Was meinst du mit "tragischen Missverständnissen"?
In Deutschland wird immer wieder behauptet, Peter Singers Position sei "behindertenfeindlich", obwohl er selbst für eine "behindertenfreundlichere Politik" eintritt. In dem heftig umstrittenen Buch "Muss dieses Kind am Leben bleiben?", das Peter Singer zusammen mit Helga Kuhse schrieb, heißt es dazu: "Wir meinen, dass die reichen Nationen sehr viel mehr tun sollten, um behinderten Menschen ein erfülltes, lebenswertes Leben zu ermöglichen und sie in die Lage zu versetzen, das ihnen innewohnende Potential wirklich auszuschöpfen. Wir sollten alles tun, um die oft beklagenswert schlechte institutionelle Betreuung zu verbessern und die Dienstleistungen bereitzustellen, die behinderten Menschen ein Leben außerhalb von Institutionen und innerhalb der Gemeinschaft ermöglichen". Man muss dazu auch wissen: Weltweit wird Singer angegriffen, weil er "linke Positionen" vertritt, nur im deutschsprachigen Raum wird ihm merkwürdigerweise das komplette Gegenteil vorgeworfen. Ich habe auf diese sowie verschiedene andere Punkte bereits vor vier Jahren hingewiesen. Leider hat dies an den Vorurteilen gegenüber Peter Singer nur wenig geändert.
Schön und gut, aber was ist von dem Ausspruch zu halten, mit dem Singer in der "Jungen Welt" zitiert wird: "Ich möchte nicht, dass meine Versicherungsbeiträge erhöht werden, damit Kinder ohne Aussicht auf Lebensqualität teure Behandlungen erhalten"?
Ich habe die Quelle dieses Zitats leider nicht gefunden und weiß daher nicht, ob Peter Singer das wirklich so gesagt hat. Aber nehmen wir mal an, er hätte diese unglückliche Formulierung wirklich gewählt, so käme es bei der Beurteilung darauf an, was er mit "Kinder ohne Aussicht auf Lebensqualität" gemeint hat. Sollte damit das Problem angesprochen sein, dass extrem schwerstbehinderte Säuglinge mithilfe einer unreflektierten Form der Apparatemedizin am Leben gehalten und vermutlich auch gequält werden, bevor sie erwartungsgemäß kurze Zeit später sterben, kann man diese Aussage schon etwas besser nachvollziehen. Es ist leider so, dass es eine Form von High-Tech-Medizin gibt, die nicht den Interessen der Patienten dient, sondern den ökonomischen Interessen der Klinikbetreiber. Kritisch könnte man hier einwenden, dass durch derartig sinnlose Maßnahmen die Mittel knapper werden für sinnvolle Maßnahmen im Gesundheitsbereich, die die Lebensqualität der Patienten wirklich verbessern. Allerdings sind die Fälle von Kindern, die so stark behindert sind, dass sie überhaupt keine Aussicht auf Lebensqualität haben, so selten, dass entsprechende Maßnahmen kaum zu einer spürbaren Erhöhung der Versicherungsbeiträge führen dürften.
An dem Zitat stört vor allem, dass sich Peter Singer über eine mögliche Erhöhung seiner Versicherungsbeiträge aufregt. Das klingt hartherzig und egoistisch, was aber seiner eigenen Position überhaupt nicht entspricht, oder? Tatsächlich ist Singer ja bekannt dafür, dass er einen nicht unerheblichen Teil seines Einkommens für wohltätige Zwecke spendet und in diesem Zusammenhang die Bewegung für "effektiven Altruismus" ins Leben gerufen hat, die darauf abzielt, möglichst hohe Spendengelder zu generieren und sie so einzusetzen, dass möglichst vielen Individuen geholfen werden kann. In ihrem Artikel kritisiert die "Junge Welt" indirekt auch diese Position Singers. Mit Recht?
Ja und nein. Zunächst ist es natürlich begrüßenswert, wenn sich Menschen für andere engagieren und ihre Spendengelder so einsetzen, dass sie die Lebensqualität möglichst vieler Menschen bzw. möglichst vieler nichtmenschlicher Tiere effektiv verbessern. Dies ist der Grund, warum die Giordano-Bruno-Stiftung die Idee des effektiven Altruismus unterstützt. Allerdings sehe ich bei diesem Denkansatz in der Tat einige Schwierigkeiten, die nicht wirklich gelöst sind. Auf eines dieser Probleme hat die "Junge Welt" in ihrem Artikel mit Recht aufmerksam gemacht. Angeblich hat Peter Singer in einer australischen Talkshow ja gefordert, "finanzielle Mittel für die Ausbildung von Blindenhunden zu kürzen und für die Prävention von Blindheit in den Ländern des Trikonts einzusetzen."
Wie man hört, ist dieses Beispiel mit dem Blindenhund bei "effektiven Altruisten" sehr beliebt…
Ja, sie meinen, damit aufzeigen zu können, dass man mit gleichem Einsatz von Mitteln sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielen kann: In dem einen Fall erhält ein einzelner blinder Mensch einen Blindenhund, im anderen Fall kann man mit gleichem Investment verhindern, dass Tausende von Menschen überhaupt erblinden. Das mag im ersten Moment überzeugend wirken, die "Junge Welt" hat in diesem Zusammenhang aber zu Recht gefragt, warum man denn nicht beides tun könne, also sowohl Blindenhunde ausbilden als auch Tausende von Menschen in der Dritten Welt vor Blindheit bewahren. Bei genauerer Betrachtung wirkt das Blindenhund-Beispiel nur deshalb plausibel, weil man intuitiv unterstellt, die Hilfsgelder kämen aus einem gemeinsamen Topf und wären nach ihrem Einsatz aus der Welt verschwunden.
Und das ist falsch?
Natürlich! Denn das Geld, das ausgegeben wird, verschwindet ja nicht einfach, sondern landet bei anderen Markteilnehmern, etwa bei Blindenhund-Ausbildern, die einen Teil ihres Profits weiterspenden können, etwa zur Prävention von Erblindungen in der Dritten Welt. Ein zweiter, noch gewichtigere Grund, warum ich den Blindenhund-Vergleich kritisiere, besteht darin, dass er eine Botschaft vermittelt, die humanistischen Überzeugungen diametral widerspricht: Es kann und darf doch nicht der Sinn des effektiven Altruismus sein, die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen unserer Gesellschaft aufzukündigen mit der Begründung, dass man dadurch mehr Hilfsbedürftige in anderen Teilen der Welt retten könne! Das dahinter stehende Alternativ-Szenario ist falsch, weil es natürlich sehr viel mehr Optionen gibt als die beiden angebotenen, und die Argumentation ist zudem auch noch brandgefährlich, weil sie zu einem Solidaritätsbruch mit jenen Gesellschaftsmitgliedern führen kann, die unsere Unterstützung am dringendsten benötigen.
Ist es diesem befürchteten "Solidaritätsbruch" geschuldet, dass Behindertenverbände nun so vehement gegen die Preisverleihung an Peter Singer protestieren?
Das spielt sicherlich eine Rolle. Ohne es zu wollen, hat Peter Singer gerade in Behindertenkreisen große Ängste ausgelöst. Ich kann gut nachvollziehen, dass Menschen, die unter fehlender Zuwendung und mangelhafter gesellschaftlicher Unterstützung leiden, ihre Enttäuschung und Wut zum Ausdruck bringen, indem sie mit aller Vehemenz gegen einen Philosophen protestieren, der diese unhaltbaren Zustände angeblich legitimiert. In Wahrheit aber ist Peter Singer der falsche Adressat für solche Vorwürfe, denn seine Philosophie zeichnet sich in besonderer Weise dadurch aus, dass sie jede Form von Diskriminierung überwindet. Schließlich besteht die zentrale Maxime der Singerschen Ethik darin, "gleiche Interessen gleich zu behandeln", wobei es völlig unerheblich ist, welcher Gruppe das jeweilige Individuum angehört.
10 Kommentare
Kommentare
Dieter Depping am Permanenter Link
Danke für die Klarstellung, hatte da so meine Irritationen
Julian Estragon am Permanenter Link
Singers Kommentar über Versicherungsbeiträge war suboptimal.
Peter Augustin am Permanenter Link
Gesteuert von den Behindertenplattformen Kobinet und Rollingplanet greifen die Aufrufe, die PSP-Veranstaltung in der Berliner Urania zu be- oder verhindern, wie ein Buschfeuer um sich.
Peter Augustin am Permanenter Link
Nachtrag: Noch besser fände ich es, anstelle der Preisverleihung (deren Sinnhaftigkeit mir ohnehin nicht einleuchten will: welches Tier leidet weniger, wenn Peter Singer eine Medaille umgehängt bekommt?) eine breitang
Andrej Togni am Permanenter Link
Gute Aufarbeitung einer komplexen Situation, danke!
Ben am Permanenter Link
Quelle des Zitats scheint das hier zu sein: http://kleinonline.wnd.com/2015/05/01/feds-slam-profs-kill-severely-disabled-babies-remarks/
Claudia am Permanenter Link
Weshalb gibt es eigentlich seitens des PSP-Trägervereins keinerlei öffentliche Stellungnahme zu all der anbrandenden Kritik? Will man sehenden Auges in das erwartbare Desaster laufen?
Hintergrund der ganzen Chose ist vermutlich eine simple Retourkutsche von Stefan Eck und Walter Neussel gegenüber der Tierschutzpartei. Wie es auf der website der Partei heißt, stellte "am Nachmittag des 33. Bundesparteitags [08.11.2014] Dr. Walter Neussel, ein langjähriges Mitglied unserer Partei [jetzt Vorsitzender des PSP-Fördervereins], seine Idee der Vergabe eines 'Peter Singer-Preises' durch die Partei Mensch Umwelt Tierschutz vor. Er erklärte, dass er vorhabe, diesen mit 10 000 Euro dotierten Preis aus seinem persönlichen Vermögen jährlich zu stiften. Mit dem 'Peter Singer-Preis' sollten Personen geehrt werden, die maßgeblich zur Tierleid-Minderung beigetragen haben. Durch die jährliche, in feierlicher Atmosphäre stattfindende Verleihung des Preises, verbunden mit der Übergabe einer Medaille, käme die Partei Mensch Umwelt Tierschutz in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit."
Die Idee wurde auf dem Parteitag sehr kontrovers diskutiert und schließlich über eine herbeigeführte Abstimmung durch die Mehrheit der anwesenden Parteimitglieder abgelehnt.
Diese parteiinterne Niederlage dürfte einer der Gründe für Ecks Rückzug aus der Tierschutzpartei gewesen sein. Auch Neussel trat aus, desgleichen Petra Kuppinger, bis dahin Bundesschatzmeisterin der Tierschutzpartei, heute Geschäftsführerin des PSP-Vereins.
Auch mein Plädoyer ist angesichts der verfahrenen Situation: die ganze Geschichte absagen. Und zwar schnellstmöglich. Stattdessen einen Kongreß organisieren, auf dem die Thesen Peter Singers und all die Mißverständnisse, die drumrum kursieren, diskursiv aufgearbeitet werden können.
Bettina am Permanenter Link
Die Ablehnung geschah, man kann es auf der Seite der Tierschutzpartei nachlesen, allein wegen Singers Position bezüglich Tierversuchen.
Nach einigem googeln findet man die Rückzugsgründe Ecks, die offensichtlich nichts mit diesem Preis zu tun haben (sinngemäß: "Fehlende Distanzierung zu rechtslastigen Personen innerhalb der Tierschutzpartei").
Was also soll hier eine Retourkutsche sein? Diese Partei ist eher unbekannt.
Vielleicht ist es gut, dass das Thema Peter Singer und seine Ethik auf diese Weise in die öffentliche Diskussion gerät. Eine Absage käme einer Zustimmung der Proteste gleich und wäre kontraproduktiv. Aber diese Entscheidung liegt allein bei den Veranstaltern, die ihn, wie man auf ihrer Seite lesen kann, für seine Verdienste für die Tierrechtsbewegung ehren wollen.
Elke am Permanenter Link
Ich bin seit 20 Jahren aktive Tierrechtlerin und stehe dem Great Ape Project nahe.
Unabhängig davon aber hätte solche Preisverleihung ordentlich vorbereitet werden müssen, da doch die Reaktion aus Behindertenkreisen vorhersehbar war. Es hätte im Vorfeld eine breitangelegte Diskussion mit Behindertenvertretern und entsprechende Medienarbeit geben müssen (wie die gbs das vor vier Jahren gemacht hat). Das nicht zu tun, war ein sträflicher Fehler von Walter Neussel und Stefan Eck, ein Fehler, der sich nun voraussichtlich rächt dadurch, dass die Preisverleihung von Rollstuhlfahrern, Antifa-Aktivisten und Abtreibungsgegnern gestürmt und gesprengt werden wird.
Und selbst wenn sie unter Polizeischutz stattfinden kann, was soll das für eine Ehrung sein? Für Tierrechte bringt der ganze Zinnober gar nichts, das war und ist eine völlig unausgegorene Schnapsidee von Walter Neussel und Stefan Eck, die sich damit aufblasen wollten und letztlich der Tierrechtssache massiv Schaden zufügen. (Allein schon die Idee, einen Preis nach Peter Singer zu benennen und diesen Preis dann Peter Singer selbst zu verleihen, ist an Absurdität kaum zu überbieten.)
Walter Neussel, Stefan Eck, Melanie Joy und Michael Schmidt-Salomon: Blasen Sie die Sache ab, bevor noch mehr Schaden angerichtet wird. Organisieren Sie stattdessen eine Diskussionsplattform mit Peter Singer und allen, die jetzt in den Protest involviert sind, aber verschonen Sie uns und Peter Singer mit dem vorhersehbaren Desaster in der Urania.
Christian Bayerlein am Permanenter Link
In den letzten Tagen habe ich mir viele Gedanken über die Thesen von #Singer gemacht. Ich kann viele seiner Aussagen nicht gutheißen, ganz im Gegenteil, er richtet damit großen Schaden an.
Auf der anderen Seite sehe ich die Argumente der Behindertenbewegung gegenüber Teilen des "effektiven Altruismus" als nicht zielführend. Und teilweise muss ich zugeben, dass ich manche seiner Gedankenspiele schon faszinierend finde. So erinnert mich der Grundgedanke des allem zugrunde liegendem Utilitarismus an Spocks Äußerung "Das Wohl der vielen steht über dem Leid des Einzelnen". Jedoch gibt es wieder eine komplett andere Konotation, nämlich die des Mitgefühls und der Hingabe - nicht der möglichst effektiven und effizienten Nutzbringung. Slogans wie "Nur ich entscheide über den Wert meines Lebens" laufen dementsprechend bei Singer, wie ich ihn verstehe, ins Leere - vermutlich würde er diese Aussage sogar zustimmen. Er stellt die Frage für Lebewesen, die selbst den Wert ihres Lebens nicht empfinden oder ausdrücken können.
Wir müssen da anders argumentieren. Er macht nämlich auch meiner Meinung nach viele philosophische Fehler (obwohl ich das nur als Laie beurteilen kann).
Zum Beispiel stellt er gerade bei den Beispielen zu behinderten Menschen Annahmen in den Raum, die er nicht belegt - gerade, wenn es um Leid geht. Außerdem nimmt er eine Objektivierbarkeit von Glück und Leid an, die so nicht haltbar ist.
Außerdem vereinfacht er Kausalbeziehungen. Gerade in seiner Aussage, wenn sich jemand als Last für andere empfinde, könne es vernünftig sein, sich selbst zu töten. Vielmehr wäre doch hier die Frage zu stellen, woher dieses empfinden der Last kommt und welche Parameter hier veränderbar sind.
Weitere gute Argumente bringt auch Schmidt-Salomon, zum Beispiel zum "Blindenhund-Vergleich": " Denn das Geld, das ausgegeben wird, verschwindet ja nicht einfach, sondern landet bei anderen Markteilnehmern, etwa bei Blindenhund-Ausbildern, die einen Teil ihres Profits weiterspenden können, etwa zur Prävention von Erblindungen in der Dritten Welt. Ein zweiter, noch gewichtigere Grund, warum ich den Blindenhund-Vergleich kritisiere, besteht darin, dass er eine Botschaft vermittelt, die humanistischen Überzeugungen diametral widerspricht: Es kann und darf doch nicht der Sinn des effektiven Altruismus sein, die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen unserer Gesellschaft aufzukündigen mit der Begründung, dass man dadurch mehr Hilfsbedürftige in anderen Teilen der Welt retten könne! Das dahinter stehende Alternativ-Szenario ist falsch, weil es natürlich sehr viel mehr Optionen gibt als die beiden angebotenen, und die Argumentation ist zudem auch noch brandgefährlich, weil sie zu einem Solidaritätsbruch mit jenen Gesellschaftsmitgliedern führen kann, die unsere Unterstützung am dringendsten benötigen."
Was mich persönlich am "effektiven Altruismus" ebenfalls stört, ist das Paradigma der Effektivität. Zum einen ist es kalt und erscheint herzlos. Außerdem bereitet der damit verbundene "Leistungsdruck" eine Rivalitätssituation, in der Schwächere nur verlieren können. Es verleidet nämlich genau zu solchen Gedanken - dein Handeln ist nur dann effektiv, wenn du nicht da bist. Das aber ist eine gedankliche Sackgasse.
Was man Singer außerdem vorhalten kann, wenn nicht sogar muss, ist, dass er seine gesellschaftliche Verantwortung insofern nicht ernst nimmt, als das (wenn man ihm sogar Gutes unterstellt), seine Thesen zu leicht falsch interpretierbar sind. Meines Erachtens müsste er sich von solchen Positionen gerade wegen seiner kontroversen Äußerungen glasklar distanzieren - und das tut er nicht.
Immerhin scheint er selbst auch ins Nachdenken gekommen zu sein, denn zumindest macht er jetzt überhaupt keine Aussagen mehr zu behinderten Kindern. Vielleicht ein Fortschritt.