Gespräch mit Michael Schmidt-Salomon über den Protestaufruf "Stoppt Peter Singer!"

"Tragische Missverständnisse"

Was meinst du mit "tragischen Missverständnissen"?

In Deutschland wird immer wieder behauptet, Peter Singers Position sei "behindertenfeindlich", obwohl er selbst für eine "behindertenfreundlichere Politik" eintritt. In dem heftig umstrittenen Buch "Muss dieses Kind am Leben bleiben?", das Peter Singer zusammen mit Helga Kuhse schrieb, heißt es dazu: "Wir meinen, dass die reichen Nationen sehr viel mehr tun sollten, um behinderten Menschen ein erfülltes, lebenswertes Leben zu ermöglichen und sie in die Lage zu versetzen, das ihnen innewohnende Potential wirklich auszuschöpfen. Wir sollten alles tun, um die oft beklagenswert schlechte institutionelle Betreuung zu verbessern und die Dienstleistungen bereitzustellen, die behinderten Menschen ein Leben außerhalb von Institutionen und innerhalb der Gemeinschaft ermöglichen". Man muss dazu auch wissen: Weltweit wird Singer angegriffen, weil er "linke Positionen" vertritt, nur im deutschsprachigen Raum wird ihm merkwürdigerweise das komplette Gegenteil vorgeworfen. Ich habe auf diese sowie verschiedene andere Punkte bereits vor vier Jahren hingewiesen. Leider hat dies an den Vorurteilen gegenüber Peter Singer nur wenig geändert.
 

Schön und gut, aber was ist von dem Ausspruch zu halten, mit dem Singer in der "Jungen Welt" zitiert wird: "Ich möchte nicht, dass meine Versicherungsbeiträge erhöht werden, damit Kinder ohne Aussicht auf Lebensqualität teure Behandlungen erhalten"?

Ich habe die Quelle dieses Zitats leider nicht gefunden und weiß daher nicht, ob Peter Singer das wirklich so gesagt hat. Aber nehmen wir mal an, er hätte diese unglückliche Formulierung wirklich gewählt, so käme es bei der Beurteilung darauf an, was er mit "Kinder ohne Aussicht auf Lebensqualität" gemeint hat. Sollte damit das Problem angesprochen sein, dass extrem schwerstbehinderte Säuglinge mithilfe einer unreflektierten Form der Apparatemedizin am Leben gehalten und vermutlich auch gequält werden, bevor sie erwartungsgemäß kurze Zeit später sterben, kann man diese Aussage schon etwas besser nachvollziehen. Es ist leider so, dass es eine Form von High-Tech-Medizin gibt, die nicht den Interessen der Patienten dient, sondern den ökonomischen Interessen der Klinikbetreiber. Kritisch könnte man hier einwenden, dass durch derartig sinnlose Maßnahmen die Mittel knapper werden für sinnvolle Maßnahmen im Gesundheitsbereich, die die Lebensqualität der Patienten wirklich verbessern. Allerdings sind die Fälle von Kindern, die so stark behindert sind, dass sie überhaupt keine Aussicht auf Lebensqualität haben, so selten, dass entsprechende Maßnahmen kaum zu einer spürbaren Erhöhung der Versicherungsbeiträge führen dürften.
 

An dem Zitat stört vor allem, dass sich Peter Singer über eine mögliche Erhöhung seiner Versicherungsbeiträge aufregt. Das klingt hartherzig und egoistisch, was aber seiner eigenen Position überhaupt nicht entspricht, oder? Tatsächlich ist Singer ja bekannt dafür, dass er einen nicht unerheblichen Teil seines Einkommens für wohltätige Zwecke spendet und in diesem Zusammenhang die Bewegung für "effektiven Altruismus" ins Leben gerufen hat, die darauf abzielt, möglichst hohe Spendengelder zu generieren und sie so einzusetzen, dass möglichst vielen Individuen geholfen werden kann. In ihrem Artikel kritisiert die "Junge Welt" indirekt auch diese Position Singers. Mit Recht?

Ja und nein. Zunächst ist es natürlich begrüßenswert, wenn sich Menschen für andere engagieren und ihre Spendengelder so einsetzen, dass sie die Lebensqualität möglichst vieler Menschen bzw. möglichst vieler nichtmenschlicher Tiere effektiv verbessern. Dies ist der Grund, warum die Giordano-Bruno-Stiftung die Idee des effektiven Altruismus unterstützt. Allerdings sehe ich bei diesem Denkansatz in der Tat einige Schwierigkeiten, die nicht wirklich gelöst sind. Auf eines dieser Probleme hat die "Junge Welt" in ihrem Artikel mit Recht aufmerksam gemacht. Angeblich hat Peter Singer in einer australischen Talkshow ja gefordert, "finanzielle Mittel für die Ausbildung von Blindenhunden zu kürzen und für die Prävention von Blindheit in den Ländern des Trikonts einzusetzen."
 

Wie man hört, ist dieses Beispiel mit dem Blindenhund bei "effektiven Altruisten" sehr beliebt…

Ja, sie meinen, damit aufzeigen zu können, dass man mit gleichem Einsatz von Mitteln sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielen kann: In dem einen Fall erhält ein einzelner blinder Mensch einen Blindenhund, im anderen Fall kann man mit gleichem Investment verhindern, dass Tausende von Menschen überhaupt erblinden. Das mag im ersten Moment überzeugend wirken, die "Junge Welt" hat in diesem Zusammenhang aber zu Recht gefragt, warum man denn nicht beides tun könne, also sowohl Blindenhunde ausbilden als auch Tausende von Menschen in der Dritten Welt vor Blindheit bewahren. Bei genauerer Betrachtung wirkt das Blindenhund-Beispiel nur deshalb plausibel, weil man intuitiv unterstellt, die Hilfsgelder kämen aus einem gemeinsamen Topf und wären nach ihrem Einsatz aus der Welt verschwunden.
 

Und das ist falsch?

Natürlich! Denn das Geld, das ausgegeben wird, verschwindet ja nicht einfach, sondern landet bei anderen Markteilnehmern, etwa bei Blindenhund-Ausbildern, die einen Teil ihres Profits weiterspenden können, etwa zur Prävention von Erblindungen in der Dritten Welt. Ein zweiter, noch gewichtigere Grund, warum ich den Blindenhund-Vergleich kritisiere, besteht darin, dass er eine Botschaft vermittelt, die humanistischen Überzeugungen diametral widerspricht: Es kann und darf doch nicht der Sinn des effektiven Altruismus sein, die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen unserer Gesellschaft aufzukündigen mit der Begründung, dass man dadurch mehr Hilfsbedürftige in anderen Teilen der Welt retten könne! Das dahinter stehende Alternativ-Szenario ist falsch, weil es natürlich sehr viel mehr Optionen gibt als die beiden angebotenen, und die Argumentation ist zudem auch noch brandgefährlich, weil sie zu einem Solidaritätsbruch mit jenen Gesellschaftsmitgliedern führen kann, die unsere Unterstützung am dringendsten benötigen.
 

Ist es diesem befürchteten "Solidaritätsbruch" geschuldet, dass Behindertenverbände nun so vehement gegen die Preisverleihung an Peter Singer protestieren?

Das spielt sicherlich eine Rolle. Ohne es zu wollen, hat Peter Singer gerade in Behindertenkreisen große Ängste ausgelöst. Ich kann gut nachvollziehen, dass Menschen, die unter fehlender Zuwendung und mangelhafter gesellschaftlicher Unterstützung leiden, ihre Enttäuschung und Wut zum Ausdruck bringen, indem sie mit aller Vehemenz gegen einen Philosophen protestieren, der diese unhaltbaren Zustände angeblich legitimiert. In Wahrheit aber ist Peter Singer der falsche Adressat für solche Vorwürfe, denn seine Philosophie zeichnet sich in besonderer Weise dadurch aus, dass sie jede Form von Diskriminierung überwindet. Schließlich besteht die zentrale Maxime der Singerschen Ethik darin, "gleiche Interessen gleich zu behandeln", wobei es völlig unerheblich ist, welcher Gruppe das jeweilige Individuum angehört.