Religionskonflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Religiöse Ideen, Überzeugungen und Normen sind also bedeutsam, um Gewalt zu rechtfertigen und die gläubigen Anhänger aufzuwiegeln. Aber es gibt keine einfache Gleichung, die die Instrumentalisierung religiöser Dogmen und Traditionen für die Anstachelung zu gewaltsamen Handlungen in Konflikten der Gegenwart erklären kann. Vielmehr sind Religionen nach Appleby (2000) "ambivalent": Sie beinhalten sowohl ethische Prinzipien, Normen und Narrative, die zu Frieden und Versöhnung aufrufen, als auch Inhalte und Deutungen, mit denen sich Gewalt und Krieg rechtfertigen lassen.

Gewalt als mögliche Handlungsoption erscheint vor allem dann gerechtfertigt, wenn die religiöse Gemeinschaft gegenüber ihrer sozialen und politischen Umwelt in die Defensive gerät und sich bedroht fühlt. Dann wird jeder Angriff auf religiöse Regeln und Traditionen und jede Herabsetzung religiöser Symbole als Angriff auf das eigene Leben der Mitglieder und die gesamte Gemeinschaft empfunden. Die Kopenhagener Schule spricht von der "Versicherheitlichung" von Religion. Angesichts der von den politischen und religiösen Führern beschworenen Gefahr für Sicherheit und Überleben wechselt die Gemeinschaft von der Routine in den Ausnahmezustand, in dem auch außergewöhnliche Handlungen, wie Hass und Gewalt, als legitim erscheinen (Laustsen/Waever 2003).

Das Verhältnis von Religion und Staat

Welche Handlungsmodelle aus der religiösen Tradition und Praxis gewählt werden, hängt von der historischen Entwicklung des Verhältnisses der religiösen Gemeinschaft zu den politisch Herrschenden ab. Nach Philpott (2007) bewegt sich das Verhältnis von Staat und Religion zwischen zwei Polen: der vollständigen Integration von Staat und Religion auf der einen Seite und der institutionellen Eigenständigkeit beider Sphären auf der anderen Seite. Je nachdem, wie eng Staat und Religion miteinander verquickt sind, steigt laut Philpott die Wahrscheinlichkeit entweder für Gewalt oder für Demokratisierung. Eine integrationistische politische Theologie, die nach politischer Macht strebt und andere Religionen unterdrückt, erleichtert die Rechtfertigung von Gewalt erheblich.

So zwang im Sudan der autoritäre islamistische Staat dem christlichen Süden seine religiöse Gesetzgebung (Scharia) auf, was zu einem brutalen Bürgerkrieg führte. Auch können religiös fanatische nicht-staatliche Gewaltakteure versuchen, einen Staat zu übernehmen bzw. sich einen eigenen Staat zu schaffen, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Die erste Variante ist gerade in zahlreichen Bürgerkriegsländern zu beobachten – z.B. in Jemen, Mali, Nigeria, Philippinen. Die zweite Variante wird besonders konsequent und brutal vom selbsternannten Islamischen Staat in Syrien und im Irak praktiziert.

Bearbeitungsmöglichkeiten politisch-religiöser Konflikte

Gibt es Wege, solche religiös aufgeladenen Konflikte zu bearbeiten? Entscheidend ist eine aktive Zivilgesellschaft. Ob die Hass und Gewalt schürende Propaganda verfängt, hat mit der Offenheit des Diskurses und der Pluralität der Gesellschaft zu tun. Wenn effektive Gegendiskurse existieren und von einflussreichen sozialen bzw. politischen Kräften vertreten werden, schwinden die Chancen religiös-fundamentalistischer Führer, sich durchzusetzen.

Hasenclever und De Juan (2007) identifizieren vier Ansatzpunkte, um der Instrumentalisierung von Religionen zur Rechtfertigung von Gewalt und Krieg vorzubeugen:

  • Religiöse Aufklärung, d.h. eine breite Interpretation der religiösen Tradition, die die innere Vielfalt und Komplexität achtet und so dem selektiven Herausgreifen exkludierender, gewaltlegitimierender Aussagen entgegenwirkt.
  • Strukturelle Toleranz, d.h. die Stärkung und Verfestigung moderater und differenzierter Interpretationsweisen in Institutionen und Diskursen, z.B. an religiösen Schulen, in der theologischen Ausbildung und in Gemeindestrukturen.
  • Autonomiepotenzial, d.h. die Gewährleistung der Unabhängigkeit religiöser Gemeinschaften vom Staat, die es ihnen erlaubt, der Vereinnahmung durch die politische Macht zu widerstehen.
  • Eine lebendige innerreligiöse Öffentlichkeit, die der Abschottung radikaler Gruppen und Interpretationsweisen den Austausch auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene entgegensetzt (Hasenclever/De Juan 2007).

Deutlich wird, dass eine solche Prophylaxe eine hinreichend lange Zeit vor dem Ausbruch eines Konflikts einsetzen muss, um eine Gewalteskalation zu verhindern. Dies gilt auch für Ansätze, die auf den interreligiösen Dialog setzen (Smock 2006). Sie bedürfen eines langen Atems, und sie erreichen in der Regel nur jene Gläubigen, die bereits ein Mindestmaß an Offenheit für den Austausch mit Andersdenkenden aufbringen, nicht aber radikalisierte Kämpfer.

Für die Bearbeitung von Konflikten, in denen Religion eine Rolle spielt, wird es paradoxerweise vielmehr darauf ankommen, die religiöse Dimension gerade nicht hervorzuheben. Wie die Erklärungen für die konfliktverschärfende Wirkung von Religion überwiegend zeigen, kommt diese erst dann zum Tragen, wenn bereits Konflikte um politische und ökonomische Macht schwelen. Angefacht werden diese Konflikte nicht zuletzt von politischen Eliten, die sich politische oder ökonomische Gewinne versprechen, und die religiöse Identitäten gezielt instrumentalisieren.

Wenn Gewaltkonflikte, wie in Syrien oder Irak, dann auch noch von der Außenwelt auf religiöse Differenzen reduziert werden, verschärft das die Gegensätze zwischen den religiösen Gruppen und blendet die ökonomischen und politischen Ursachen aus (Hurd 2015). In diese Falle der Vereinfachung sollten Staaten und internationale Organisationen, die sich in der Konfliktbearbeitung engagieren, auf keinen Fall tappen. Sie sollten vielmehr die Breite und Komplexität der Ursachen in den Blick nehmen, ohne die religiöse Dimension auszublenden.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/ Autor: Claudia Baumgart-Ochse für bpb.de