Silvesternacht-Attacken und Istanbuler Terroranschlag

Zwei Seiten einer Medaille!

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Memet Kilic
Memet Kilic

BERLIN. (hpd) Vor der Gefahr, dass sich die Radikalen (Islamisten einerseits, Rassisten andererseits) gegenseitig hochschaukeln und die Demokratie gefährden, warnt Memet Kilic, Rechtsanwalt, Vorsitzender des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates und früherer grüner Bundestagsabgeordneter, in einer Exklusivstellungnahme für den hpd.

Die Attacken in der Silvesternacht haben vielen Menschen erschüttert. Manche aber haben versucht, mit dem Hinweis, dass so etwas auch beim Oktoberfest stattfände, die Angriffe zu relativieren. Doch die befinden sich auf dem Holzweg. Sie helfen weder den Flüchtlingen noch den Opfern der sexuellen Attacken. Wenn diese Leute etwas richtiges tun wollen, könnten sie zuerst die Raub- und massenhaften sexuellen Attacken am Silvesterabend auf Schärfste verurteilen.

Nicht nur der Rechtsstaat ist aufgefordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, sondern die Gesellschaft als Ganze muss diese Taten ohne jegliche Relativierung ächten. Dies war nicht nur eine Attacke auf die Opfer dieser abscheulichen Taten, sondern auf die Werte der Gesellschaft und das Sicherheitsempfinden aller Bürgerinnen und Bürger.

Die Grundwerte der Gesellschaft und Verfassung des Staates müssen von allen Einwohnerinnen und Einwohnern (selbst von Touristen) respektiert und eingehalten werden. Dies gilt in besonderen Maße für die Menschen, die gezielt hierher einwandern oder hier Schutz suchen.

Wer die freiheitlich demokratische Grundordnung der europäischen Gesellschaften missachtet, wird mit der Härte ihrer Gesetze konfrontiert. Wer diese Grundordnung sogar dazu missbraucht, diese Werte zu bekämpfen, verwirkt seine Grundrechte (Art. 18 des Grundgesetzes).

Wir Immigranten und Menschen mit Migrationshintergrund schätzen die freiheitlich demokratische Grundordnung unseres Staates mit allen Vorzügen (Achtung der Menschenwürde, freie Entfaltung des Individuen, Gleichberechtigung – insbesondere von Mann und Frau, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Meinungs- Kunst und Wissenschaftsfreiheit etc.). Die angestammte Kultur unserer neuen Heimatländer zu respektieren ist für uns selbstverständlich. Die Verteidigung der Grundwerte unserer Gesellschaft, die ihren Niederschlag im Grundgesetz und in der universell gültigen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte finden, ist auch unsere Aufgabe.

Der Rechtsstaat muss, ohne in Hektik zu geraten, nicht nur die Ursachen, sondern auch die Erscheinungsformen der Kriminalität konsequent bekämpfen. Der Rechtsstaat und die Politik können dabei auf unsere Hilfe zählen.

Ebenfalls darf nicht zugelassen werden, dass diese abscheulichen Attacken als Anlass für Ausländerfeindlichkeit missbraucht werden.

Verunsicherung in der Gesellschaft nimmt zu

Hohes Flüchtlingsaufkommen, fehlende europäische Solidarität, die abscheulichen Silvesternachtattacken und der furchtbare Terroranschlag auf eine deutsche Reisegruppe in Istanbul kumulieren sich in den Köpfen der Menschen, verunsichern sie, machen sogar ratlos und wütend.

In dieser Atmosphäre können sich die Radikalen gegenseitig hochschaukeln und die Demokratie gefährden. Das tun sie auch gerne und täglich. Islamisten sind mit ihren unverkennbaren Markenzeichen “Opferrolle” unterwegs. Ihre ohnehin äußerst geprägte Kränkungsbereitschaft hat noch mehr zugenommen. Sie glauben, dass sie jetzt besser nachweisen können, dass die europäischen Gesellschaften sie nicht wollen, nur unterdrücken wollen, sogar “islamophob” sind.

Und die anderen Rassisten, die vor Flüchtlingen und Einwanderern gewarnt haben, fühlen sich in allem bestätigt und salonfähig. Wenn die “anständigen” Völker von Europa jeweils in ihren Ländern bleiben und die Grenzen dicht machen, dann haben wir “anständige” Verhältnisse überall. Allein und ausschließlich die Problembeschreibung ist für diese Gruppe wichtig, daher gibt es (abgesehen von undefinierbaren Slogans) keinerlei Lösungsvorschläge für die gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit.

Dass diese gesellschaftlichen harten Umwälzungen zu “Gentrifizierungen” in der Parteienlandschaft führen können, ist keine Theorie mehr, sondern Tatsache in ganz Europa.

Istanbuler Terroranschlag ist kein Zufall

Die durch wirtschaftlichen Gier (Energie- und Waffenhandel) bedingte außenpolitische Orientierungslosigkeit der EU und innenpolitischen Vernachlässigungen werden die Verunsicherungen in der Bevölkerung größer werden lassen.

Nach dem Istanbuler Terroranschlag sind die Fragen der Beziehungen der EU und Deutschland zu den türkischen Regierungen in den Vordergrund getreten.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass die türkische Regierung den IS jahrelang unterstützt hat. Als der Bürgerkrieg in Syrien noch voll im Gange war, hat die türkische Regierung die Grenzen nicht aus humanistischen Gründen geöffnet. Der vom Konfessionshass gesteuerte damalige Ministerpräsident und heutige Präsident der Türkei Erdogan wollte den nicht-sunnitischen Machthaber Assad stürzen und auf seiner Südgrenze einen sunnitischen Staat gründen und damit auch die aufkommende kurdische nationale Identität bekämpfen. Auch wollte er die Kurden mittels der Konfessionen spalten. Dabei ging Erdogan von libyschen Verhältnissen aus und dachte, dass der Krieg in Syrien auch innerhalb von drei Wochen vorbei wäre.

Als immer mehr Flüchtlinge in die Türkei kamen, hat die türkische Regierung tollwütig alle Oppositionskräfte und insbesondere die Radikalen in Syrien unterstützt und dass die Türkei eine sichere Dschihadisten-Autobahn geworden ist, ist weltbekannt.

Die Flüchtlingslager wurden dem UNHCR wohlwissend nicht geöffnet, weil sich dort nicht nur die armen Flüchtlinge aufgehalten haben. Die deutschen Feldlazarette wurden an die Türkei nicht ausgeliefert, weil die Türkei nicht bereit war, diese von den Deutschen betreiben zu lassen: weil das Ausland nicht wissen sollte, wer dort behandelt wird. In den türkischen Krankenhäusern wurden IS-Terroristen behandelt, was oft genug an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Nur die Journalisten, die die Kriegsbeförderungspläne und Waffenlieferungen der türkischen Regierung an den IS veröffentlicht haben, sitzen im Gefängnis.
Der IS unterhält heute noch Rekrutierungsbüros in der Türkei. Ein Geldwäschegesetz (Gesetz-Nr. 5811), das als “Vermögensfriedensgesetz” (“Varlikbarisi”) getarnt wird, hilft sicherlich auch dabei, dass der IS Vermögensgeschäfte leichter in der Türkei erledigen kann, weil erstens der türkische Staat nicht nach der Quelle dieses Vermögens fragt, das aus dem Ausland stammt, und es zweitens mit nur zwei Prozent besteuert.

Der Eiertanz und Zickzackkurs der türkischen Islamisten gefällt anscheinend dem einen Teil des IS nicht. Die türkische Regierung hat während ihrer Unterstützung für den IS auch ein Energieabkommen mit Russland abgeschlossen, das als Unterstützter von Assad gilt.

Diktatoren als Partner?

Sobald die türkische Regierung aber eine Vereinbarung mit den US und der EU (unter anderem und scheinbar nur über Flüchtlinge) getroffen hat, hat sie die Seiten wieder gewechselt und schoss sogar ein russisches Flugzeug ab. Dazu ist sie noch in eine scheinbare Anti-IS-Koalition eingetreten.

Geschäftstüchtige und schlaue Teile des IS wissen, dass weder die türkische Regierung noch Saudi Arabien und Katar ernsthaft in der Anti-IS-Koalition sind. Jedoch den Splittergruppen des IS, die heute schon ein Kalifat in Istanbul errichten wollen, sind der Eiertanz der türkischen Regierung, aber auch die Luftwaffen- und Marineunterstützung der BRD, ein Dorn im Auge.

Daher werden die Islamisten jetzt einerseits zunehmend die Türkei aber auch Deutschland – so wie ich befürchte - auch in Deutschland angreifen. Der IS lebt nicht nur im Irak und Syrien. Es gibt nicht nur Rückkehrer sondern auch Sympathisanten-Gruppen und einzelne radikalisierte Personen in Deutschland.

Da viele radikal-islamistische Ideen mit Hilfe von Saudi Arabien und Katar in die Welt getragen worden sind, die Türkei sich in der Vergangenheit aber zumindest scheinbar um einen gemäßigt liberalen Islam bemüht hatte, waren die Länder wie Frankreich mit mehrheitlich arabischen Einwanderern vom Islamismus in besonderen Maße betroffen. Jetzt, da die türkische Regierung selbst zunehmend die Islamisierung betriebt und eine Annäherung an Saudi Arabien und Katar auch im Islamverständnis sucht und die sozialen Medien viel stärker Falschpropaganda transportieren, werden in Kürze die problematischen Folgen auch in Deutschland sichtbarer werden.

Kriegserklärung an Europa

Momentan werden säkulare Immigranten, die sich deutlich politisch in der Öffentlichkeit positionieren, von Islamisten scharf beschimpft und bedroht. Die deutsche Öffentlichkeit nimmt jedoch nur von rechtsradikalen Beschimpfungen Notiz. Wenn die Islamisten die osmanische Kriegsflagge als Facebook-Banner verwenden, denken viele Deutsche, dass dies eine nette Folklore wäre. Dem ist aber nicht so. Das ist eine Kriegerklärung an Europa und die europäische Werte.

Aber wenn die europäischen Werte für die Europäer nicht so wichtig sind, warum sollte sich der Rest der Welt dann von diesen Werten inspirieren lassen? Die “freundliche Einbestellung” des polnischen Botschafters in Berlin wurde von der Welt als lächerlich empfunden, weil die EU, allen voran die BRD, Herrn Erdogan als Beitrittskandidat hofiert und Wahlkampfhilfe gewährt.

Eine Zeit lang wurde Muammar al-Gaddafi von Herrn Berlusconi mit Einwilligung der EU “gefüttert”, damit dieser keinen afrikanischen Flüchtling in die EU lässt. Sind die Flüchtlinge weniger geworden?

Bevor die Bundeskanzlerin mit der Türkei eine Vereinbarung getroffen hatte, kamen aus der Türkei wöchentlich 10.000 Flüchtlinge über die europäischen Grenzen. Jetzt kommen trotz der Wintermonate täglich 4.000 Flüchtlinge aus der Türkei an. Bald werden sich nicht nur syrische, sondern auch kurdische Flüchtlinge nach Europa aufmachen, weil die türkische Regierung unter dem Schweigen der EU in kurdischen Städten mit Militärpanzern Häuser niederreißt und zahlreiche Zivilisten getötet hat.

Das Ergebnis?: Mehr Flüchtlinge, Gesicht verloren, Glaubwürdigkeit verloren, europäische Werte- und Zusammenhalt verloren.

Was tun?

Seitdem die türkische Regierung das Geheimdienstgesetz novelliert hat (2014), darf der türkische Geheimdienst (MIT) auch im Ausland nach türkischem Recht legal “operativ” tätig sein. Die türkische Regierung beschäftigt mehr als 1.000 “Mitarbeiter”, die auf den sozialen Medienplattformen (Facebook, Twitter) Propaganda zu betreiben, Sammelangriffe auf Ungeliebte starten, Drohungen und Einschüchterungen organisieren.

Islamisten haben in Europa mit Unterstützung der Türkei, von Saudi Arabien und Katar Netzwerke von Geschäftsleuten, Anwälten und Politikern ausgebildet. Die Radikalisierungen werden mit angeblichen NGO’s und abhängigen Moscheevereinen vorangetrieben.

Wer glaubt, dass wir mit dem viel propagierten “Islamunterricht in der Schule” den Islamismus kontrollieren könnten, irrt sich gewaltig. Diesen Irrweg ist die Türkei schon gegangen. Der Staat wollte mit einem eigenen Amt und mit dem Religionsunterricht die Religion steuern. Jetzt steuert die Religion den Staat.

Die Diskussion muss nicht auf die Frage “Islamunterricht ja oder nein” eingeengt werden, sondern auf weitere Formen – Religionskunde, Ethikunterricht, humanistische Lehre- erweitert werden.

Die Politik auf allen Ebenen (EU, Bund, Land, Kommune) muss deutlich machen, dass wir mit Gruppierungen nicht zusammenarbeiten, die eine Aufklärung im Islam ablehnen und sich nach jeder Fehlentwicklung und nach jedem terroristischen Anschlag mit dem magischen Satz “Das hat mit dem Islam nichts zu tun” begnügen.

Eine Religion wird so wahrgenommen, wie ihre Anhänger sich benehmen und diese leben, nicht wie diese glorifiziert wird.

Wenn die religiösen Verbände, die sich auf den Koran berufen, nicht bereit sind, heikle Stellen des Korans (z.B. Gewalt, Frauenrechte) unter einer historischen Reflexion zu erklären und aufklären, dürfen sie in der europäischen Gesellschaft nicht auf Unterstützung hoffen. Wenn sich diese Verbände gegenüber der Diskriminierung anderer Minderheiten in ihren Ursprungsländern gleichgültig verhalten, diese sogar mit anheizen, dürfen sie sich nicht auf europäische Unterstützung verlassen.

Damit keine Missverständnisse auftauchen: Wir machen die Verhältnisse in den vermeintlichen Herkunftsländer nicht zum Maßstab für unsere Positionierung gegenüber diesen Verbänden; Maßstab ist Ihre Haltung zu unserem Grundgesetz und zu den universell gültigen Menschenrechten.

Säkulare Strukturen und die staatliche Neutralität stärken, nicht schwächen.

Bei der Ausbildung der muslimischen Vorbeter in Europa muss der Aufklärungsgeschichte und der Philosophie eine zentrale Bedeutung zukommen. Islamisten scheuen die Philosophie wie “Weihwasser”, weil diese ein Tor zur Aufklärung ist.

Religiöse Minderheiten und Immigrantengruppen (Aleviten, Assyrer, Jesiden, Philippinen, Spanier, Griechen etc.), die sich gut integriert haben, dürfen nicht in den Hintergrund geraten. Im Gegenteil. Es muss hervorgehoben und sichtbar werden, dass eine bessere Integration belohnt wird.

Die Politik muss aufhören, bei der Integrationsarbeit den religiösen und ethnischen Verbänden eine zentrale Rolle zu geben und als Hauptgesprächspartner zu verstehen. Die Stellung von überethnischen, religionsneutralen Organisationen (Gewerkschaften, Künstler- und Journalistenverbände, Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat etc.) muss in diesem Prozess stärker berücksichtigt werden, als bisher der Fall.

Flüchtlinge müssen gut behandelt und frühzeitig integriert werden, ohne die Sicherheitsaspekte zu vernachlässigen. Dass ist im Interesse der Gesamtgesellschaft, wie im Interesse der schutzsuchenden Flüchtlinge.

Europa darf vor der Energie- und Waffenlobby nicht einknicken und den Islamismus-Exporteuren wie Saudi Arabien, Katar und der türkischen Regierung klare Kante zeigen, selbst wenn dies nicht in die angebliche “Strategie” der USA passen mag.

Memet Kilic, MdB a.D.