Überschattet von den Finanz- und Missbrauchskandalen hiesiger Großkirchen versuchen Aussteiger der Zeugen Jehovas die Wahrnehmung ihrer ganz eigenen Problematik verstärkt ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.
In diesem Zusammenhang veranstaltete die in Zürich ansässige Fachstelle für Sektenfragen am 31. Mai 2019 eine Gesprächsrunde und Buchlesung mit den bekannten Zeugen Jehovas-Aussteigern Oliver Wolschke und Konja Simon Rohde: "Ausstieg ins Leben – zwei ehemalige Zeugen Jehovas erzählen".
Beide Autoren verbrachten den größten Teil ihres Lebens, nämlich 25 bzw. 30 Jahre, in der sektenhaften Gruppe, bevor ihnen der Ausstieg gelang. Sie trugen ihre Erlebnisse und Erfahrungen einem Publikum vor, das hauptsächlich aus Jehovas Zeugen-AussteigerInnen bestand.
Eindringlich und authentisch schilderten sie ihre Kindheit unter ständiger Angst, Satans perfiden Versuchungen zu erliegen. Fernsehen, Freundschaften zu Klassenkameraden außerhalb der Organisation, Geburtstagsfeiern und vieles mehr waren tabu. Hingegen galt es, brav sitzend drei Mal wöchentlich den gottesdienstgleichen Versammlungen still zu folgen, um nicht biblischer Züchtigung durch die Eltern ausgesetzt zu werden. Verschärfen sollten sich die Ängste und inneren Widersprüche mit dem Heranreifen, wenn natürliche Neigungen und Triebe den religiösen Vorgaben diametral zuwiderlaufen. Als Belohnung, nicht den weltlichen Versuchungen zu erliegen: die Aussicht, nach der "Großen Drangsal" und Harmagedon ein ewiges Leben im Paradies führen zu können, während alle anderen, nicht gottgefälligen, somit alle Nicht-Zeugen Jehovas, der Vernichtung anheimfallen.
Wolschkes und Rohdes Prozess der inneren Distanzierung bis zum Ausschluss bzw. Austritt aus der Gemeinschaft war eine psychische Tortur, die anschließenden Folgen, speziell das Zurechtkommen in einer bis dahin im wahrsten Sinne des Wortes verteufelten Welt, massiv belastend.
Diese gesamte Problematik der psychischen Belastungen, mitunter suizidale Gedanken inkludierend, ist der breiten Öffentlichkeit nur bedingt bekannt. Während die Tatsache des Nicht-Feierns von Geburtstagen, Weihnachten & Co., und, weitaus schlimmer, die Nicht-Annahme von Bluttransfusionen durchaus zum Basiswissen gehört (und zu verständnislosem Kopfschütteln führt), sind die persönlichen Schicksale der jeweiligen Aussteiger bisher nur spärlich ans Licht der Öffentlichkeit gedrungen.
Wie schwerwiegend die persönlichen Einschnitte sind, machen seit einigen Jahren immer mehr ehemalige Zeugen Jehovas öffentlich, vor allem dank der neuen Medien. Oliver Wolschkes Blog wurde von vielen gelesen und wahrgenommen, bevor er ein Buch verfasste. Andere AussteigerInnen wie Sophie Jones, Walter Schöning oder Nathalie Barth wählen YouTube als mediales Mittel, um ihrer Geschichte ein Gesicht zu geben. So individuell diese Geschichten sind, geht es doch in allen um das Ringen um ein neues Selbstverständnis in einer Welt, die aufgrund der religiösen Vorgaben nur hinter eine Glasscheibe existierte. Sexualität, Selbstbestimmung und die Bewältigung der eigenen Zeugen-Vergangenheit, bei vielen überschattet von psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt – all das sind Themen, mit denen sich Ausgestiegene auseinandersetzen müssen.
Angesichts Tausender Betroffener im deutschsprachigen Raum hat es sich der seit gut einem Jahr existierende Verein JW Opfer Hilfe e. V. zur Aufgabe gemacht, Betroffenen psychologische und rechtliche Hilfe zu bieten. Vorstandsmitglied Udo Obermayer: "Wir wollen Anlaufstelle und Multiplikator zugleich sein, wollen zeigen, dass Aussteiger mit ihren psychischen Problemen nicht alleine sind und Ausstiegswilligen Unterstützung bieten."
Prominente AussteigerInnen wie Oliver Wolschke, Barbara Kohout und viele andere sind im Verein aktiv. Ihnen allen ist es ein Anliegen, mit Aktionen, Beiträgen über soziale Medien und regelmäßigen Veranstaltungen auf die Situation von Betroffenen der Wachtturm-Organisation hinzuweisen und Unterstützung anzubieten. So fand denn im Anschluss an die Veranstaltung mit Oliver Wolschke und Konja Simon Rohde am Samstag ein vom Verein JW Opfer Hilfe organisiertes Vernetzungstreffen für ehemalige Jehovas Zeugen statt. Die Betroffenen hatten sich viel zu erzählen, tauschten Erfahrungen und Kontaktdaten aus.
Für sie alle war die Organisation ein Gefängnis mit Wachtturm, kein Paradies.
24 Kommentare
Kommentare
G.B. am Permanenter Link
Es ist unglaublich was man mit Menschen alles machen kann denen man von klein auf jegliches Selbstbewusstsein nimmt. Derartige Sekten müssten von den Staatsorganen überwacht werden oder gleich verboten.
Thomas Dombai am Permanenter Link
Es ist richtig G.B. Es sind Straftaten die verübt werden. Ob aktive ZJ, Aussteiger oder Weltmenschen, alle sind von diesen Straftaten betroffen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Also auch gleich die "beiden Kirchen in unserem Lande oder dem Politischen-Islam" verbieten, gell?
Dachte ich mir doch.
G.B. am Permanenter Link
Alle Straftaten sind verboten, ausser jenen welche im Namen Gottes oder Allahs oder wie immer der Obermufti heißt, die sind anscheinend erlaubt und nicht strafwürdig oder wie ??
Mit verbieten meine ich abschaffen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Nee nee, G.B., Sie schrieben: "Derartige Sekten müssten von den Staatsorganen überwacht werden oder gleich verboten." Und sinngemäß die anderen "beiden Kirchen in unserem Lande" ebenso.
G.B. am Permanenter Link
Natürlich schreibe ich was meine Meinung ist und wenn Sie Exit gelesen haben dann sehen Sie, dass ich damit nicht alleine bin. Die Kirchen können ungestraft massenhaft Kinderseelen
Hans Trutnau am Permanenter Link
Welcher EXIT-Autor will denn explizit die "beiden Kirchen in unserem Lande" verbieten?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Diesen Artikel finde ich vielfach informativer als die kürzliche 'Versektung' von H. Stamm.
Günther Fox am Permanenter Link
In meiner kleinen Heimatstadt Simmern im Hunsrück haben binnen relativ kurzer Zeit zwei Zeugen Jehovas Selbstmord begangen: Martin H. mit 41 Jahren, Levi R. mit 23 Jahren.
Thomas Dombai am Permanenter Link
Juristisch wichtig wäre eine Umfrage von wie vielen Todesfällen ehemalige ZJ bekannt ist. Mein erster bekannter Fall war Ende der 80er Jahre.
Günter Fox am Permanenter Link
Alleine in einer einzigen Versammlung (Simmern/Hunsrück) gab es in den letzten Jahren 2 tragische Selbstmorde: Martin H, 41 Jahre, Levi R. 23 Jahre.
G.B. am Permanenter Link
Niemand kann sich selbst "Ermorden" man kann nur in einer Ausweglosen Situation sich für den Freitot entscheiden und Suizid begehen.
eigentlich Hilfe versprochen haben.
Barbara Kohout am Permanenter Link
Artikel wie dieser gehen auf die tieferen aber eben nicht so leicht wahrnehmbaren Dramen ein, die durch die Wachtturm-Doktrin in der Seele der Menschen angerichtet wird.
A.S. am Permanenter Link
Könnten sich "JW Opfer Hilfe e.V" und der "Zentralrat der Ex-Muslime" sich vielleicht mal austauschen? Könnte für beide Seiten interessant sein!
Marcus Meier am Permanenter Link
Zahl der Zeugen Jehovas, die nach der Schlacht von Harmagedon in den Himmel kommen: 144.000
Anzahl der heute lebenden Zeugen Jehovas (ohne bereits verstorbene und künftig lebende): 8,5 Millionen.
Und sie missionieren weiter...
Günter Fox am Permanenter Link
Die über 144.000 hinaus gehenden Mitglieder wurden schnell als die "anderen Schafe" definiert als die Sekte merkte, dass ihr Gimpelfang mehr als 144.000 Anhänger haben wird.
Thomas B. Reichert am Permanenter Link
@Marcus + Günter
Marcus Meier am Permanenter Link
@Thomas: Wissen die Zeugen Jehovas das auch? Sind sie offen für solche rationalen Interpretationen? Fundis neigen doch eher zu einer wortwörtlichenbl Interpretation als heilig empfundener Schriften.
Thomas Göring am Permanenter Link
Hallo Herr Reichert,
"Handbuch zur rationalen Bibelauslegung"? Interessant, was es so alles gibt (ganz im Ernst).
Gibt es in diesem Werk vielleicht auch eine rationale Deutung der Höllendrohungen des NT ("ewiges Feuer" im "Feuerofen" bzw. "Feuersee" samt vorausgehendem "Weltgericht" des "Menschensohn" usw.)? Denn: wenn schon "rational auslegen", dann doch bitte auch die Filetstücke dieser köstlichen Religion umfangreich "rational auslegen", sonst wäre das ja doch bloß halber Kram.
Sollten Sie dort fündig werden, dann lassen Sie es uns doch bitte wissen.
MfG Th. Göring
Arno Gebauer am Permanenter Link
Moin,
ganz klar: Die Sekte der Zeugen Jehovas gehört verboten!
Viele Grüße
Arno Gebauer
Dieter Bauer am Permanenter Link
Verbote sind wenig sinnvoll, wenn nicht der Dummheit mit Aufklärung begegnet wird. Nachplappern und dem Fantasieren kann nur durch Faulheits- und Trägheitsentzug wirksam begegnet werden.
wine am Permanenter Link
Man sollte erstmal wissen, was eine Sekte ist, bevor man solche unüberlegten Kommentare gibt ...
Tina Senff am Permanenter Link
Zu diesem empfindlichen Thema, möchte ich das Buch von Sarah Anders empfehlen.
wine am Permanenter Link
Wer sich unüberlegten Kommentaren hingibt, hat NIE wirklich mal über die Gelesene Dinge in der Bibel nachgedacht.
In Titus, Kapitel 3, den Versen 10 und 11 können Sie alle nachlesen, was eine Sekte wirklich ist - kaum einer von Ihnen will es wahr haben, dass die evangelische und katholische Kirche in Wirklichkeit eine Sekte sind, weil genau diese es sind, welche sich vom Weg abwenden ( sich von den Geboten des wahren Gottes entfernen ) und, eure unüberlegten Kommentare zum Thema, dass sich welche hier es Leben nehmen, könnt Ihr auch stecken lassen, da es auch Menschen gibt, welche keine Zeugen Jehovas sind und sich dennoch das Leben nehmen - nur so etwas wird von den evangelischen und katholischen Kirchen wohl gern untern Tisch gekehrt ...