Gespräch mit Michael Schmidt-Salomon über den Protestaufruf "Stoppt Peter Singer!"

"Tragische Missverständnisse"

Dennoch sind die Vorwürfe gegenüber Singer nicht völlig aus der Luft gegriffen, oder? Manche seiner Aussagen zu Behinderten klingen extrem diskriminierend…

Ja, sie klingen so, aber sie sind nicht so gemeint. Ich gebe zu, dass man Singers Texte in einer reaktionären Weise auslegen könnte, wenn man es unbedingt darauf anlegt und die Argumente aus dem Zusammenhang reißt. Dass man Peter Singer so leicht missverstehen kann, hat zum Teil etwas mit der Struktur philosophischer Texte zu tun. Es ist ja die Aufgabe von Philosophen, alles in Frage zu stellen, was gemeinhin angenommen wird – dazu zählt auch das Recht auf Leben, das wir jedem Individuum natürlich mit guten Gründen in unserer Verfassung garantieren. Man sollte es einem Philosophen nicht vorwerfen, dass er die traditionellen Vorstellungen zum Lebensrecht kritisch hinterfragt, denn das gehört ja zu seinem Job. Vorwerfen kann man ihm allenfalls die Antworten, die er am Ende auf diese Frage gibt.
 

Und die Antworten, die Peter Singer gefunden hat, sind deines Erachtens nicht diskriminierend?

Nein, das kann man ihm wirklich nicht vorwerfen! Allerdings hat sich Peter Singer, wie ich meine, keinen Gefallen damit getan, dass er die Frage des Lebensrechts so eng mit der Frage der Sterbehilfe verknüpfte. Bei Licht betrachtet ist eine solche Verknüpfung auch gar nicht nötig. Um zum Beispiel bei einem extrem missgebildeten Säugling, der mit den Mitteln der Intensivmedizin einige wenige Wochen unter Qualen weiterexistieren würde, Sterbehilfemaßnahmen zu begründen, muss man ihm keineswegs das Lebensrecht absprechen. Man muss nur anerkennen, dass aus dem "Recht auf Leben", das jedem Menschen von Geburt an zusteht, keine "Pflicht zum Leben" erwächst. Hätte sich Peter Singer für die Position "Lebensrecht für alle – Lebenspflicht für niemanden" eingesetzt, wären viele Missverständnisse gar nicht erst entstanden. In diesem Fall hätten nur "christliche Lebensschützer" gegen ihn protestiert, aber kaum Vertreter der Behindertenbewegung.
 

Screenshot
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Die aktuellen Reaktionen unter den Protestlern sind zum Teil sehr heftig. In einem Kommentar zu dem Aufruf "Stoppt Peter Singer!" schreibt ein Leser des Behinderten-Portals "Rollingplanet" im Hinblick auf Singer: "Der Typ gehört an die Wand und weg knallen. Fertig".

Ja, es gibt leider solche Drohungen. Die Stimmung ist sehr vergiftet und es ist zu befürchten, dass die Preisverleihung in Berlin massiv gestört wird. Leider fällt mir nicht viel ein, was man dagegen unternehmen könnte. Ich hoffe, wenn auch ohne allzu große Erwartungen, dass zumindest einige der Protestler dieses Interview lesen werden und ihre Haltung noch einmal überdenken. Mehr kann ich im Moment in dieser Angelegenheit auch nicht tun, zumal ich in den kommenden Tagen in Athen sein werde, um dort unseren Film "In Humanity We Trust" vorzustellen sowie zwei meiner Bücher, die unlängst in Griechenland erschienen sind.
 

Wäre es unter diesen Umständen nicht sinnvoll, die Preisverleihung abzusagen?

Diese Entscheidung liegt weder bei mir noch bei der Giordano-Bruno-Stiftung, sondern beim "Förderverein des Peter-Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung", der die Verantwortung für den Festakt trägt. Ich hoffe, dass der Verein für die Sicherheit von Peter Singer sorgen kann. Das wird bestimmt nicht einfach sein, da die Protestgemeinde sehr heterogen ausfallen dürfte. Ich rechne hier mit einer eigentümlichen Mischung aus Behindertenvertretern, besorgten Sozialpädagogen, "christlichen Lebensschützern" und linken Autonomen. Von diesen Protestgruppen haben eigentlich nur die "christlichen Lebensschützer" gute Gründe, um gegen Peter Singer zu protestieren, da er ihren Positionen tatsächlich diametral widerspricht. Leider sind diese religiösen Fundamentalisten mitunter auch gefährlich, wie der Säureangriff auf die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), Elke Baezner, im letzten Jahr zeigte. Man sollte die Bedrohungslage also durchaus ernst nehmen. Aber wie gesagt: Die Entscheidung, wie man nun mit dieser heiklen Situation umgehen sollte, liegt allein bei den Veranstaltern des Festakts, weder bei mir noch bei der Giordano-Bruno-Stiftung.
 

Herzlichen Dank für das Gespräch!