das Beschämen als Mittel zur Disziplinierung bei. Grundsätzlich lernt ein Kind, dass es niemals genügt und nicht in Ordnung ist, so wie es ist. Das alles schwächt Kinder und spielt Tätern in die Hände."„"

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